- -- Wichtig: Sehr lesenswerte Texte über Kränkung + Suizid" -- Teil 1 - Medizinmann, 26.10.2005, 01:16
- Re: -- Wichtig: Sehr lesenswerte Texte über Kränkung + Suizid" -- Teil 2 - Medizinmann, 26.10.2005, 01:17
- Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Prosciutto, 26.10.2005, 09:58
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Baldur der Ketzer, 26.10.2005, 10:43
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Prosciutto, 26.10.2005, 10:51
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Doomsday, 26.10.2005, 14:32
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Doomsday - nereus, 26.10.2005, 15:08
- @nereus: Memoiren? - wheely, 26.10.2005, 15:19
- Re: @nereus: Memoiren? - wheely - nereus, 26.10.2005, 15:56
- Re: @nereus: Memoiren? - wheely, das war wohl der falsche Link - nereus, 26.10.2005, 16:50
- Re: @nereus: Memoiren? - wheely, das war wohl der falsche Link - Cujo, 26.10.2005, 17:22
- danke für den Link! (o.Text) - wheely, 26.10.2005, 17:42
- Re: @nereus: Memoiren? - wheely, das war wohl der falsche Link - nereus, 26.10.2005, 16:50
- Re: @nereus: Memoiren? - wheely - nereus, 26.10.2005, 15:56
- @nereus: Memoiren? - wheely, 26.10.2005, 15:19
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Doomsday - nereus, 26.10.2005, 15:08
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Doomsday, 26.10.2005, 14:32
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Prosciutto, 26.10.2005, 10:51
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Medizinmann, 26.10.2005, 13:05
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - chiron, 26.10.2005, 14:35
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Aleph, 26.10.2005, 19:42
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - chiron, 27.10.2005, 00:44
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Aleph, 27.10.2005, 11:23
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - chiron, 27.10.2005, 11:45
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Aleph, 27.10.2005, 11:23
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - chiron, 27.10.2005, 00:44
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Aleph, 26.10.2005, 19:42
- Re: Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - chiron, 26.10.2005, 14:35
- Re: rücksichtslose Suizidmethoden - Baldur der Ketzer, 26.10.2005, 10:43
- Vielen Dank für den langen und lesenswerten Text! - Prosciutto, 26.10.2005, 09:58
- Re: -- Wichtig: Sehr lesenswerte Texte über Kränkung + Suizid" -- Teil 2 - Medizinmann, 26.10.2005, 01:17
-- Wichtig: Sehr lesenswerte Texte über Kränkung + Suizid" -- Teil 1
-->Hallo,
ich denke in einem gewissen Ausmaß sind die meisten von diesen Dingen betroffen.
Durch mein eigenes Leben zieht sich das übrigens auch, ich denke auch Prosciutto und einigen anderen hier wird das bekannt vorkommen.
Unten angehängt noch ein Text, wie dies mit Selbstmord übereinstimmt...man sieht sehr deutlich die Überlappungen bzw. die Verflechtungen.
Das sind meiner Meinung nach zwei Stufen wie sich das entwickelt die erste Stufe schildert der erste Text (Teil 1), der zweite Text über die Suizidalität erläutert die Folgen (Teil 2). Dabei erscheinen Ursache und Wirkung im zweiten Text für mich teilweise verdreht, denn schließlich entwickelt sich der Perfektionszwang erst aus dem existentiellen Abgelehnt werden. Man könnte aber auch sagen, die beiden Texte betrachten verschiedene Blickwinkel, das ist wohl akkurater.
Mit den Texten gibt es keine Copyright Probleme.
Liebe Grüße
Medizinmann
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Manuskript eines Vortrages von
Dr. Dr. Eugen Drewermann
am 18. 12. 1996 in der Gethsemane-Kirche, Berlin
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ganz herzlich danke ich für diese freundliche Einladung und Einleitung. Ihnen allen aber danke ich für Ihr Interesse an einem Thema, das im Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit kaum wichtiger sein könnte. Es gibt wohl keine schlimmere Kränkung der Krankheit, als den Leidenden noch schuldig zu sprechen für seine Qualen.
Vor einer Weile besuchte ich eine Frau, die an Krebs zu sterben drohte, Wir redeten ablenkend über dies und das. Unmittelbar bevor ich mich verabschiedete - stammelnd beinah - sagte sie: „Ich denke soviel darüber nach, was werden wird." „Wie meinen Sie?‘ fragte ich. Nun sprach sie: „Was nach dem Tode ist. Ich will nicht, dass es ein solches Leben nach dem Tode gibt. - Ich sehe vor mir ein kleines Kind. Und immer wieder wird darauf geschlagen.
Diese Frau hat ihr Leben lang seit Kindertagen die Gottesdienste der katholischen Kirche besucht. Sie hat ihr ganzes Leben lang ihre religiöse Pflicht erfüllt, sie hat Tausende von Malen die christliche Hoffnung verkündet bekommen: Da sei ein Leben jenseits der Schranke des Todes. Und nun wünscht diese Frau sich die Hoffnung fort, um dem Schrecken einer ewigen Strafe zu entgehen. Man muss nur das Bild sehen, das sie schildert, und man sieht sie selber vor sich: Als ein kleines Mädchen, misshandelt von ihrer eigenen überforderten Mutter
Aber gerade die Szenen, die die eigene Mutter selber kaum gewollt hat, die den negativsten Einflussanteil ihrer Jugend ausmachen, gerade die hat man in den Himmel gehoben und in einer unendlichen Strafangst verewigt. Da ist die Furcht, mit Pein und Qual Schuld und Sünde geahndet zu finden größer, als jede mögliche Lebenshoffnung. Man ahnt gewissermaßen, dass tatsächlich dieses Gefühl, bestraft - ja verflucht - zu sein, mit in das Erleben der Krankheit des Krebsgeschehens selber gehört.
Es war vor 120 Jahren bereits der Atheist Friedrich Nietzsche, der wütend und leidenschaftlich schrieb:
Das wird dem Christentum niemals vergeben werden, dass es selbst aus dem Sterbelager noch eine Folterkammer gemacht hat.
Milder - gewendet an die Ärzte, gerichtet an die menschliche Vernunft - hat Anfang der 50-er Jahre der Atheist, Existentialist, Nobelpreisträger der Literatur Albert Camus in seinem Roman „Die Pest" in der Gestalt des Dr. Rieu eine vergleichbare Frage artikuliert. In Oran ist die Seuche ausgebrochen, die Stadt liegt unter Quarantäne, Hunderte von Menschen drohen dahingerafft zu werden, als zum Trost wie zur Anklage einer der Patres der Stadt, Pater Parnelu, von der Kanzel herunter redet in den Bildern und der Sprachgewalt alttestamentlicher Propheten: Ihr seht den Engel Gottes mit dem Speer die Türen der Häuser kennzeichnen, an welche der Tod schlagen und sie öffnen wird. Es ist eure Schuld! Es sind eure Sünden, die Gott nicht länger mitansehen konnte!
Wenige Tage später stehen Pater Parnelu und Dr. Rieu an dem Bett eines vierjährigen Kindes, das unter den Fieberschauern der Pest unter einer Felddecke in grotesken Ränkungen sich windet, mitunter gar die Stellung eines Christus am Kreuz annehmend, Dieses Kind, soviel steht fest, hat nicht gesündigt. Dieses Kind, soviel ist klar, hat durch keinerlei Schuld sich den Tod und die Seuche verdient.
Es ist die Evidenz erlittenen Unrechts, die den kirchlich verfestigten Kanzelprediger Parnelu in eine Unsicherheit des Denkens und eine Sprachlosigkeit der Rede stürzt. Das ganze theologische Deutungsschema des Christentums, Unglück ist der Sünde Sold, bricht an dieser Stelle auseinander. Was ist es mit dem Glauben an Gott überhaupt noch, wenn das gesamte Interpretationsschema des menschlichen Schicksals erkennbarermaßen nicht länger stimmt?
Die Frage lässt sich zurückverfolgen in der Bibel bis zum Buche Hiob. Sie wurde in Deutschland vielleicht niemals klarer artikuliert als im Jahre 1539. Damals - in einer schweren Sturmflut, in einer einzigen Nacht - brach gesamt Nordfriesland auseinander und die Inseln dort nahmen die Gestalt an, die sie mehr oder minder heute noch haben, ein alter Festlandskern, Marschland, das von den Fluten verwüstet und ins Meer zurückgerissen wurde. Tausende von Menschen versanken, das Vieh auf den Weiden ertrank.
Damals versuchte einer der nordfriesländischen evangelischen Pastoren das Schicksal von 1539 zu deuten. Was eigentlich war geschehen? Die Verwüstungen des Dreißgjährigen Krieges hatten die Region verschont. Aber die Natur hatte mit ungeheurer Gewalt die Menschensiedlungen ausgenommen wie ein räuberisches Kind ein Vogelnest. Der Pastor glaubte an die alttestamentlichen Propheten: Gott straft die Sünde. Katastrophen und Unglück werden vom Herrgott geschickt, sind die Folge unseres eigenen Fehlverhaltens. Auch das noch redete er vor 350 Jahren.
Aber dann findet er, dass die Gewalt der Flut jedes Maß vermissen lässt. Die Nordfriesen mögen stolz gewesen sein, hochmütig, schacherwütig, geldgierig, leichtsinnig wie alle Menschen. Jede Anklage dieser Art mag zutreffen, Aber diese Strafe verdienen sie nicht. Gott - so spricht er - muss durch den Sündenqualm das eigene Augenlicht eine Weile lang umdüstert worden sein, so dass er strafte, ohne genau abzuzielen. Es ist im Abstand von dreieinhalb Jahrhunderten ein Äußerstes noch, das alte Denken der Moderne anzupassen. Und es zeigt sich die vollkommene Hilflosigkeit.
Die Lösung des Problems wäre ein Frühwarnsystem vernünftiger Meteorologie. Winddrehung, Windstärke, Windrichtung, Strömungsgeschwindigkeiten, Fluthöhen und vor allem ein Ende der unseligen Starksteigtechnik. Holländer werden herangehen, um die Deichabböschungen dem Flutauflauf günstiger anzupassen. Mit einem Wort:
Die Lösung liegt nicht länger bei Hesekiel, die Lösung liegt bei René Descartes, liegt in der Vernunft der Aufklärung, im Gebrauch eindeutiger Rationalität, verbesserter Kenntnis der Naturgesetze und deren instrumentellen Gebrauchs.
Was sie dort im Großen sehen, spielt sich mehr oder minder im Schicksal eines jeden von uns, sozusagen im Privaten ab. Mit Fragen der Krankheit befasst, wenden wir uns an die Mediziner, an einen Arzt, an einen naturwissenschaftlich gebildeten also, der das Krankheitsgeschehen versuchen wird, möglichst objektiv zu erkennen, zu diagnostizieren und mit technischen Geräten zu bekämpfen. Selbst das Modell unseres Körpers ähnelt dabei einem Apparat, dessen Einzelteile ineinander greifen, funktional gestört sein könnten, aber art jeder Stelle vielleicht - wenn es gut geht - einer möglichen Korrektur zugänglich sind. Wir haben uns an diese Art der Medizin gewöhnt, sie ist uns mehr oder minder selbstverständlich.
Dennoch leiden wir an der Kälte eben dieses naturwissenschaftlich objektiven Denkens. Die wenigsten fühlen sich wohl in einem Raum, in dem sie nichts weiter umgibt als technisches Gerät.
Die wenigsten vertragen auch nur die Diagnose einer tödlichen Krankheit wie Krebs, in aller Regel identisch damit, dass die jederzeit drohende Gefahr des Todes eine konkrete Gestalt annimmt. Sie rückt in einer bestimmten Konfiguration unmittelbar näher.
Vor Jahren, in einem Gespräch im Studio des Zweiten Deutschen Fernsehens, befragte man Hoimar von Ditfurth, selber an Krebs erkrankt, wie er mit seinem Leid umgehe, mit dem Wissen um den sicheren Tod. Er sprach damals sehr mutig, entsinne ich mich. Er sagte sehr provozierend zu dem Journalisten:
Zwischen Ihnen und mir gibt es keinen wesentlichen Unterschied, wir beide wissen, dass wir sterben werden.
Der Journalist, um seine Frage noch einmal zu rechtfertigen, erklärte: Aber ich habe keinen Krebs. Und noch einmal provozierend antwortete von Ditfurth: Es ist möglich, wenn Sie heute abend mit dem Auto verunglücken, dass Sie viel früher sterben werden als ich. Er wollte sagen: Der Tod ist jederzeit gegenwärtig. Eine Krankheit mag eine bestimmte Wahrscheinlichkeit für die Art seines Eintreffens begründen, aber selbst negativ bringt eine Krankheit keine Gewissheit.
Wie leben wir überhaupt mit der Tatsache der Endlichkeit des Daseins und mit ihren Vorboten Alter, Krankheit und Schmerz? Paradoxerweise sehnen wir uns auch nach Antworten auf diese Fragen, die nicht rein naturwissenschaftlich, also im Grunde kalt, objektivierend und äußerlich sind,
Das biblische Denken hat auf den Anfangsseiten im Alten Testament eine merkwürdige Geschichte überliefert, die für das Denken im Christentum im gesamten Abendland im Umgang mit Krankheit und Gesundheit wesentlich geworden ist. Sie ist um so wichtiger, heute nachmittag besprochen zu werden, als sie für jede Art von Missdeutung - um nicht zu sagen Aberglauben - herhalten musste.
Die Geschichte erzählt davon, dass am Anfang der Menschheit - ungewiss wann - die Menschen berufen gewesen seien, im Paradies leidfrei und todesenthoben in der Nähe Gottes zu leben. Dann aber - verführt durch eine Schlange - hätten sie von dem verbotenen Baum in der Mitte des Gartens gegessen und damit selbst durch die Sünde des Ungehorsams sich den Tod herbeigeschafft - als Strafe! Folgt man dieser Erzählung von Adam und Eva, liegt auf uns Menschen der Tod als Schicksal wie ein Verdammungsurteil für begangenen Frevel.
Dieses Denken ist so mächtig gewesen in der theologischen Tradition der Kirchen, dass Sie im Weltkatechismus der Römischen Kirche aus dem Jahre 1992 denselben Gedanken immer noch wörtlich erneuert finden. Auf eine quasi phantastische Weise wäre am Anfang der Menschheit ewiges Leben und ewige Gesundheit übernatürlicherweise dem Menschen bestimmt gewesen. Dass der Tod ein sicheres Datum unserer Biologie, unserer natürlichen Verfasstheit bildet, das - so wird da gesagt - habe eben zu tun damit, Gott verraten zu haben.
Ich kenne keine Überzeugung der christlichen Dogmatik, die dem Atheismus günstiger sein muss, als diese horrende Missinterpretation einer alten Mythe. Jeder menschliche Protest muss sich richten gegen die Kollektivschuldlast, die Menschen aufgebürdet wird, gerade in ihrem Leid. Statt den Menschen zu verteidigen und zu ermutigen, entmutigt man und belastet ihn zusätzlich mit einer solchen Erklärung. Wenn wir überhaupt verstehen wollen, welch eine Logik in diesen archaischen Bildern steckt, sollten wir vielleicht zwei Grunderfahrungen, eine sehr persönliche und eine tatsächlich menschheitliche namhaft machen.
Es gibt aus der Psychologie der Tiere bereits eine uralte Kopplung zwischen Strafe und Schuld und zwar nicht so, dass aus der Schuld die Strafe folgt, sondern paradoxerweise umgekehrt: Aus der Angst vor der möglichen Strafe entsteht das Gefühl, schuldig zu sein. Anders, als wir es moralisch gefügt antreffen möchten, reagieren bereits sozial lebende höher entwickelte Tiere mit einer gewissen Furcht, von dem sie umgebenden Verband für irgendeine Form der Normabweichung bestraft werden zu können.
Sie sehen zum Beispiel in der Nordsee eine Möwe, deren Federkleid mit Teer, mit Ã-l verklebt wurde. Die Möwe hat an diesem Zustand ihres Gefieders nicht die mindeste Schuld.
Im buchstäblich moralischen Sinn trägt Schuld dafür irgendein Tankerkapitän, der auf hoher See mal wieder die Kammern gereinigt und damit die Nordsee verschmutzt hat. Schuld trägt im Hintergrund seine Reederei, die aus Geldgründen genau diese Praxis sich gewünscht hat. Schuld trägt im Hintergrund die Erdölindustrie, die gerade diese Billigflaggen und Reedereien in Dienst nimmt. Die Schuld delegiert sich immer höher und wird immer größer.
Aber die arme vom Tod bedrohte Möwe kann für alles das gar nichts. Statt dessen, ungerecht wie der Weltenlauf zu sein pflegt, sehen wir den Tankerkapitän, seine Reederei und die Erdölindustrie in aller Regel folgenlos aus dem Dilemma kommen. Über die einzelne Möwe mit ihren verklebten Federn wird der gesamte Möwenverband mit spitzigen Schnäbeln herfallen. Diese Möwe ist in aller Regel schon dem Tod geweiht. Man spricht von der Ausstoßstrafe, von der Ausstoß-Viktimisation mit der Opferung durch Ausgrenzung im sozialen Verband durch die Gruppenmitglieder Mit einem Wort: Eine Möwe, die feststellen muss, dass sie -rein äußerlich - nicht so aussieht, wie sie aussehen müsste, muss gewärtig sein, vernichtet zu werden. Sie hat Todesangst vor den anderen.
Dieses Schema, von dem wir da reden, ist auch uns, Menschen zutiefst eingeprägt. Es genügt die geringste Abweichung, und es wäre möglich, von den anderen her Hass und Ausmerzung fürchten zu müssen. Stellen Sie sich einen kleinen Jungen auf dem Spielhof vor, einen achtjährigen Schüler auf dem Pausenhof. Nehmen wir an, der Junge wäre ein Stotterer Er hat bereits vor den eigenen Eltern so viel Angst, dass beim Reden nicht einmal eine freie Atmung ihm möglich ist.
Sie alle kennen die Menschen soweit, dass Sie wissen, was passieren wird. Die eigenen Kameraden sogar seine eigenen Freunde, werden über ihn herziehen als Stotterer Es genügt, dass er sprachlich sich auszudrücken Mühe hat, und er muss noch mehr Angst haben vor den spitzigen Schnäbeln seiner eigenen Kameraden in der Schulklasse oder schon im Kindergarten.
Denken Sie sich, dass da ein Mädchen wäre, zehn-jährig, das durch eine Unachtsamkeit einen Kessel mit heißem Wasser auf der Feuerstelle umgestoßen und sich dabei das Gesicht verbrüht hätte. Es ist ein kleiner Moment der Unachtsamkeit, weit entfernt von jeglicher Schuld. Aber es genügt, eine entstellte Gesichtshälfte aufzuweisen, eine auch nur ein wenig entstellte Gesichtshälfte, und es steht zu befürchten, dass dieses Mädchen sein Leben lang das selbstverständliche Recht eines jeden Menschen, von einem anderen Menschen geliebt zu werden, einbüßen wird.
Es muss, um sich beliebt zu machen, fast betteln um die Gunst seiner Mitmenschen. Es muss denken, dass es nur durch besondere Achtsamkeit, durch ein Höchstmaß an Bravheit und Entgegenkommen, nicht ausgemerzt wird, sondern vielleicht geduldet, vielleicht sogar gern gelitten, vielleicht eines Tages sogar gemocht wird. Aber dieser Weg von einem eingetretenen Unglück über ein schweres Minderwertigkeitsgefühl und das langsame Ersuchen, dennoch Liebe zu erfahren, geht durch eine ganze Biographie.
So stark fühlen wir Menschen dieses archaische Gesetz in uns, für geringfügige Abweichungen einander auszugrenzen. Manche Verhaltensforscher, manche Kulturanthropologen meinen sogar, dass dies die Ursache für die Entstehung der menschlichen Moral sei.
Sie basiere zunächst gar nicht auf persönlicher Freiheit, persönlicher Einsicht, einem persönlichen Gefüge von Norm und Normübertretung, sondern sie richte sich einfach nach bestimmten Signalen, die im Gruppenverband objektiv einzuhalten sind und die im Fall der Abweichung augenblicklich in der beschriebenen Weise geahndet werden.
Sie selber können individuell im zweiten Falle eine ähnliche Erfahrung aus Kindertagen anmelden. Nehmen wir an, Ihre Mutter, aus welchen Gründen es immer auch sei, hätte Sie - vierjährig, fünfjährig, irgendwann - bestraft. Sie hätten zunächst gar nicht gewusst, warum. Sie hätten nur gespürt, dass es der Mutter mit der Strafe sehr ernst war. Hätten Sie nicht gerade dann augenblicklich begonnen zu überlegen, was Sie denn im Himmel und auf Erden nur getan hätten, damit Sie diese Strafe sich eingehandelt haben? Sie wollen und müssen herausfinden, was denn eigentlich passiert ist und was Sie folglich für die Zukunft dazu beitragen können, eine ähnliche Reaktion ihrer Mutter zu verhindern.
Vor einiger Zeit erzählte mir eine Frau, wie sie als Mädchen sich erlebt hat. Sie spielt draußen im Garten, als plötzlich ihre Mutter kommt und schreit sie an, warum sie nicht aufgepasst hat auf die kochende Milch. Sie hatte überhaupt nicht die Aufgabe, auf die Milch aufzupassen. Die Mutter aber war in der Waschküche gewesen und hat das Malheur erlebt. Die Vorbereitung des Mittagessens - eine Katastrophe. Die Mutter ist ärgerlich auf sich selber. Sie nimmt jetzt die Tochter als Blitzableiter Hätte diese Tochter ihr nicht helfen können? Warum spielt sie dauernd draußen herum?
Im Erleben dieses Mädchens war der Jähzornsanfall der Mutter schlimmer als ein Erdbeben. Seitdem, so sagte diese Frau sinngemäß, war es, wie wenn ich immer mit den Ohren auf den Gleisen der Bahn hätte liegen müssen, um zu hören, wie in Kilometern Entfernung der Zug anrollt mit einer furchtbaren Vernichtungsgewalt. Es ist, wie wenn ich immer wieder in den Wind hätte lauschen und die Formation der Wolken beobachten müssen, um herauszufinden, wann wieder ein Gewitter mitten im Sonnenschein, womöglich mitten im Sommer, sich drohend aufbauen könnte. Einmal erlebt, geht die Suche jetzt ständig dahin, wie man mögliche Schuld, solche die man gar nicht begangen hat noch begehen möchte, verhindern kann. Vor der Strafe folgt das Schuldgefühl in dieser Reihenfolge.
Wenn Sie einmal voraussetzen, dass wir als Kinder zigmal bestraft wurden, ohne wirklich zu verstehen warum, erkennen Sie zum einen, wie viele Fehler in einer Kultur gemacht werden müssen, deren Erziehung fast unabtrennbar immer noch mit Strafe, mit einem Wechselbad von Lohn und Bestrafung verkoppelt zu sein scheint. Psychologen wie Erich Fromm, der Psychoanalytiker in der Schweiz, Hans Zulliger, schrieben schon vor über einem halben Jahrhundert: Solange Kinder noch geschlagen werden, solange wird es Kriege geben. Erich Fromm meinte, eine Gesellschaft die straft, ist nicht besser als ein Vater, der ständig den Prügel oben auf dem Schrank liegen hat. Er verbreitet nicht Menschlichkeit, sondern Gewalt. Er erzieht nicht zur Güte, sondern zur Angst. Er pflanzt nicht Selbstvertrauen ein, sondern Schuldgefühl und Minderwertigkeit.
Wenn Sie einmal denken, dass man mehr oder minder mit einem jedem von uns - in quantitativen Stärkegraden des Unterschieds freilich - in dieser Weise umgegangen ist, mögen Sie verstehen, wieso Krankheit, wieso Unglück empfunden werden kann automatisch als eine Strafe für eine Schuld, die wir jetzt finden müssen.
Irgendetwas muss doch in unserem Verhalten gewesen sein, dass wir gerade mit dieser Krankheitsform, mit diesem Leid - buchstäblich jetzt - geschlagen werden vom Schicksal, heimgesucht werden von Gott.
Es gibt Bischöfe wie den katholischen Bischof in Fulda, die vor etlichen Jahren nicht anstanden, gegenüber der Seuche Aids so ähnlich zu sprechen, wie Pater Parnelu in dem Roman „Die Pest" von Albert Camus. Sehen sie sich, erklärte er, Los Angeles an. Vor 30 Jahren die Bannmeile der Ausgelassenheit und des Lasters, heute eine Quelle der Angst Aids. Warum ging das antike Rom zugrunde? Durch Ausschweifung, Homosexualität und Sittenlosigkeit. Er merkte mit keinem Wort, wie schrecklich diese unglaublichen Identifikationen sind, Krankheit als Strafe für das Laster, das hat in gewissem Sinne immer noch biblisches Format.
Alles, was ich heute nachmittag für Sie tun kann, muss darin bestehen, den Bibeltext von Genesis 3 so auszulegen, dass er Sinn macht, statt weiter im dogmatischen Unsinn und Aberglauben Menschen zu quälen bis an den Rand des Sterbens.
Denn Texte dieser Art - uralte Menschheitsmythen - könnten Sinn machen, wenn wir denn sinnvoll Bilder zu interpretieren vermöchten. Es wäre sehr sinnvoll zu sagen, nicht dass wir Menschen sterben müssen, bedeutet einen Fluch. Aber die Art, in der wir in den Schatten des Todes treten, kann sehr wohl eine Belastung sein, an der wir selbst die Ursache tragen, an der wir positiv also auch die Chance gewinnen können, richtiger zu leben.
Jeder von uns weiß, dass in dem Aufbau der Zellen bereits eine innere Uhr von dem ersten Moment der Empfängnis an arbeitet, die das Maß der Zeit für jeden individuellen Organismus festlegt. Der Tod - rein genetisch gesehen - gehört in das Programm unseres Körpers. Wenn es so ist, macht eine Mythologie keinen Sinn, die uns verheißen würde, Todfreiheit sei eine irdische Möglichkeit des Lebens.
Wenn aber gesagt werden soll, es gibt Menschen, die aus lauter Angst vor dem Tod gar nie wirklich dazu kommen, richtig zu leben, dann kann freilich die Art, wie wir den Tod in unserem Leben spüren, wie ein langer Schatten, wie ein vorgreifender Fluch wirken. Immer wenn Sie Menschen zuhören, die an Todesangst buchstäblich leiden, hypochondrische Ängste vor allen möglichen Krankheiten entwickeln, bei denen es genügt, einen medizinischen Film im Fernsehen zu zeigen und sie brechen aus in Angstschweiß, müssen sich übergeben, können dem Film gar nicht länger folgen, aus Angst, all das könnte ihnen selber geschehen, dann wird Ihnen deutlich werden, dass diese Menschen nicht eigentlich Angst vor dem Tode haben. Viel mehr haben sie Angst, richtig zu leben.
Es ist gewissermaßen so, wie wenn Menschen ihr ganzes Leben so verhetzt, so irritiert, so verkrampft hätten überdauern müssen, dass sie am Ende überhaupt keinen Sinn, keinen Gewinn, nicht irgendeine Antwort gewonnen hätten, weswegen es sie überhaupt gegeben hat, dann würde der Tod bedeuten, wir würden eine Rechnung unterschreiben, die wir nicht bezahlen können, Wir müssten eine Bilanz ziehen und die Tabelle würde das reine Nichts als Ertrag unseres ganzen Daseins aufweisen.
Es gibt zum Kontrast gegen diese Todesangst im Neuen Testament einmal ein wunderbares Wort Jesu. Er meint: Wer sein Leben retten oder gewinnen will, der verliert es, Und nun sehr zugespitzt: Wer aber sein Leben verliert, der gewinnt es. Jesus möchte offensichtlich sagen: Ich kenne Menschen, die kämpfen jeden Tag darum, am Leben zu bleiben. Die Frage, was tust Du jeden Tag, müsste zur Antwort finden: Ich möchte überleben. Auf diese Weise kommt nie ein wirklicher Sinn in die Existenz.
Es gibt nie eine Freiheit, oft mal durchzuatmen, einfach einmal das Leben ruhig in sich hineinströmen zu lassen, ein wenig Freude, vielleicht sogar Genuss am Leben zu finden. Alles ist verkrampft im Kampf gegen die Gefahr, sterben zu können.
Im 6. Kapitel des Matthäus drückt es Jesus bildhaft aus. Er meint: Schaut Euch doch um, wie die Menschen sich sorgen um den morgigen Tag. Immer möchten sie die Zukunft retten - gewissermaßen. Immer fragen sie sich, wie sie Sicherungsmechanismen einbauen können, die ihnen die künftige Zeit so geplant vor die Füße legen, wie etwa den Winterplan der Deutschen Bahn AG. Alles ist da ausgelegt, fest schon, berechnet und kalkulierbar Aber diese Menschen wissen nie, wohin sie wirklich fahren möchten. Es gibt in ihrem Dasein überhaupt keine Wünsche mehr, die sie empfinden könnten, Und dann antwortet Jesus: Ein jeder Tag hat doch seiner Sorgen längst genug, lebe heute, mit einem Wort: Todesangst überwindet sich am besten durch einen ruhigeren Mut dem Leben gegenüber.
Und jetzt sollten wir einmal - ob Sie im einzelnen an Gott glauben im Sinn der Kirche oder nicht -mindestens dass, was hier im Umraum der Vokabel Gott gemeint ist, als Grundlage eines bestimmten Lebensgefühls deuten.
Das Bild im Paradies auf der zweiten, dritten Bibelseite beschreibt sich etwa so: Menschen könnten sich fühlen inmitten der Welt, wie wenn ein Garten sie einhüllte, Sie könnten ihr Dasein inmitten einer wunderbaren Erde gestalten mit einer solchen Dankbarkeit mit einer solchen Freude, dass sie ihr Zentrum in dieser Welt im Mittelpunkt selber hätten. Es wäre ihr Dasein mit einem Wort richtig zentriert.
Über sie wölbte sich im Bilde des Baumes eine schützende Macht, in der sie sich geborgen fühlen. In dieser Weise lässt sich behaupten, gibt es den Tod als ständige Bedrohung wirklich nicht. Es wäre ein Daseinszustand der inneren Geborgenheit, der Übereinstimmung mit sich selber, mit einem Wort: der Zufriedenheit.
Und jetzt könnte man sagen, dass auch Krankheit in mannigfaltigen Formen mit einem solchen Zustand nicht vereinbar ist. Was ich jetzt sage, läuft darauf hinaus, dass wir mythische Bilder, theologische Sprache verknüpfen müssten mit Erfahrungen der Psychoanalyse und der psychosomatischen Medizin. Und die Kupplung zwischen den beiden Bereichen läge in der Existenzphilosophie, so, wenn wir methodisch uns den Rahmen der Argumentation bilden, die ich im Folgenden vorschlage.
Um die Sache nicht so kompliziert abzuwickeln, sondern möglichst konkret Ihnen in Beispielen zu erläutern, muss ich dabei sagen, dass es eine Fülle von Krankheiten gibt, die wir negativ einfach ausklammern können. Sie treten an dieser Stelle nicht in unsere Betrachtung. Dazu zähle ich alle die Krankheiten, die wirklich rein somatisch sind, die keinerlei psychische Interpretation zulassen.
Sie brechen sich die Beine. Es mag sein, dass Ihre Psyche dazu beigetragen hat, indem Sie viel zu leichtsinnig am kommenden Freitag, wo der Wetterbericht Schneefall verkündet, auf das Trottoir gegangen sind, Aber es ist völlig unmöglich, den Beinbruch psychisch zu interpretieren, oder sogar als Ihre Schuld zu verstehen. Es gibt eine Fülle von Leid und Schmerz, die mit keiner Religion interpretierbar ist, weder positiv, noch negativ.
Dann aber gibt es eine Menge von Krankheiten, die als erstes ihren Ursprung in unserer Seele haben. Das ist der weite Bereich der Psychoneurosen im Zuständigkeitsgebiet der Psychoanalyse und zum Teil der Psychiatrie.Davon müssen wir sprechen, weil für die Art unserer Lebensgestaltung eine gewisse Verantwortung natürlich uns zufällt.
Aus den psychoneurotischen, charakterlich womöglich gebundenen Ängsten aber, lässt sich im Raum der Psychosomatik eine ganze Reihe von Krankheiten als Folgerung ableiten bis hin sogar in die Spezifität der Organwahl, Herz, Magen, Lunge oder Gehirn. Welch ein Organ am meisten gefährdet ist, lässt sich ein Stück weit mindestens heute verstehbar machen.
Ich muss, wenn ich von Psychoanalyse rede, Sie nur vor einem jetzt noch einmal warnen: Wenn ich sage, wir tragen für unser Leben die Verantwortung, kann man leichtfertig davon sprechen, dass wir eine Schuld auch an unserer Krankheit hätten.
Es gibt Krankheiten, die sind unnötig - so scheint es. Wenn wir sie uns trotzdem zuziehen aus psychischen Gründen, herrscht in der Volksmeinung sehr schnell ein neuer Aberglauben, nämlich, dass alles, was wir psychisch nennen, frei verantwortlich sei, also im moralischen Sinne: Schuld!
Und dieses Missverständnis ist genauso schlimm, wie jenes andere theologische. Die Psychoanalyse hat darin möglicherweise eine wichtige und günstige kulturelle Veränderung geschaffen, dass sie Krankheitsgeschehnisse psychisch wie psychosomatisch als erstes jenseits der moralischen Bewertung zu betrachten begonnen hat.
Wenn wir im Folgenden sprechen von „psychisch, meinen wir im wesentlichen die sechs Siebtel unserer Seele, die im Unbewussten liegen. Wir sprechen von diesen sechs Siebtel im Unbewussten fast genauso mechanistisch wie vom körperlichen Geschehen. Allerdings hoffen wir, dass, wenn wir das Getriebe begreifen, in dem unsere Seele verhaftet ist, am Ende eigene freie Entscheidungen möglich werden. Sinn jeder Psychotherapie ist die Erweiterung des individuellen Freiheitsraumes, und zwar ohne moralische oder weltanschauliche Vorurteile und Wertungen im Sinne einer bestimmten Ideologie oder Religion. Ein gutes psychotherapeutisches oder seelsorgerisches Gespräch ist offen.
Ich möchte, was gemeint ist, einfach so skizzieren:
Solange Sie unter Angst leben, so dass alles was Sie tun, unbewusst von Angst geprägt und deformiert ist, leben Sie subjektiv womöglich einfach, wie Sie müssen, kennen durchaus keine Alternative, halten persönlich sich sogar für frei. Erst wenn Ihnen nach und nach gezeigt wird, wie unnötig ihre Ängste sind, wie vieles Sie tatsächlich aus Angst getan haben, wird Ihnen die Erkenntnis zuteil, dass Sie noch einmal ganz anders ihr Leben entwerfen können.
Entwerfen ist die existentialistische Vokabel dafür. Und auf diese Verknüpfung von Psychoanalyse und Existenzphilosophie möchte ich eigentlich methodisch hinaus.
Es ist - einfacher gesprochen - so ähnlich wie in dem Gedicht der Anette von Droste-Hülshoff von dem Knaben im Moor Er sieht ringsum sich in den Nebelschwaden über dem Sumpf Gespenster und Irrlichter und er hat eine panische Angst. Dieses Kind rennt und rennt, immer verfolgt, immer vom Tod wie gehetzt. Kommt es endlich auf das feste Ufer und schaut zurück, begreift es, dass die Nebelgespenster nichts waren als die Erzeugnisse seiner Angst. Jetzt erst bekommt er festen Grund unter seine Füße. Jetzt erst merkt er, dass seine Angst überflüssig wird,
Es ist an dieser Stelle eine Merkwürdigkeit. Wenn wir von Angst sprechen, meinen die meisten damit ein konkretes Angsterleben. Und die Biologen unter Ihnen werden sagen, Angst ist doch nichts schlimmes, ganz im Gegenteil.
Die Natur hat die Angst erfunden im Kampf ums Überleben. Angst ist eine Reaktion auf bestimmte Gefahrenmomente, Ist die Angst vorüber, hat die Realität den Charakter des Unbedrohlichen wiedergewonnen. Wir brauchen die Angst, um entsprechende Reaktionen der Selbstsicherung zu zeitigen. Insofern ist Angst nichts weiter als ein Warnsignal für situative Gefahren.
Ein Problem haben wir Menschen uns bereits damit eingehandelt, dass wir denken können. Wir wissen, dass wir nicht nur wie das Kaninchen vom Fuchs oder vom Wolf gejagt werden können. Wir wissen, dass irgendwann der Tod nach uns greifen wird und es gibt kein Entrinnen. Alle möglichen Angstsituationen in der Natur sind für uns Menschen, die wir denken können, in der Zukunft bereits gegenwärtig nahe. Wir können - grob gesagt - die Behauptung aufstellen, dass wir Menschen in ständiger Angst schon deshalb leben, weil wir vernünftig geworden sind und über der Psychologie der Säugetiere sich unser Großhirn gewölbt hat, das Zukunft sich vorstellen und dementsprechend planen kann.
Schon daran liegt es, dass die Frage, wie gehe ich mit dem Tod um, wie gehe ich mit den Vorboten des Todes um, mit Alter, Krankheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Zerstörung des Leistungsvermögens und vielen anderen Dingen, letztlich eine quasi religiöse Antwort notwendig macht.
Ich muss aber jetzt, wenn ich von Angst rede, im Sinn der Psychoneurose wesentlich konkreter sprechen und sagen, dass noch viel mehr als die Angst vor dem Tode wir Menschen Angst haben vor einem anderen Menschen. Schlimmer als der Tod kann uns die Verneinung in Gestalt der eigenen Mutter oder des eigenen Vaters werden.
Sigmund Freud meinte ganz richtig schon um 1910:
Der Satz „Alle Angst ist Todesangst" sei mehr oder minder unbeweisbar. Und er mochte ihn austauschen gegen eine andere These. Wir Menschen fürchten den Tod, wenn er bedeutet, in ein reines Nichts der Verlassenheit und der Lieblosigkeit zu fallen. Wenn Sterben bedeutet, ausgestoßen zu werden aus der Gemeinsamkeit der Liebe, dann ist es identisch mit der völligen Vernichtung der Bedeutung, die unser Leben gehabt hat.
Ein kleines Kind - wie Sie es gerade schreien hören - fürchtet bereits am allermeisten, die Mutter könnte weggehen. All das Geschrei hat den Sinn, die Mutter anzulocken und zu zwingen, dabeizubleiben. Dass sie weggeht ist die schlimmste Strafe für ein Kind. Und Tod bedeutet in diesem Zusammenhang soviel wie in einen Raum restloser, endgültiger Einsamkeit verabschiedet zu werden.
Darin ist die Macht, die wir Menschen aufeinander haben so gewaltig groß, dass wir die Nichtakzeptation, die Zurückweisung eines anderen Menschen, für genauso schlimm und noch schlimmer fürchten als die Endlichkeit unseres Sterbedaseins, rein physisch.
Halten wir fest: Es gibt Ängste, die sich richten auf andere Menschen. Und nun müssen wir nur noch hinzufügen, dass das, was wir als Kinder lernen in den ersten fünf Lebensjahren, sich innerlich verfestigt. Es prägt unseren ganzen Charakter, es prägt unsere Persönlichkeit zutiefst. Sie verstehen, wenn die Psychoanalyse meint, dass die Struktur unserer Seele geformt wird in den Auseinandersetzungen mit den Ängsten unserer Kindertage. Was wir Charakter nennen, ist gewissermaßen die Gefrierform von Kinderängsten,
Wenn der Aufbau gelungen ist, wenn das Maß des Vertrauens, das Maß an Angst überwogen hat, werden wir in aller Regel uns seelisch gesund fühlen. Wenn es aber anders war, wenn wir Ängste bezahlen mussten mit schweren lcheinbußen, mit Deformationen unserer Persönlichkeitsentwicklung, dann ist es kaum anders möglich, als dass wir uns kümmern um die Strukturen unserer verfestigten Angst.
Es gibt - um eine kleine Übersicht wenigstens zu schaffen - nicht beliebig viele Angstformen, die sich psychoneurotisch charakterlich verfestigen und bis zum Krankheitswert Leiden schaffen können, Schuldgefühle machen können, Es sind eigentlich nur vier. Und um die Auswahl schon allein aus Zeitgründen zu erleichtern, skizziere ich Ihnen vor allem zwei oder drei davon.
Stellen Sie sich vor, dass wir Menschen hatten die in einem radikalen Feld von Verneinung leben müssten. Dann gäbe es kein Kind auf Erden, das nicht versuchen würde, mit allen Mitteln sich die Liebe seiner ersten Kontaktperson zurückzuholen. Die wichtigste Form dabei wäre: Man mag mich, wenn ich brav bin, wenn ich mich nach dem richte, was ich tun soll, allenfalls dann wird man mich lieben. Setzen Sie eine solche Erfahrung ins Absolute, ergibt sich daraus - sehr grob jetzt geschildert und gesprochen - das, was wir in der Psychoneurotiklehre als zwangsneurotisch bezeichnen.
Gemeint ist damit, dass dem eigenen Willen sehr früh bereits ein Gegenwille in Gestalt der Mutter oder des Vaters gegenübertrat, Die klassische Zeit, in der zum ersten Mal ein solcher Konflikt auftaucht, ist mit etwa eineinhalb Jahren. Ein Kind beginnt sein eigenes Ich abzugrenzen von dem seiner Mutter Es beginnt zum ersten Mal die Vokabel"nein" auszusprechen. Und jede Mutter unter Ihnen weiß, mit welchem Triumphgeheul ein Kind mitunter"nein" durch den Raum sagen kann. Es ist, wie die Psychologen meinen, die erste Trotzphase.
Nun kann es aber Konstellationen geben, in denen die Mutter oder der Vater schon durch die Umstände derartig an den Rand gedrängt werden, dass sie sich all zu viel Protest aus dem Munde des jungen oder der eigenen Tochter nicht noch leisten können. Es kann ein Erziehungsschema in der ganzen Kultur geben, das dazu nötigt. Trotz auszutreiben durch den stärkeren Befehl. Aus solchen Schemata: Kinder, die was wollen, kriegen was"auf die Bollen“ oder wie man im Deutschen sagte: „Du hast überhaupt nichts zu wollen“ bricht sich in die Angst eines Kindes eine Struktur Bahn, die unter Zwang geboren wird.
Man kann genauer noch sagen, gekoppelt sind diese Auseinandersetzungen in der frühen Kindheit an Fragen der Sauberkeitserziehung. Ob das Kind reinlich seine Muskulatur, seinen Willen unterordnet in die Gebote der Mutter und des Vaters, dies ist die Frage, Sie können die Zwangsneurose im Umgang mit anderen Menschen festmachen an drei konkreten Beobachtungen, und alle drei gehören zusammen,
Wie peinlich wird ein Mensch darauf achten, dass seine Kleidung, sein Wohnraum, seine ganze Umgebung, fast steril in Ordnung ist. Dieser Tage besuchte ich einen Kollegen und ich war ganz erschrocken beinah, zu erleben, wie sein Schreibtisch aufgeräumt war: Makellos - kein Stäubchen! Sein Schreibtisch, alle seine Bücher genauestens geordnet im Regal. Er hätte des nachts dahingehen und die Bücher holen können. Ordnung also als Grundprinzip.
Ein zweites dabei: Pünktlichkeit. Es wäre für einen Menschen dieser Charakterprägung eine Pflichtvergessenheit, die gar nicht zu entschuldigen ist, auch nur ein weniges bei einer Absprache von Zeit sich zu verfehlen.
Und zum Dritten: Sparsamkeit. Wenn Sie als Frau das Glück oder das Pech haben, mit einem Zwangsneurotiker verheiratet zu sein, werden Sie erleben, dass es über Geldfragen vor Weihnachten eigentlich keine Diskussion gibt: Es gibt keinen überflüssigen Plunder. Sie haben die größte Mühe zu zeigen, warum ein neues Paar Schuhe wirklich nötig ist. Aber wenn es nötig ist, dann wird es auch gekauft. Dann spielt auch der Preis keine Rolle.
Mit einem Wort: Sie haben vor Augen die Verwandlung aller Wünsche in Notwendigkeiten. Die zwangsneurotische Art, auf Angst zu reagieren, wird darin bestehen, jeden privaten Raum abzuleiten aus metaphysischen Diktaten, aus dem Willen des Allerhöchsten - im Namen Gottes oder der menschheitlichen Vernunft.
Letzte Woche noch saß ein Mann vor mir, der erklärte, warum seine Frau in die Psychotherapie gehört. Er ist so vernünftig, so ordentlich, so pflichtbewusst, nur sie will es nicht verstehen und tut immer das Unvernünftige, immer aber auch das Gegenteil. Dabei hat er ihr gerade noch gesagt, wie es richtig ist. Und dann macht sie absichtlich alles genau dagegen. Irgend etwas in ihrem Kopf stimmt nicht.
Ich stand völlig hilflos vor der Aufgabe, diesem Mann seine Frau zu erklären und zu sagen, vielleicht will sie nur sagen: Was du behauptest, ist nicht schon die Offenbarung der Weltvernunft an und für sich. Stell dir vor, meine Welt sieht manchmal völlig anders aus als deine. Und lediglich, dass du sie anders wünschst, ist noch lange nicht damit identisch, dass „vernünftig" nur das heißt, was du diktierst. Es war ihm völlig unmöglich, zu seinem Denken eine Alternative auch nur als möglich anzudeuten. Es hätte ihm die schlimmste Angst bedeutet, es gäbe einen nicht festgelegten Spielraum.
Ich deute diese Krankheitsform der Seele nur sehr im groben an. Gehe aber jetzt noch einmal zurück zur Problematik von Krankheit und Tod. Denn soviel wird Ihnen plötzlich klar: Wenn ein Mensch nur leben kann auf der Basis des absolut Notwendigen, ist für ihn Krankheit eine Katastrophe. Sie zeigt ihn funktionslos. Sie zeigt ihn nicht länger leistungsfähig, Es ist ungefähr so, wie in Berlin vor 200 Jahren, als der deutsche Philosoph Fichte seiner Frau, die grippekrank im Bett lag, brieflich zu verstehen gab, es sei eine bodenlose Pflichtvergessenheit angesichts der Schar ihrer Kinder, grippekrank zu werden. Es gehört sich nicht - ganz einfach.
So erlebt ein Mensch, dem man beigebracht hat, er hat kein eigenes Wünschen, kein eigenes Wollen, er darf nur tun, er darf überhaupt nur sein - gemessen am Gebotenen. Jeden Raum des Zufälligen, des nicht Notwendigen, empfindet er als Bedrohung. Es entwertet ihn. Sie verstehen, dass der Umgang eines solchen Menschen mit sich selber am besten gekennzeichnet wird durch das Wort „Perfektion". Nur das Vollendete, das Makellose, ganz Korrekte ist ja das Erlaubte.
Ein solcher Mensch muss mit sich umgehen wie mit einem technischen Gerät. Es darf keinen Fehler haben. Wenn aber doch, ist das Todesurteil gewissermaßen für ihn die Folge. Der Tod selber zeigt ihm seine Nichtnotwendigkeit und deshalb muss er ständig dagegen ankämpfen. Es ist eine quasi sadistische Welt der permanenten Konkurrenz. Wer schafft es noch besser Wer macht es ganz vollendet.
Es ist Ihnen klar, dass in einer solchen Gefühlslage des Daseins das, was Hans Selye in den dreißiger Jahren „ständiger Stress" nannte, die Folge sein muss. Mit „Stress" begreife ich jetzt eine permanente Angstreaktion, die das ganze Leben durchzieht und in immerwährender Spannung hält.
Damals, vor über sechzig Jahren, gab es noch keine Möglichkeit, die sogenannte Organwahl zu begründen, in der frühen Stresstheorie vor über einem halben Jahrhundert, dachte Hans Selye nach dem Modell eines überlasteten Netzwerkes elektrischer Leitungen. So lagen viel zu viel Spannung durch die Leitungen, die man in Ihr Haus gelegt hat, und irgendwo und irgendwann kommt es zu einem Kurzschluss, und zwar gerade an der Stelle, die die schwächste ist. Es war dies das Bild einer Kette, die man überspannt und die an dem Punkt reißen wird, wo die Materialschwäche als erstes nachgeben wird.
Die Psychoanalyse hat diese Stelle zwischen Stress und organischer Krankheit ein Stück weit zu schließen vermocht. Es leuchtet Ihnen ein, dass zum Beispiel Erkrankungen der Herzkranzgefäße bei einer ständig überdrehten Motorik, einer ständigen überspannten Verantwortung, einem ständigen Getriebenwerden in Aufregung, Versagensängsten oder Zornreaktionen, unausweichlich die Folge sind. Viele Krankheiten, die dann etwa Männer Mitte der fünfziger Jahre heimsuchen können, Hetzinfarktschäden, können eine Folge dieses Hintergrundes sein. Da ist Krankheit geboren worden aus seelischer Angst, soweit die negative Aufschlüsselung,
Sagen wir es im biblischen Bild noch einmal: Menschen, die sich wie Vertriebene fühlen, als Exulanten des Daseins, ausgesetzt aus dem Garten der Weit, immer belastet mit der Frage: Wie arbeitest du die Tatsache ab, dass du schuldig bist, auch nur zu leben, - die werden so fühlen, wie gerade geschildert und für die wird Krankheit und Tod eine ständige Erfahrung sein.
Setzen wir an diese Stelle schon das, was man positiv dagegen tun müsste. Haben Sie alle die Wege vor Augen, die Sie im Neuen Testament eigentlich als den Weg zur Erlösung beschrieben finden. Wenn Sie einen Zwangskranken heilen wollen, müssten Sie ihm ein Gefühl geben für die Berechtigung seines Daseins. Das wäre der Kern. Nicht dass du schuldig bist auf Erden, sondern es müsste sich die Erfahrung von Person zu Person vermitteln, dass der andere liebenswert ist, nicht erst für das, was er macht, sondern für die Tatsache seines Lebens selber. Es müsste ihm glaubhaft durch das Gefühl eines anderen Menschen vermittelt werden. Ein solcher Mann oder eine solche Frau müssten buchstäblich lernen, sich auszuruhen in der Nähe eines anderen.
Noch auf der Fahrt hierhin erklärte mir heute mein Taxifahrer: Ich leide chronisch an Kopfschmerzen. Aber sie hören auf, wenn meine Frau mir den Kopf streichelt. Es liegt am Wetter. Dieses scheußliche Wetter. Wenn es richtig kalt wäre, hätte ich keine Kopfschmerzen. Natürlich lag es nicht am Wetter.
Es genügt für einen Menschen, der ständig angespannt ist, in diesem Fall für einen Ausländer, der fürchtet, dass man ihn abschieben könnte, dass es in seinem Kopf brummt und brummt: Eine ständige Hypertonie, die bis in die Gefäße hinein sich somatisiert. Umgekehrt entspannt es sein ganzes Gefühl, wenn er nur Hände spürt, die ihm das Empfinden vermitteln, gemocht zu sein, geborgen zu sein, aufgehoben zu werden. Und er muss dafür nicht etwas machen, er ist einfach da.
Eine Zwangsneurose kann beginnen sich aufzulösen, wenn jemand doch nur einmal am Tage eine halbe Stunde spazieren geht, umzusehen, was ein Baum ist, was eine Ente auf dem Teich ist, was ein spielendes Kind ist. Wohlgemerkt: Ein Zwangsneurotiker wird sich die halbe Stunde am Tage allenfalls als ärztliche Verschreibung, als Gesundheitsmaßnahme genehmigen.
Wenn Sie ihn aber ganz langsam dahin verlocken, dass es ganz schön ist, einfach einmal zu erleben, was Freiheit bedeutet - und wäre es auch nur eine halbe Stunde pro Tag - ist es, wie wenn Sie in den Deckel der Dose, in der Sie ein Tier gefangen halten, Löcher schlagen, durch die ein bisschen Luft schon einmal kommt.
Sagen wir es so: In diesen Vorweihnachtstagen werden die meisten von Ihnen bestrebt sein, der eine dem anderen sich etwas zu schenken. Sie können daraus eine zwangsneurotische Orgie machen.
Wie finde ich das richtige Geschenk, das vernünftige Geschenk, das bessere Geschenk, das - dem Nachbarn gegeben - ihm mich noch tüchtiger zeigt als er selber: Immer in Konkurrenz, immer aus Sorge vor Verurteilung.
Wenn es aber möglich wäre, Sie entdeckten auch nur eine Stunde ruhigen Gesprächs, so wäre das das allerschönste Geschenk. Es kostet überhaupt nichts. Und wenn schon dem anderen etwas schenken, dann doch um ihm zu sagen, welch eine Kostbarkeit unverdientermal3en der andere in Ihrem Leben ist. Das möchten wir mit einem Geschenk doch sagen: Du bist für mich ein großes Glück in meinem Leben. Du bist mein Geschenk, Und nur das möchte ich Dir zeigen. Dann wäre eine kleine Geste aus dem Erbe des Christentums vor Weihnachten das Ende eines ganzen krank gewordenen Lebens. Aber wie lernen wir das, zu denken, unser Dasein sei gemocht, gewollt, geliebt?
Sie begreifen plötzlich im Rückblick die biblische Erzählung auf den Anfangsseiten der Genesis ganz deutlich. Auch das, was im Neuen Testament dann als Erlösung vorgeschlagen wird. Jesus mochte einen jeden von uns bei der Hand nehmen und ihm dieses Vertrauen versichern: Er mit seinem Leben sei gemeint, berechtigt, gewollt. Das war der Erfahrungshintergrund, wenn er von Gott sprach.
Martin Luther King in einer Predigt in Alabama drückte die Bergpredigt auf seine Weise aus. Er sprach gar nicht von Gott, aber was das Wort sagt, das klärte er so:
Ich sehe, dass du nicht einmal Schuhe an den Füßen hast, so arm bist du. Aber du bist jemand. Ich vermute, du wirst heute nacht schlafen nicht in einer Wohnung, sondern in einer Kanalröhre, so arm bist du. Aber du bist jemand. Vor, dir weiß ich, dass du nicht einmal deinen Vater und deine Mutter kennst und du kannst nicht einmal deinen eigenen Namen schreiben. Du hast nie eine Schule besucht und du wirst nie einen Job kriegen. Aber du bist jemand.
Je länger er so redete mit wiegendem Oberkörper, fing die ganze Gemeinde an zu singen: Aber ich bin jemand, „But I am somebody“, das ist das Ende dieser Angst. Ich bin erst ein Mensch mit Schuhen an den Füßen, ich bin erst ein Mensch mit Leistung und Tüchtigkeit, ich bin überhaupt erst berechtigt zu existieren von einem bestimmten Bankkonto an, von einem bestimmten Karriereniveau an. Erich Fromm hat gemeint, solange wir das Dasein verwandeln in das Haben, ist unsere Gesellschaft tödlich, ist sie nekrophil, hängt sie ihre Vorliebe an den Tod statt an das Leben - und das ist in unseren Worten jetzt subjektiv erlebt der zwangsneurotische Gestaltenkreis.
Drücken wir es biblisch aus: Das wäre ein Leben in vernichtender Gnadenlosigkeit - ich sage dieses Wort, damit Sie rein sprachlich begreifen, wie verhunzt unsere Gesellschaft geworden ist. Wenn ich heute abend mit Bischof Huber in der Urania diskutiere: Für Martin Luther war das Wort „Gnade“ das schönste Wort im ganzen Deutschen. Sie könnten aber heute keinen deutschen Film drehen, in dem das Wort „Gnade“ vorkäme als Titel. Wollten Sie aber sagen"gnadenlos“, das wäre spannend, attraktiv. Ein Wildwestfilm „Django mordet gnadenlos‘, das läuft allemal, das ist Action, voll drauf!
Was wollen wir wirklich? Die Permanenz der Nervenkrisen, die wir industriell ausbeuten, oder das, woran wir in den Vorweihnachtstagen den Worten nach glauben möchten: Es gäbe noch so etwas wie Frieden, Liebe, Güte - und nur daraus lebten wir als Mensch. Insofern können wir jetzt die These sehr wohl aufstellen: Nicht moralisch, aber existentiell, nicht ethisch gesprochen, aber in den Strukturen unseres Daseins gibt es Verantwortung und sogar Schuld an Krankheit.
Wer erst einmal begreift, in welchen Wahnsinn man ihn eingeschnürt hat, der versteht, dass alles, sein ganzer Lebensaufbau unnötig und falsch sein kann, Es ist dann sogar möglich, aus der Krankheit Weisheit zu lernen. Und wir müssten sagen: Eine Fülle von psychoneurotisch und psychosomatisch bedingten Krankheitsformen sind so etwas wie ein Notsignal der Natur uns Verstand beizubringen, wenn wir jahrelang an jedem Verstand vorbeigelebt hätten - aus lauter Angst! Wir verstehen plötzlich, dass wir tatsächlich eine Schuld haben können, die paradoxerweise darin bestehen kann, alles richtig gemacht haben zu wollen,
So ein Zwangsneurotiker wollte nie etwas verkehrt machen, Aber genau diese Angst, ich könnte etwas verkehrt machen, hat am Ende dazu geführt, dass er letztlich nie wirklich gelebt hat, Er hat seine Frau unglücklich gemacht, seine Kinder unglücklich gemacht, er hat durch den Konkurrenzkampf andere ins Abseits und ins Nichts gestoßen, es hat nie einen Tag gegeben, an dem er wirklich glücklich war.
Leo Tolstois „Anna Karenina" ist diese Tragödie einer Frau an der Seite eines perfekten Zwangscharakters. Herr Karenin hat immer Recht. Auf der Seite von Herrn Karenin steht das bürgerliche Gesetzbuch, die Gesetze der Kirche, er macht alles tadellos. Aber seine Frau geht daran zugrunde bis zum Selbstmord! Jemand, der Tolstoi liest, versteht plötzlich, dass die Schuld ganz woanders liegt als auf der Ebene der Moral. Sie liegt darin, dass wir zur Güte nicht fähig sind unter einem Perfektionsideal von Zwang und Angst.
Drehen wir die Perspektive nur noch auf eine zweite Form - aus Zeitgründen sehr verkürzt dargeboten - nennen wir die Depression parallel dazu. Dann haben Sie vor Augen eine seelische Erkrankung, die die meisten psychiatrisch missverstehen.
Sie denken sich die Depression entweder als einen psychotischen Zustand oder sie verwechseln die Depression mit einer ständigen Kopfhängerei. Gemeint ist in der Neurosenlehre erst einmal ein Charakteraufbau, der im gewissen Sinn im Spielraum der Normalität liegen kann und erst von bestimmten quantitativen Steigerungen an Krankheitswert erhält,
Zur Depression gehört, dass man Angst vor möglicher Schuld vermeidet durch ein ständiges Entgegenkommen. Sie verstehen die Psychologie eines Menschen, den Sie als depressiv beschreiben müssten am besten dann, wenn sie erkennen, dass hier Schuldangst nicht durch Perfektion beantwortet wird, sondern durch Bravheit, durch Gefügigkeit, durch die völlige Unerlaubtheit, an irgendeiner Stelle „Nein“ zu sagen.
Die Frau, die draußen gespielt hat, während ihrer Mutter der Milchtopf überquoll auf der Herdflamme, lebte sehr bald in einer Welt, die sich nur depressiv beschreiben lässt. Man müsste das, was vorher mit dem Horchen auf den Zuggleisen beschrieben wurde, jetzt als konkretes Erlebnis formulieren: Ich muss mich nicht nur anklagen, dass ich auf den Milchtopf nicht aufgepasst habe, ich muss aufpassen auf alles, was Mutter überhaupt von mir wünschen könnte und zwar bevor sie es gesagt hat. Ich muss so sensibel werden, dass ich meiner Mutter jeden denkbaren Wunsch von den Augen ablesen kann. Noch genauer: Ich muss herausfinden, wann Mutter etwas wünscht, bevor sie es selber merkt.
Und wenn ich das erfülle, vermeide ich die Gefahr, dass sie wieder so böse wird, dass ich mich so böse fühlen muss. Sie können sich die Sensibilität von Menschen, die depressiv sind, kaum groß genug vorstellen. Von dieser Frau muss ich noch sagen: Sie kam eines Tages zu mir und erklärte, der Mann der sie eben besucht hat, ist ein Zwangsneurotiker mit schweren religiösen Komplexen. Ich sagte: Woher wissen sie? ja, sein Fahrrad stand da unten.
Dieser Mann war durch drei psychiatrische Kliniken gegangen mit ganz verschiedenen Diagnosen. Was diese Frau an dem Fahrrad des Mannes sah, stimmte haargenau. Besser als alle behandelnden Ärzte - so stimmte es. Gesehen hatte sie lediglich die Sauberkeit des Fahrrads und die religiösen Plaketten, die daran klebten vom Heiligen Christophorus bis zur Mutter Gottes von Lourdes und alles mögliche. Das war genug für sie. Sie fand einfach durch ihre Einfühlung heraus, woran Menschen leiden.
Es kommt hinzu, dass bei der Pflicht, ständig ein Nein der Abgrenzung zu vermeiden, im Vorlauf ständige Angebote gemacht werden. Sagen wir im Bilde gesprochen: Die Lebensstrategie eines Depressiven ist die Flucht ins Unendliche. So ähnlich wie im Kampf gegen Napoleon der russische General Kotussow auf die Weite des Landes setzte. Napoleon konnte ein russisches Dorf nach dem anderen verbrennen, Kotussow wusste, dass Napoleon in Moskau selber an Hunger und Kälte zugrunde gehen wird.
So ein Depressiver überlässt gewissermaßen jedem beliebigen Feind das ganze Territorium ohne Gegenwehr. Irgendwann wird der Gegner kalte Füße kriegen, das ist die Rechnung im Hintergrund. irgendwann muss der Gegner selber Schluss machen. Aber „Nein“ sagen wird ein Depressiver nie. Oder es kommt die Angst vor der möglichen Schuld.
Wenn Sie dies im Hintergrund haben wird deutlich, dass ein Allschuldwahn irgendwann sich bilden kann - in der Psychose dann. Man leidet an allem, jedes Unglück der Welt kann uns heimsuchen und man ist selber doch daran beteiligt. Man braucht ein neues Kleid vor Weihnachten - aber sagen Sie selber - kann man ein Kleid sich kaufen für 280.-Mark, wenn in Ruanda Tausende von Menschen verhungern? Also ist man schuldig, wenn man auch nur ein Kleid gewünscht hat.
Nun wird eine Frau, die so leidet, aber nicht sagen: Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mir ein Kleid gewünscht habe. Dann wäre sie viel zu weit gegangen. Sie wird wahrscheinlich in der Therapie sagen: ich verstehe nicht, wie es mir wurde: Ich stehe auf dem Kurfürstendamm vor einem Geschäft und plötzlich werde ich traurig. Alle Menschen sind glücklich, es ist der Weihnachtsmarkt im Gange, und ich komme weinend nach Hause. Ich verstehe mich selber nicht. Sie jetzt müssten erklären, dass in ihrem Unbewussten ein Wunsch geweckt wurde und brachial niedergedrückt wurde durch ein Verbot. Nur die Reaktion auf dieses Schema, die Traurigkeit, mir steht gar nichts zu, wird noch dem Bewusstsein gemeldet.
Was Sie jetzt lernen, ist nur noch die somatische Folgerung. Wenn Sie es bei der Zwangsneurose mit allerlei Krankheiten zu tun haben, die aus Hypertonie, aus der Vasomotorik entstehen können, haben Sie es in der Depression zu tun mit einem Gefühl ständiger Niedergedrücktheit, der Hypotonie also, haben es zu tun mit Krankheiten, die im Magen-Darmtrakt auftreten: Es geht ständig darum, etwas aufnehmen zu mögen, was man nicht aufnehmen darf. Störungen dieser Art also können körperlich entstehen.
Das Paradoxe ist jetzt wieder: Mit Recht können Sie sagen, ein Depressiver ist an solchen Krankheiten selber schuld. Aber nicht, wenn Sie dieses Wort moralisch verstehen, sondern Sie müssten es existentiell als Beschreibung von Prozessen in den sechs Siebenteln des Unbewussten ansetzen. Wollten Sie einen Depressiven aus seiner Krankheit herausführen, müssten Sie ihn bei der Hand nehmen und ihm den Mut geben, nach und nach eigene Wünsche haben zu dürfen und artikulieren zu können.
Dieser Tage noch sagte ich einem Mann, der sehr darunter litt, immer überbeansprucht zu sein: Wir müssen es jetzt üben: Am Telefon bei Ihnen wird angerufen und wir üben jetzt, nein zu sagen. Bei wem ist es am schlimmsten. Wir stellen uns vor, Sie sagen Ihrem eigenen Chef „Nein“. Sie schauen in den Kalender und da ist ein freier Tag. Aber Sie werden, weil im Kalender an einem Tag „frei" steht, keinen Vortrag halten. Sie werden nein sagen und kreuzen an programmgemäß, dass dieser Tag zu Ihrer Erholung zur Verfügung steht.
Wir lernen, dass man Erholung mindestens genau so planen muss wie man Arbeit plant, sonst kommt sie nicht zustande. Es kann lange dauern, bis ein Depressiver seinen eigenen Mund gebrauchen lernt, um seine Gefühle, seine Worte, seine Wünsche zu äußern, Das Problem ist wieder, dass man schuldig werden kann, indem man niemals schuldig werden möchte. Es ist möglich am Ende, dass man das gesamte menschliche Konto überzieht. Nur Gott - wenn Sie so wollen - ist imstande, immer und überall tätig zu sein.
Wir Menschen brauchen acht Stunden Schlaf, wir brauchen ein reguliertes Hin und Her zwischen Anspannung und Entspannung. Verweigern wir dies, sind wir am Ende schuld auch an unseren Ängsten, schuld auch an unseren Krankheiten. Dann freilich - könnte man sagen - werden wir bestraft für unsere Fehler. Aber nur in diesem Sinne macht es Logik und Verstand, Krankheit als Notsignal der Seele und schlimmstenfalls als Strafe für die Unnatur unseres Lebens durch die Natur zu interpretieren.
Es ist dann so viel, dass wir, nachdem alle Warnsignale übersehen wurden, praktisch nur noch eine Möglichkeit zum Bremsen haben, das ist der frontale Aufprall am nächsten Baum. Wenn wir sehr sinnlos fahren, irgendwann freilich müssen wir gestoppt werden, aus dem Verkehr gezogen werden als gemeingefährlich, das versteht man, Ich sage es noch einmal, um jedes Missverständnis auszuschließen und das hat nichts zu tun mit Moral. Es hat in aller Regel damit zu tun, dass Menschen so moralisch sein möchten, dass sie nur noch ihre Gesetze erfüllen und sich selber am Ende überhaupt nicht mehr verstehen.
Deshalb möchte ich schließen mit zwei Gedanken, die sehr alt sind, was Religion bedeuten konnte und könnte. Vor über 2300 Jahren gab es vor dem Christentum schon eine Religionsform des Asklepios in Epidauros. Das ist der heilende Arzt, dessen Emblem Sie an der Eingangstür Ihres Hausarztes oder Apothekers manchmal finden: Eine sich ringelnde Schlange um einen Stab.
Die Priester des Asklepios forderten die Patienten auf, im Heiligtum des Gottes zu schlafen und zu träumen. Und am anderen Morgen ließen sie sich die Traumgeschichten erzählen und deren Deutung - wie eine Botschaft Gottes - sollte die Menschen heilen.
Denken Sie einmal im Kampf gegen Depression und Zwangsneurosen - und ich füge hinzu Schizoidie, Hysterie, gegen psychosomatische Krankheiten vielerlei Art - würde helfen, geordnet zu schlafen, friedlich zu träumen und die Botschaft der Träume des nachts zu verstehen. Dann hätten Sie eine sehr wirkungsvolle Form, gesünder zu leben.
Bernhard Shaw meinte einmal, es gibt Leute, die träumen, um gut zu schlafen. Es gibt andere, die träumen, um endlich aufzuwachen. Die letzteren sind die Dichter. Immer wenn Sie Ihr eigenes Leben ein Stück dichterischer begreifen, leben Sie ein Stück gesünder. Wie viele Gefühle unter uns Menschen gehen dadurch zugrunde, dass wir keine Sprache haben, Empfindungen angemessen mitzuteilen, dass wir keine Bilder haben, die zärtlich genug sind, uns zu erklären.
Vor kurzem sagte mir eine Frau einmal: Ich gehe mit meinem Mann auf die Straße und ich sage zu ihm: Die Schneeglöckchen sind traurig. Und dann sagt er zu mir: Was Du schon wieder hast, die wachsen da. Dann gab es Streit. Drei Wochen danach kam die Frau in Psychotherapie und später in die Psychiatrie. Sie hatte ein letztes Mal den Versuch unternommen, ihrem Mann zu sagen, wie sie sich fühlt. Sie hat nie gelernt, Gefühle mitzuteilen. Hätte sie es gekonnt, würde sie gesagt haben: Ich bin wie eine blühende Blume, voller Schönheit, voller Lebensmöglichkeiten, aber es liegt auf mir wie gefrorene Tränen. Und der Grund aller Kälte bist Du, mein Mann, der kein einziges Gefühl versteht.
Dieser Mann ist ein ordentlicher Bürger, er tut täglich seine Pflicht, er ist im Pfarrgemeinderat, ein unbescholtener Christ, eine Seele von Mensch, ein Muster der Verantwortung, ein Herr Karenin par excellence. Aber noch wie er reagiert und seine Frau zurechtweist, bestätigt er genau das, was sie andeutet: Die wachsen da, heißt soviel wie: Halt das Maul. Fang nicht schon wieder an. 2 x 2 = 4, Blumen sind nicht traurig und du hast kein Recht, traurig zu sein. Erstens bist du keine Blume und zweitens mache ich alles richtig.
Ich will mit dem Beispiel auch andeuten, dass niemand nur für sich alleine krank ist. Solang er seine Krankheit noch austoben kann, und nicht selber schon im Bett liegt, wird er andere weiter krank machen. Und selbst wenn er im Bett liegt den anderen noch Schuldgefühle machen. Es gibt zur Beglückung der Menschheit nichts Besseres, als dass Sie sich selber erlauben, ein bisschen glücklicher zu werden. Und dafür sind die Bilder, die Träume und die Gefühle notwendig.
Und das Zweite: Es gab vor 2300 Jahren die Religion des Pythagoras. Das ist nun der Herr, von dem Sie diese lausige Lehre gelernt haben, dass die Ouadrate über den Hypothenusen...‚ Sie wissen schon. Die meisten haben nie gelernt in der Schule, dass Pythagoras der Begründer einer großen und großartigen Religion war, die uns lehrte, Gesundheit bestehe darin, den Körper in Harmonie mit der Seele zu halten.Und das sei nur möglich in der Harmonie mit der ganzen Welt, die uns umgibt: Einzutauchen in den Klang der Sphären - das war so eine pythagoreische Idee. Den Tanz des Kosmos, würden wir heute sagen, in der Seele schwingen zu fühlen, bis der Körper mitschwingt: Das wäre Gesundheit und alle Krankheiten nur die Störung dieser Harmonie.
Pythagoras hat nicht die Begründung der Angst, der Ausgesetztheit, der Vertriebenheit wie die Bibel geboten. Er hat lediglich den Zustand richtig beschrieben und dann gemeint, es gäbe gegen die Disharmonie ein einziges wesentliches Mittel, neben der Musik und dem Tanz vor allem ein gutes Gespräch.
Ich zitiere als Zusammenfassung eine Stelle aus dem Dialog des Platon mit Charmides. Beschrieben wird, dass Sokrates, sein Lehrer, eines Tages zu einem Jüngling kommt, der an Migräne leidet. Sokrates soll ein Heilkraut besitzen gegen die Krankheit. Aber der Weise aus Athen erklärt, dass er kein Recht hat, das Heilmittel anzuwenden. Er hat es nämlich bekommen von einem Arzt, einem Schamanen des wilden Stammes der Thraker, einem Priesterarzt des Gottes Zamolxis.
Der sprach zu Sokrates: Siehst Du - eben deshalb sind die griechischen Ärzte ohnmächtig über vielerlei Krankheit, weil sie als erstes trennen: Wenn krank ist das Auge, das Auge vom Kopf und den Kopf vom Rumpf und den Rumpf von den Gliedern und die Glieder von der Seele, aus welcher dem Menschen überhaupt doch erst Krankheit oder Gesundheit entstehen.
Als erstes gilt es deshalb, die Seele einzuladen zu einem schönen Gespräch. Wenn Du hingegen einen Arzt findest, der nicht beginnt mit einem schönen Gespräch, sondern gleich trennt, das Auge vom Kopf, den Kopf vorn Rumpf, den Leib von der Seele, so fliehe einen solchen Arzt als die Krankheit selber.
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