- Artikel Sonntagszeitung (CH): Millionen Surfer sagen dem Internet Goodbye - Frank1, 31.12.2000, 16:53
Artikel Sonntagszeitung (CH): Millionen Surfer sagen dem Internet Goodbye
Der grosse Irrtum der Internet-Wirtschaft ist, zu glauben, dass jeder Web-Nutzer für immer einer bleibt. Nach Erkenntnis von Wissenschaftlern in Grossbritannien und den USA ist dies nicht der Fall: Jährlich verabschieden sich Millionen vom globalen Datennetz.
Alleine in den USA entschieden sich 1999 knapp 30 Millionen Surfer zum Ausstieg - 1997 waren es erst 9,4 Millionen. «Vor allem Teenager sind vom Internet nicht mehr so begeistert, viele haben aufgehört, es zu benutzen», sagt Soziologe Steve Woolgar von der britischen Oxford-Universität. Sein Fazit: «Das bisherige schnelle Wachstum des Internet wird sich so nicht fortsetzen.»
Das ist unfrohe Kunde für die Web-Wirtschaft. In all ihren Prognosen und Geschäftsplänen geht sie nämlich von einem ungebremsten Interesse am Internet aus. So erwarten Marktforscher der Computer Industry Almanac Inc. weltweit 720 Millionen Nutzer bis im Jahr 2005. Schon 2002 sollen mehr als 600 Millionen online sein.
Auch die New Yorker Firma Cyber Dialogue hat das Aussteiger-Phänomen erkannt. «Fast die Hälfte der US-Bevölkerung», sagt Analyst Idil Cakim, «sieht keinen Nutzen im Internet.» Das zieht sich quer durch alle Alters- und Einkommensschichten. Steve Jones, Professor an der Universität von Illinois in Chicago und Präsident der Association of Internet Researchers, ist davon keineswegs überrascht. «Wenn Leute in ihrem Alltag ohne Web zurechtkommen und es nicht vermissen, drängt es sich auch nicht auf, online zu gehen.»
Die Gründe für den Rückzug sind vielfältig. Viele Ex-Nutzer beklagen sich über das Durcheinander im Web - sie sind frustriert, oft nicht die gewünschten Informationen zu finden. Andere benutzen das Internet an Hochschulen, haben aber nach dem Studium nicht die Mittel oder die Zeit, sich weiter mit diesem Medium zu beschäftigen. Sehr oft fanden die Forscher auch Personen, die sich das Web finanziell nicht leisten können.
Doch offenbar hat die Branche dies gerne übersehen - solange monatlich Millionen neuer Nutzer registriert wurden. Jetzt dürften die Aussteiger vor allem die vielen virtuellen Einkaufsläden in Bedrängnis bringen. «Die Kundenpflege ist wichtiger, als die meisten Betreiber von Online-Shops ahnen», warnt etwa Cyber Dialogue.
Eine weitere Erscheinung, die sich bald auch in Europa bemerkbar machen dürfte, beobachten Gesellschaftsforscher in den USA. Immer öfters registrieren sie Aussteiger, die jahrelang in der Informationstechnologie tätig waren. Mit 30 oder 35 fühlen sich viele Programmierer und Informatiker in ihren hoch bezahlten Jobs vereinsamt und überfordert - und tauschen ihre 15-Stunden-Tage gegen einfachere Beschäftigungen in ganz anderen Branchen ein.
So wie Heather Hoffman, 28, die früher für das Web-Unternehmen Razorfish programmierte. Nun arbeitet sie in einem Buchladen im kalifornischen Santa Monica. «Wenn ich abends nach Hause komme, finde ich manchmal auf meinem Anrufbeantworter ein halbes Dutzend Mitteilungen von Firmen, die dringend Programmierer suchen», sagt sie. Einige offerieren ihr Jahressaläre von mehr als 100 000 Dollar, denn Hoffman hat an der renommierten Berkeley-Universität drei Programmiersprachen studiert. Doch sie hat kein Interesse mehr: «Ich rufe nicht einmal zurück.»
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