- Alternativperspektive zum Thema"islamischer Fundamentalismus" - moneymind, 07.02.2006, 01:26
- Mangelnde Perspektiven - Zandow, 07.02.2006, 10:23
- Re: Existierende Perspektiven - Zandow - moneymind, 11.02.2006, 17:43
- Re: Existierende Perspektiven - moneymind - bernor, 12.02.2006, 18:46
- Re: Existierende Perspektiven - moneymind - moneymind, 13.02.2006, 21:02
- Re: Existierende Perspektiven - moneymind - bernor, 12.02.2006, 18:46
- Re: Existierende Perspektiven - Zandow - moneymind, 11.02.2006, 17:43
- Mangelnde Perspektiven - Zandow, 07.02.2006, 10:23
Alternativperspektive zum Thema"islamischer Fundamentalismus"
-->Hallo Leute,
aus aktuellem Anlaß hier nochmals ein kurzer Hinweis auf eine wichtige analytische Perspektive auf das kontroverse Thema"Islamische Welt": eine Perspektive, die querliegt sowohl zum gängigen (wohl Huntington-inspirierten) Kulturkampf-Klischee des Mainstream als auch zum in diesem Forum oft propagierten verschwörungstheoretischen Interpretationsraster.
Es geht um Heinsohns demographische Perspektive, die einen Zusammenhang zwischen sozialer Gewalt und Extremismus und"überzähligen" jungen Männern (3., 4. und 5. Söhne) ohne Aussicht auf gesellschaftliche Positionen, die gleichwohl gut ernährt und ausgebildet sind (die Explosivität ergibt sich für Heinsohn aus der Kombination"gut ernährt und ausgebildet, aber ohne Zukunftsperspektiven").
In aller Kürze zusammengefaßt:
1. Wenn in einer Gesellschaft jede Frau innerhalb ihrer gesamten Lebensspanne 2 Kinder bekommt, findet gesamtgesellschaftlich"einfache Reproduktion" statt. Die Gesellschaft wächst nicht, sie schrumpft auch nicht (von Migration und Verlusten durch Kriege, Seuchen etc. jetzt mal abgesehen).
2. Liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frauenleben unter 2, schrumpft die Gesellschaft. Das hat auch Auswirkungen auf ihre Altersstruktur. Da weniger junge nachgeboren werden, nimmt der relative Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung zu. Das Durchschnittsalter steigt. Die Gesellschaft altert.
3. Dies ist derjenige Prozess, den wir in allen westlichen Industrienationen und praktisch allen Gesellschaften mit einigermaßen funktionierender kapitalistischer Wirtschaftsordnung heute beobachten. Perspektive: Überalterung.
4. Liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frauenleben über 2, wächst die Gesamtgesellschaft. Auch das hat Auswirkungen auf die Altersstruktur. Der relative Anteil der jüngeren nimmt zu, das Durchschnittsalter sinkt. Wir haben es dann mit"jungen" Gesellschaften zu tun.
5. Diesen Prozess konnte man in Europa zu Beginn der Neuzeit beobachten (Bevölkerungsexplosion mit extrem hohen Kinderzahlen pro Frau (>4). Heinsohn und sein Kollege Steiger haben diese europäische Bevölkerungsexplosion in ihren Büchern"Menschenproduktion" (siehe amazon.de) und"Die Vernichtung der weisen Frauen" neu analysiert. Ich halte viele Einzelpunkte, die H/S in diesen Büchern anführen, für fragwürdig, ihre Gesamtperspektive aber für höchst aufschlußreich und diskussionswert.
6. Diesen Bevölkerungswachstumsprozess können wir aber heute auch in vielen"Drittwelt"-Ländern beobachten. Die islamischen Länder sind nur ein, wenn auch dramatisches, Beispiel für einen solchen Prozess.
7. Werden nun Kinder - v.a. Söhne - schneller nachgeboren, als die ältere Generation für sie gesellschaftliche Positionen ("Arbeitsplätze") und damit Lebensperspektiven schaffen kann, kommt es zu einem"Jugendüberschuß" (Youth Bulge): die perspektivlosen jungen Männer, die von ihren Herkunftsgesellschaften nicht"gebraucht" werden bzw. beschäftigt werden können, lenken ihre Energien in andere Kanäle.
8. Heinsohn hat in seinem Buch"Söhne und Weltmacht" (siehe amazon.de) verschiedene historische Youth Bulge-Situationen verglichen und typische Muster herausanalysiert, die in der Geschichte immer wieder aufzufinden sind.
9. Zu diesen gehören:
- Migration, Eroberung und Unterwerfung anderer Völker (als Beispiele führt er u.a. die Kolonisation der Welt durch die Europäer im Zeitalter des Imperialismus an, das auf die europäische Bev. Explosion folgte).
- Revolutionen und Umsturz der bisherigen Gesellschaftsordnung (frz. Revolution - Heinsohn interpretiert sogar die"68er Revolution" als Youth Bulge Phänomen --- als Ergebnis des Nachkriegs-Babybooms, der aber in der damaligen wirtschaftlichen Expansionsphase von der Gesellschaft aufgefangen werden konnte, indem für die Revolutionäre Positionen geschaffen wurden (wieviele 68er sind heute Soziologie-, Ã-konomie- oder PolWiss-Profs?!?)
- Entladung der Gewalt nach innen durch Bürgerkriege bis hin zum Völkermord (als Beispiele führt er u.a. Ruanda an).
Ich finde diese demographisch fundierte Perspektive insgesamt und in dern Grundzügen höchst aufschlußreich und - wenn auch nicht uneingeschränkt - einleuchtend, auch wenn ich mich manchmal sehr darüber ärgere, wie Heinsohn mit seinem Thema im Detail umgeht.
Zu gewinnen wäre - meine ich - möglicherweise eine nüchternere und realistischere Perspektive, als sie die beiden Interpretationsraster bieten, die ich oben genannt habe.
Ich kann leider aus chronischem Zeitmangel nicht noch ausführlicher werden, obwohl das eigentlich geboten wäre. Vielleicht konnte ja die obige Ultrakurzzusammenfassung das Interesse des einen oder der anderen hier wecken - vielleicht auch das Interesse, die eigene vorgefaßte Position mal aus einer anderen, ungewohnten und neuen Perspektive zu hinterfragen.
Der demographische Blickwinkel besticht für mich vor allem dadurch, daß sie an einer absoluten Basisvariable jeder Gesellschaft ansetzt (biologische Reproduktion der Gesellschaftsmitglieder selbst) und auf dieser Ebene versucht, Muster und Regelmäßigkeiten herauszuanalysieren. Das erklärt nicht alles, aber man kann darauf meiner Meinung nach nicht verzichten.
Keine Sozialanalyse - egal zu welchem Zweck und welcher Spezialfrage - kann es sich leisten, eine so basale soziale"Variable" (Wort paßt hier schlecht) zu ignorieren.
Für die, die sich dazu näher informieren wollen, poste ich unten einen aktuellen Link mit, der aber nur kurz, oberflächlich und unsystematisch bleiben kann.
Daher noch ein paar weitere Tips für Interessenten, die sich das nächer anschauen und sich ggf. einlesen wollen:
- hier im Archiv unter den Stichworten"Youth Bulge" und"Söhne und Weltmacht" suchen, das Thema wurde schon einige Male angesprochen, was allerdings bisher nie zu einer ernsthaften Diskussion geführt hat; dabei wurden auch Links gepostet;
- die Sendung"Das philosophische Quartett" vom 13.11.2005 anschauen - da war Heinsohn zu Gast und hat einige seiner demographischen Thesen vorgestellt, allerdings mehr unter anderen Blickwinkeln als dem des Islam (http://www.zdf.de/ZDFmediathek/inhalt/14/0,4070,2396334-5,00.html)
- Bei amazon Rezensionen zu den Büchern"Söhne und Weltmacht","Menschenproduktion" und"Die Vernichtung der weisen Frauen" lesen, am besten diese Bücher selber lesen (dort kann man dann ggf. auch weiteren Lit-Hinweisen nachgehen).
- als Ultrakurzeinstieg der Link unten (allerdings sehr, sehr kurz und unsystematisch).
Schönen Dank fürs Lesen.
Ich meine, diese Perspektive wäre unbedingt eine kritische Diskussion wert - schon deshalb, weil sie meiner Meinung nach dringend weiterentwickelt und differenziert werden müßte; soweit also erstmal mein Beitrag dazu.
Gruß
moneymind
<ul> ~ Junge Männer ohne Chancen auf gesellschaftliche Positionen als Unruhepotential</ul>

gesamter Thread: