- Hier im Wald wird still protestiert - Cujo, 26.09.2006, 21:10
Hier im Wald wird still protestiert
-->Hier im Wald wird still protestiert
Auf einer Farm im Hunsrück lebt Familie Sonnemann wie vor 100 Jahren
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Familie Sonnemann: Vater Friedmunt, 35, nennen sie unten in der Stadt Kauz oder Zausel, er ist ein Klapperdürrer mit gleichmütigem Blick, verfilzten Haaren und sackähnlichen Gewändern, fast immer barfuß unterwegs; Mutter Katrin, 36, so hager wie ihr Mann, leistet sich zu Sommersprossen und roten Haaren eher mal einen zusätzlichen künstlichen Farbtupfer, eine Brosche, einen Strich Lippenstift. Wanda, 8, Traumberuf Seiltänzerin, ist ein von morgens bis abends sprudelndes Mädchen mit schöner Zahnlücke, ihr Bruder Alwin, 5, ein knitzer, frecher Rotschopf und Astrid-Lindgren-Michel, nur eben nicht blond.
Auf der Königsfarm oberhalb des Moselstädtchens Bernkastel-Kues leben die Sonnemanns"im Einklang mit den Jahreszeiten", wie die Lokalzeitung schreibt. Was so viel heißt wie: Im Herbst tragen sie Schlamm in die Wohnküche, im Winter gehen sie frierend ins Bett, im Sommer klatschen sie Bremsen, und im Frühling, wenn morgens der Nebel vor ihrem Haus aus dem Tal steigt, ist das Aufwachen schöner als irgendwo sonst. Keine Nachbarn, kein Lärm, keine Autos. Vier Hektar Wald und Wiese. Leben wie im Urlaub. Aber auch: Leben wie vor hundert Jahren. Kein Strom, kein fließend Wasser, keine Heizung, kein Fernseher, kein Badezimmer, keine Klospülung, keine Waschmaschine, keine Zeitung, keine frischen Brötchen. Zum Schulbus stapfen Wanda und Alwin fünfzehn Minuten durch den Wald, näher ans Haus kommt man nur mit dem Traktor.
Die Königsfarm verdankt ihren Namen nicht königlichen Ausmaßen, sondern dem Namen des Vorbesitzers. Ein Häuschen von 60 Quadratmetern, unterteilt durch Schränke, Kachelofen und Vorhänge; die staubenden Wände aus lehmverbackenem Stroh, unterm Dach die Matratzen. Wasser wird in Kanistern aus einer Quelle herangeschleppt, zwischen Klohäuschen und Wohnhaus liegen dreißig Meter."Bequemlichkeit ist stinklangweilig", sagt Vater Sonnemann trotzig, seit zehn Jahren Hausherr auf der Königsfarm. Das Telefon stammt vom Vorbesitzer.
Die Sonnemanns verkörpern den letzten Rest der Alternativbewegung. Hier im Wald wird still protestiert. Ein Rückzug ins private Familienbiotop. Sehr deutsch, sehr ernst, ziemlich streng - vor allem sich selber gegenüber."Man muss nicht so viel wissen", kommentiert Friedmunt Sonnemann, dass er vom Mauerfall erst neun Tage später erfuhr. Vom 11. September hat er aus den Morgennachrichten erfahren, die ihn nur wegen des Wetterberichts interessieren. Vom World Trade Center hatte er noch nie gehört.
Mittagessen in der Wohnküche. Katrin Sonnemann brät Eierkuchen, in die sie Holunderblüten samt Stil taucht."Eierkuchen am Stil", triumphiert Alwin mit vollem Mund, an dessen Rücken sich Kater Michel reibt."Ich kann den Kindern in der Schule nie Süßigkeiten mitbringen", nölt Wanda."Manchmal Rosinen", sagt ihre Mutter."Aber das sind keine richtigen Süßigkeiten", erwidert Wanda. Nebenher bastelt sie mit Buntpapier Einladungskarten für ihren Geburtstag. Viele werden nicht kommen,"im Juli sind immer alle in Urlaub, wir gehen nie richtig weit weg", sagt Wanda."So ist das halt ohne Auto", meint ihre Mutter,"dafür habt ihr Sachen, die andere nicht haben.
Zum Beispiel selbst gepflückten Nachtisch. Vorm Haus stopft sich Alwin die Backen mit Walderdbeeren voll, pflügt dann auf seinem Traktor durchs Gelände, vorbei an blühenden Gärten und Beeten zu den Lehmhaufen, mit denen sein Vater das Waschhäuschen baut, und zum Wintergarten, wo die gefärbten Wollhäufen seiner Mutter liegen; zwischendurch findet er einen verletzten Vogel, den er ins Gebüsch zurücksetzt, und telefoniert - einen Tannenzapfen am Ohr - mit Wanda, bis die das Gespräch abbricht, weil sie mit ihrer Mutter zu Brigitte muss, die hochträchtig mit Zwillingslämmchen im Bauch im Stall steht. Die Kinder im nächsten Dorf, drei Kilometer weg, spielen andere Spiele aus einer anderen Welt, und es passiert selten, dass sie auf die Königsfarm kommen. Aber Einsamkeit ist eine erwachsene Empfindung.
"Im Winter ist es manchmal hart", sagt Katrin Sonnemann,"aber so haben wir es gewollt: mit der Natur leben." In Berlin Reinickendorf lernte sie Friedhofsgärtnerin. Die Stadt war ihr zu laut, zu schnell. Eine Kontaktanzeige in"Schrot und Korn" traf ihren Nerv:"Björn Borkson sucht Ronja Räubertochter zum Leben in Bärenhöhle." Sie hatte rote Räuberstochterhaare, die Bärenhöhle verhieß Ruhe in der Natur, und Björn Borkson war Friedmunt, der damals wirklich noch in einem Erdloch lebte, ein Reisiglager mit Plastikplane drüber.
Friedmunt Sonnemann ist Samenvermehrer. Auf seinen Äckern ringsum wachsen Puffbohnen und mexikanischer Kürbis, sibirischer Kohl und kretischer Oregano, Möhren, Wildtomaten, Lavendel und Erdbeermais. Sonnemann baut die"vernachlässigten Kulturpflanzen" ihrer Samen wegen an und vertreibt sie per Versand (www.dreschflegel-saatgut.de)."Den multinationalen Konzernen geht es nur um schnellen Ertrag, nicht um Artenvielfalt", doziert er am Ackerrand,"ihre Genbanken sind Flüchtlingslager. Samen gehören in den Boden." Sonnemann streicht zart über seine Gewächse."Ich will die Vielfalt der Pflanzen und ihre Qualitäten erhalten, vor allem Resistenz und Genügsamkeit."
Resistenz und Genügsamkeit - es klingt, als spreche er über sich. Sohn eines Wissenschaftlers und einer Therapeutin, drei Brüder, alle Akademiker - nur Friedmunt ist resistent gegen"dieses klassische gesellschaftliche Drehbuch", leidet unter der"verkopften Familie". Mit dreizehn kommt draußen im Wald etwas in ihm"zum Schwingen". Nach dem Abi, den Eltern zuliebe, jobbt er auf Biohöfen und baut dann sein Erdloch mit Plastikplane - die endgültige Abkehr von dieser Welt. Als er Katrin heiratet, legt er seinen Familiennamen ab. Die Eltern schenken ihm dann doch die Königsfarm.
Mit durchgedrücktem Rücken sitzt er auf einer alten Couch im Wohnzimmer, zwirbelt seine Barthaare. Zu seinen Füßen pickt ein Huhn Krümel."Ich habe keine Vorgesetzten. Ich habe mir meinen Platz und meine Aufgabe selbst ausgesucht und bin zufrieden." Und seine Kinder?"Wanda kann so werden wie ich, wie Katrin, wie ihre Oma, sie kann auch Seiltänzerin werden, wenn sie eine Basis für dieses Leben findet.""Und Alwin Computerexperte, wenn er will", sagt Katrin.
Schon ein seltsames Paar, die Sonnemanns. Sie schläft, wenn sie ihre"Mondtage" hat, im Bauwagen weit ab vom Haus; er verabscheut Maschinenlärm und schwärmt von Hopi-Indianern, die ihren Maisfeldern vorsingen. Und doch so klassisch in der Rollenverteilung als abwesender Vater und sich kümmernde Mutter. Er verbringt Tage allein auf den Äckern, verschwindet im Wald zum Meditieren in einer Schwitzhütte."Er hat an Menschen nicht so das Interesse, er trifft Elementarwesen", sagt seine Frau. Sie kümmert sich um die Kinder, das Essen, die Tiere, sie schmückt den Hof für Wandas Geburtstag und näht Taschen aus alten Musterbüchern. Sie geht auch schon mal ins Kino oder zum Frauenfrühstück in die Stadt, eine knappe Stunde zu Fuß durch den Wald.
Durch den donnert vielleicht schon in ein paar Jahren der Verkehr über eine neue vierspurige Bundesstraße, 550 Meter von der Königsfarm entfernt. Sonnemanns Einwand, die Straße würde seine Existenzgrundlage zerstören, wurde von Richtern abgelehnt: Sein Betrieb sei mit einem Jahreseinkommen von weniger als 60000 Mark nicht existenzfähig, deshalb könne er auch nicht in Existenznot geraten. Katrin Sonnemann sagt:"Da versucht man umweltfreundlich zu leben, und dann kriegt man einen Tritt in den Hintern." Friedmunt Sonnemann will kämpfen, aber er ahnt, dass seine Chancen minimal sind. Wenn die Straße kommt, müssen sie gehen. Wohin? Er zuckt mit den Schultern. Er weiß, für einen wie ihn und seine Familie gibt es nicht mehr viele Plätze.
<ul> ~ http://www.stuttgarter-nachrichten.de/stn/page/detail.php/175272?_seite=2</ul>

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