- Niemand weiß, was ein Mensch ist. - Cujo, 16.02.2007, 11:06
Niemand weiß, was ein Mensch ist.
-->"Niemand wusste genau, was ein Mensch ist.
Die Folterknechte des Mittelalters, geschickt, hartnäckig, sorgfältig, waren an diesem Rätsel gescheitert. Die Kliniker des achtzehnten Jahrhunderts, mit ihren Duschen, Wechselbädern, listig versteckten Fallen und Hindernissen auf dem Weg der Wandernden, das neunzehnte Jahrhundert mit seinen Zwangsjacken, Meister Freud mit seinen schlau ausgedachten Übertragungen und Ritualen, sie alle hatten ein Schlupfloch übrig gelassen.
Hinter dem Menschen war ein Dunkel, und beharrlich sandte es Signale aus, unvereinbar mit allem, was von ihm erwartet wurde.
Die modernen Staaten versahen ihn mit einer Personenkennziffer, speicherten ihn in Datenbanken, organisierten ihn in Arbeitsbrigaden oder begeisterten ihn in Massenversammlungen, industrialisierten mit seiner Hilfe arktische Bergwerke, unter Berufung auf seine angeblichen trotzkistischen Abweichungen, machten ihn zu verkrüppelten Zwergen in tropischen Hungergebieten oder zu lallenden Alkoholikern in U-Bahn-Stationen mit der feuchten Kälte der Unterwelt und der schweren Last der Felsmassen.
Die Physiologen bohrten ihre Silberdrähte in sein Gehirn und beobachteten, wie es auf mikroskopisch kleine, ganz genau dosierte elektrische Ströme reagierte, sie ließen den Orgasmus sich als elektronischen Sturm auf dem Oszillographen abzeichnen, nicht unähnlich einem epileptischen Anfall.
Und all das unter der merkwürdigen Voraussetzung, man wisse tatsächlich, was ein Mensch eigentlich sei.
Dabei strömten unablässig von überall her Botschaften herein, die zeigten, dass man sich irrte.
Immerzu widerlegte der Mensch den idiotischen Glauben des Menschen, dass er seine eigene Tiefe kenne.
...
Niemand weiß, was ein Mensch ist.
Denn niemand hat je einen Menschen von außen gesehen."
Lars Gustafsson:
Erzählungen von glücklichen Menschen,
Die Kunst, den November zu überstehen,
S. 51 ff

gesamter Thread: