- Arm durch Arbeit - die neue Ausbeutung (SPIEGEL ONLINE) - Albrecht, 21.10.2007, 18:17
Arm durch Arbeit - die neue Ausbeutung (SPIEGEL ONLINE)
-->SPIEGEL ONLINE - 08. Oktober 2007, 11:45
URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,509965,00.html
SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT
Arm durch Arbeit - die neue Ausbeutung
Von Michael Sauga
Viele Arbeitnehmer erleben die Globalisierung als Verlustbringer:
Wohlstand ist für sie ein Traum,
der sich mit ehrlicher Arbeit nicht mehr verwirklichen lässt.
Das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft schwindet.
Mit vielem hat sich Matthias Rolle arrangiert in seinem langen Berufsleben:
Die quälenden Nachtschichten von abends elf bis morgens um sieben, das stundenlange Stehen mit Wollpullover und Thermoweste in einer fünf Grad kalten Kühlhalle,
der ständige Blutgeruch von frischem Fleisch.
Auch dass er als Schichtarbeiter während der Woche Frau und Kind kaum sieht,
hat er gelernt zu ertragen.
"Das Familienleben", sagt er,"findet eben am Wochenende statt."
Mit einem aber mag der Dresdner Fleischer sich nicht abfinden.
Er arbeitet nicht selten 40 Stunden die Woche und mehr,
aber es kommt immer weniger dabei heraus.
Matthias Rolle legt einen dreifach gefalteten DIN-A4-Zettel auf den weißen Campingtisch.
Es ist seine Verdienstbescheinigung.
DDP
Bergleute in Lebach-Hoxberg:
Eine neue Unterschicht von Armutslöhnern wächst heran
Brutto bekommt er im Monat rund 1600 Euro.
Nach allen Abzügen
bleiben unter dem Strich gut 1200 Euro übrig.
Das ist kaum mehr, als mancher Hartz-IV-Empfänger
nach Hause bringt.
Sein Gehalt ist schon seit Jahren nicht gestiegen,
gleichzeitig werden Strom und Lebensmittel immer teurer.
"Wohlstand ist ein Traum", sagt er,"
der mit ehrlicher Arbeit nicht mehr zu verwirklichen ist."
Die triste Bilanz des Schichtarbeiters
deckt sich mit der Erfahrung von Millionen Menschen im Land.
Sie arbeiten hart und kommen doch kaum über die Runden.
Was sie verdienen, reicht immer weniger zum Leben.
Wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte
haben die Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren
materielle Einbußen hinnehmen müssen.
Bei den meisten stagniert der Verdienst seit Jahren.
Immer mehr müssen wieder 40 Stunden oder mehr die Woche arbeiten,
immer weniger haben Anspruch auf betriebliche Sonderleistungen
wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld.
Seit 15 Jahren sind die realen Bruttoverdienste
der Arbeitnehmer praktisch nicht mehr gewachsen.
Partiell rechtsfreie Wildwest-Ã-konomie
Wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe haben
die abhängig Beschäftigten das vergangene Jahrzehnt als Verlustphase erlebt.
Einkommen, Jobs, Abgaben: Überall stand ein dickes Minus vor der Bilanz.
Das galt besonders für jene Werktätigen,
die als Bauhelfer, Bandarbeiter oder Lkw-Fahrer
auf den unteren Etagen der Verdienstskala angesiedelt waren.
Dieser Text stammt aus dem Buch
"Wer arbeitet, ist der Dumme" von Michael Sauga,
das am 9. Oktober im Piper Verlag erscheint. 240 Seiten, 14,00 Euro.
Sie mussten mit ansehen,
dass sie am Monatsende oft kaum mehr im Portemonnaie
hatten als mancher Fürsorgebezieher.
Sie mussten erleben, wie sich ihre einst mit Tarifverträgen
und Betriebsvereinbarungen geregelte Arbeitswelt
in eine partiell rechtsfreie Wildwest-Ã-konomie verwandelte.
Sie mussten hinnehmen,
dass sie in vielen Berufen nur noch als Zeitarbeiter,
Minijobber oder Scheinselbstständige gefragt waren.
Der Niedriglohnsektor, der lange Zeit als unterentwickelt galt, wächst seit Jahren.
Mittlerweile arbeiten nach einer Studie der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit
fast vier Millionen Deutsche zu Löhnen,
die weniger als zwei Drittel des Durchschnittsverdienstes erreichen.
Das ist ein Zuwachs von zehn Prozent innerhalb weniger Jahre.
Bei manchen Armutslöhnern reicht das Gehalt nicht mal mehr aus,
wenigstens das Existenzminimum zu decken.
Fast eine halbe Million Bundesbürger verdienen
mit ihrer Vollzeitstelle so wenig Geld,
dass sie zusätzliche finanzielle Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld II benötigen.
DIE WAHRE UNTERSCHICHT:
ABHHÄNGIG BESCHÄFTIGTE ALS VERLIERER
Fotostrecke starten: Klicken Sie auf ein Bild (9 Bilder)
Nicht nur,
dass immer mehr Deutsche in die Zone materieller Bedrängnis abrutschen,
sie finden auch immer seltener wieder heraus.
Wer einmal in die Verliererregion aus Niedriglohnjobs und Hartz IV eingetaucht ist, bleibt ihr mit einiger Sicherheit dauerhaft erhalten,
zeigt eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Zwei Drittel aller Armutslöhner sind auch fünf Jahre später noch Armutslöhner, lediglich ein Drittel schafft den Sprung zu einem besser bezahlten Job.
Der Exportweltmeister darf sich damit einer weiteren,
eher fragwürdigen internationalen Spitzenstellung rühmen:
In keinem anderen Land Europas finden Geringverdiener
so schlechte Aufstiegschancen vor wie hierzulande.
Es geht um mehr als ein paar Euro
Längst hat die Erosion der Arbeitnehmereinkommen das soziale Klima im Land verändert.
In der Unterschicht breitet sich das Gefühl aus,
dauerhaft von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt zu sein.
In der Mittelschicht wiederum fürchten viele,
möglicherweise bald selbst in die gesellschaftliche Verliererregion abzusteigen.
Von einem"Klima der Verunsicherung" sprechen Soziologen,
seit die Entlassungswellen der großen Konzerne auch die Büroflure entvölkern
und
sich vermehrt Angestellte
oder
kleine Unternehmer in den Büros der Schuldnerberatungen drängen.
72 Prozent der Deutschen beunruhigt,
dass selbst in Firmen, denen es gut geht,
die Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind.
Es geht um mehr als um ein paar Euro zusätzlich in der Lohntüte.
Es geht um das Vertrauen in die ökonomische und
gesellschaftliche Grundordnung der Republik.
Noch vor wenigen Jahren galt die soziale Marktwirtschaft
als Garant für ökonomisches Wachstum und gesellschaftlichen Ausgleich.
Heute glauben nach Erkenntnissen der Meinungsforscher
nur noch 28 Prozent der Bundesbürger, dass es gerecht zugeht im Land.
Wo die Ursachen für die verbreitete Unzufriedenheit zu suchen sind,
verrät die amtliche Lohn- und Verteilungsstatistik.
Mitten
im stärksten weltwirtschaftlichen Aufschwung seit Jahrzehnten
sind Deutschlands Arbeitnehmer
einer Zangenbewegung ausgesetzt,
die viele als Anschlag auf den eigenen Lebensstandard erleben.
Zum einen nimmt der Staat den Arbeitnehmern
erhebliche Teile ihres Einkommens in Form von Steuern und Beiträgen ab,
um seine Sozialsysteme zu finanzieren.
Das mindert den Nettoverdienst.
Zum anderen schwächt der globale Kapitalismus
die wirtschaftliche Position der abhängig Beschäftigten.
Was Karl Marx bereits vor 150 Jahren
als"rasende Jagd der Bourgeoisie über die ganze Erdkugel" beschrieb,
hat heute eine neue Etappe erreicht.
Die Opfer sind die Arbeitnehmer in den alten Industrieländern,
die ohnmächtig mit ansehen müssen,
wie sie die neue Weltwirtschaftsordnung
einer bislang unbekannten Konkurrenz aussetzt - und ihre Bruttolöhne drückt.
Der wirtschaftliche Aufstieg
Chinas und Indiens
sowie der Fall des Eisernen Vorhangs
führen dem Weltmarkt ein Millionenreservoir billiger Arbeitskräfte zu.
Konkurrenz belebt das Geschäft,
aber sie drückt die Preise auch diejenigen für die Ware Arbeitskraft.
Wer bislang als einfacher Arbeiter in der Textil-, Elektronik- oder Gebrauchsgüterindustrie Europas oder Nordamerikas sein Auskommen fand,
sieht sich nun oft vor eine höchst unangenehme Alternative gestellt:
Entweder er akzeptiert einen niedrigeren Lohn oder sein Job wandert ins Ausland.
In vielen der alten Industrienationen
erwies sich die Globalisierung für die Arbeitnehmer so als
"giftiges Gemisch aus Ungleichheit und niedrigen Löhnen",
wie der liberale Londoner"Economist" feststellt.
Kaum irgendwo aber war der Anpassungsdruck so groß wie in der Bundesrepublik,
wo die Arbeitskosten im Gefolge
der deutschen Vereinigung auf ein weltweites Spitzenniveau geklettert waren.
Dan Adel
SPIEGEL-Titel (Anfang April 2007):"Lohnkostenwunder"
auf Kosten der Arbeitnehmer
Es begann jener Prozess,
den Ã-konomen auf den verniedlichenden Begriff
der"Lohnzurückhaltung" getauft haben.
Das klingt nach
vornehmer Bescheidenheit und einsichtsvollem Verzicht.
Tatsächlich büßten die Arbeitnehmer
weit mehr von ihrem Lebensstandard ein, als nötig gewesen wäre.
Denn nach den Faustregeln der Ã-konomie
hätten die Einkommen im vergangenen Jahrzehnt
um 2,5 Prozent pro Jahr steigen dürfen.
Um diesen Wert nämlich legte die Wirtschaftsleistung zu,
die ein Beschäftigter im Schnitt erzeugte.
Tatsächlich aber sanken
die realen Nettoverdienste
pro Arbeitnehmer im Schnitt um 0,5 Prozent jährlich.
Die Differenz strichen die Unternehmen und der Staat ein.
Ihr Gewinn addierte sich,
über das gesamte zurückliegende Jahrzehnt gerechnet,
auf die ansehnliche Summe von rund 250 Milliarden Euro.
Immerhin: Was die Beschäftigten einbüßten, nutzte der Wirtschaft insgesamt.
So gering war der Lohnanstieg in den vergangenen Jahren,
dass er dauerhaft hinter dem Wachstum der Produktivität zurückblieb;
ganz anders als in Ländern wie Frankreich, Italien oder den USA.
Ausgerechnet die deutschen Arbeitnehmer: ein Standortvorteil
Entsprechend wurden die deutschen Unternehmen
auf den Weltmärkten immer wettbewerbsfähiger.
Maschinenbau, Chemie, Autoindustrie:
die Vorzeigebranchen der Republik nutzten die günstige Entwicklung
der heimischen Arbeitskosten, um von einem Exportrekord zum nächsten zu eilen.
Erst wuchsen die Umsätze im Auslandsgeschäft, dann legten die Investitionen im Inland zu,
und mittlerweile zeigt auch der notorisch erstarrte Arbeitsmarkt ungewohnte Lebenszeichen.
Vom Mittelstand bis zur Großindustrie kündigen
die Unternehmen mittlerweile an, wieder neues Personal einstellen zu wollen.
Von einem"Lohnkostenwunder" sprechen mittlerweile die Ã-konomen
und signalisieren damit zweierlei:
Erstens,
die jüngste wirtschaftliche Erholung kommt kaum weniger überraschend
als der mirakulöse Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Weltkrieg.
Zweitens,
die Belebung ist vor allem jenen zu verdanken, die mit ihrem Konsum- und Wohlstandsopfer
die Kostenseite der heimischen Unternehmensbilanzen wieder in Ordnung gebracht haben.
Ausgerechnet die deutschen Arbeitnehmer,
die jahrelang als zu bequem,
zu unflexibel und zu teuer verspottet wurden,
gelten plötzlich wieder als Standortvorteil.
Ein Trost ist das nicht - zu ungleich sind die Früchte des Aufschwungs verteilt.
Während Aktienkurse,
Gewinne und Managergehälter explodieren,
haben
die Lohnzuwächse in den vergangenen Jahren
vielfach nicht einmal die Preissteigerung ausgeglichen.
"Wenn wir es klassenkämpferisch ausdrücken
, haben wir in den letzten Jahren eine Umverteilung von Arbeit zu Kapital gesehen", sagt der Frankfurter Commerzbank-Volkswirt Ralph Solveen.
Was die Arbeitnehmer nicht weniger erboste:
Die sogenannte Deregulierung der Wirtschaft fand vor allem bei ihnen statt.
Mehr Zeitarbeit, mehr befristete Beschäftigung,
weniger Kündigungsschutz:
die Regeln für das abhängige Beschäftigungsverhältnis
wurden in den vergangenen Jahren auf vielerlei Weise gelockert.
Bei Freiberuflern wie Architekten oder Anwälten
dagegen gelang es nicht einmal,
die staatlichen Preis- und Honorarordnungen abzuschaffen.
Vom Sozialstaat über den Tisch gezogen
Nirgends herrsche so wenig Wettbewerb
wie in den privilegierten Schutzzonen akademischer Berufe,
pflegte etwa der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement zu klagen.
Die Einbußen der Arbeitnehmer waren
zu einem guten Teil der schlechten Konjunktur und der Globalisierung geschuldet.
Für den vierten Schwundfaktor aber sorgte der Staat.
Um das ausgedehnte Netz
der sozialen Sicherung zu finanzieren, erhöhte er die Beiträge für
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
und
bat die Bevölkerung zusätzlich
durch höhere Umsatz- und Mineralölsteuern zur Kasse.
Wie ein Keil schoben sich die staatlichen Abgaben
zwischen die Brutto- und Nettoverdienste
und sorgten dafür, die ohnehin geringen Lohnzuwächse weiter einzudampfen.
Die Beschäftigten trugen zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaates
mehr bei als andere Bevölkerungsgruppen
und schnitten finanziell oft schlechter ab als diejenigen, die von ihren Beiträgen lebten.
In der Arbeitswelt mussten die abhängig Beschäftigten die Kosten der Globalisierung tragen.
Noch bitterer aber war für sie die Erkenntnis,
dass sie auch im Sozialstaat über den Tisch gezogen wurden.
© SPIEGEL ONLINE 2007

gesamter Thread: