- Deflation und Preismessung. Aktueller denn je. - Bart, 15.06.2000, 09:43
- Lächerlich. Alan Greenspan will Europäern beibringen, wie man...mkT - Toro, 15.06.2000, 10:18
- Re: zum Thema Zinsen und Wirtschaft - NickLeeson, 15.06.2000, 15:25
- Lächerlich. Alan Greenspan will Europäern beibringen, wie man...mkT - Toro, 15.06.2000, 10:18
Deflation und Preismessung. Aktueller denn je.
Datum siehe unten:
Eine Studie der Bundesbank belegt, daß die Preissteigerungsraten viel geringer sein könnten. Droht damit doch die Deflation?
Falsche Signale aus Frankfurt
Claus Noé
Das D-Wort gehört in die Schublade", meinte Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer noch im Januar. Mit diesem Verdikt versuchte er die Warnungen seines amerikanischen Kollegen Alan Greenspan vor Deflationsgefahren in Europa auf den Index der Rechtgläubigen zu bringen. Greenspan hatte kurz zuvor kritisiert, daß die statistischen Inflationsindizes in Europa, namentlich der deutsche, die Preissteigerungen höher ausweisen, als sie tatsächlich sind. Das ist bei extrem niedrigen Inflationsraten ein gefährlicher Mangel. Das falsche Preissignal der amtlichen Statistik verführt zu Inflationsbekämpfung, wenn es gar keine Inflation gibt. Das dient nicht der Stabilität, sondern führt zu deflatorischen Prozessen. Folge: Unternehmenszusammenbrüche und noch mehr Arbeitslosigkeit.
Nun drängt das D-Wort doch aus der Schublade. Die Bundesbank veröffentlichte diese Woche eine über 200 Seiten starke Untersuchung ihrer volkswirtschaftlichen Forschungsgruppe mit alarmierenden Ergebnissen."Es kann... nicht ausgeschlossen werden, daß der systematische,Fehler' bei der Inflationsmessung in,normalen' Zeiten insgesamt rund 3/4 Prozentpunkte pro Jahr beträgt." Und:"In Zeiten allgemein rückläufiger Preise könnte der Bias allerdings größer sein, denn dann greifen die Vorgaben der amtlichen Statistik im Durchschnitt weniger gut." Von Dezember auf Januar stiegen die Verbraucherpreise in Westdeutschland nicht. Wenn aber die statistische Unschärfe fast einen Prozentpunkt beträgt, dann ist es durchaus möglich, daß die Null-Linie schon unterschritten ist!
Der Chefvolkswirt der Bundesbank, Otmar Issing, hatte schon vor Veröffentlichung des Gutachtens dem abwiegelnden Tietmeyer mit der Bemerkung zu assistieren versucht:"Erst wenn die Preissteigerungsrate auf ein Prozent sinkt, bewegen wir uns im Unschärfebereich." Als Issing sich festlegte und Deflationsgefahren abwimmelte, hatte er die Verbraucherpreise vom Dezember 1997 vor Augen; sie waren um 1,7 Prozent gestiegen. Im Januar 1998 aber stiegen sie in Westdeutschland nur um 1,1 Prozent, davon kamen 0,4 Prozent nicht aus den Märkten, sondern wurden durch administrierte Preiserhöhungen des Staates erzwungen.
Johannes Hoffmann, der Autor der brisanten Studie, identifiziert vier systematische"Fehler", die zur überhöhten Ausweisung der aktuellen Preissteigerungen führen:
- Veraltete Warenkörbe, die nicht zureichend berücksichtigen, daß Verbraucher auf preiswertere Produkte, etwa Konserven statt Frischobst, ausweichen.
- Qualitätsverbesserungen von Produkten, deren höherer Preis als Inflation gemessen wird.
- Neue, im Warenkorb der Statistiker nicht enthaltene Produkte, deren Preis nach der Markteinführung sinkt. Man denke an Computer oder Unterhaltungselektronik.
- Änderungen der Kaufgewohnheiten, wenn also Verbraucher zunehmend in preiswerteren Geschäften kaufen, werden nur mit großer Verzögerung im Preisindex abgebildet, weil die Statistiker die Preise immer in den gleichen Geschäften erheben.
Manche dieser Mängel sind schwer zu beseitigen. Es wäre ungerecht, dafür die amtliche Statistik zu beschimpfen. Aber mit gutem Grund endet die Untersuchung von Bundesbank-Volkswirt Johannes Hoffmann mit einer Rüge:"Während sich in den USA berühmte Ã-konomen... vielfach nicht zu schade sind, sich,technischen Problemen' der Preis- und Produktivitätsmessung zu widmen, gelten in Deutschland Anstrengungen dieser Art anscheinend oft als langweilig oder gar als unwürdig." Es ist schon was dran: So wie Deutschlands universitäre Ã-konomenzunft von den großen amerikanischen Kollegen lernen könnte, so hätte die Bundesbank auch schon im vergangenen Jahr die Warnungen Alan Greenspans vor deflationären Risiken ernst nehmen sollen.
Mal sehen, was rauskommt, wenn Direktorium und Zentralbankrat, wie vorgesehen, Hoffmanns Untersuchung zum Preisindex beraten. Ein möglicher Marsch in die Deflation kann nicht früh genug abgebrochen werden. Man wird Genaueres wissen, wenn Westdeutschlands Verbraucherpreisindex weiterhin nur mit Raten von um ein Prozent steigt. Denn dann signalisiert er nicht Stabilität, sondern Deflation. Mit gutem Grund nämlich definiert die Bundesbank selber Verbraucherpreissteigerungen von bis zu zwei Prozent als unvermeidlich, als Preisstabilität.
Sicher ist schon jetzt: Die von der Bundesbank verlangten Realzinsen für Notenbankkredite liegen nahe bei 3,3 Prozent; das ist kontraktiv, keinesfalls wachstums- und beschäftigungsfördernd. Die eher marktbestimmten Kapitalmarktzinsen haben angesichts der wirtschaftlichen Lage, der Ostasienkrise bereits nachgegeben. Die von der Bundesbank verordneten Zinsen nicht.
Im übrigen ist es jetzt schon falsch, wenn Bundesbanker von einem Rekordtief der Notenbankzinsen reden: Tatsächlich lagen die kurzfristigen Realzinsen im Januar in Deutschland deutlich höher als im Durchschnitt der Jahre 1996 und 1997. Genau bei 2,14 Prozent - wenn man den Umstand vergißt, daß der Preisindex die Lebenshaltungskosten überhöht ausweist. Folgt man Hoffmanns Untersuchung, so liegen die kurzfristigen Realzinsen bei hohen 3 Prozent. Präsident Tietmeyer behauptete noch im Januar:"Die deutsche Geldpolitik verursacht gewiß keinen Mangel an Liquidität." Mangel in einer Marktwirtschaft aber zeigt sich am Preis - und seither ist das Notenbankgeld real noch teurer geworden, weil die Bundesbank den Zins trotz sinkender Preisraten nicht gesenkt hat.
Es liegt auf der Hand, daß sich bei diesem hohen administrierten Preis fürs Geld Wirtschaft und Verbraucher zurückhalten: Die einen, weil sie nicht erwarten, bei weiter sinkenden Preisen ihre Zinskosten verdienen zu können, die anderen, weil sie auf weitere Preissenkungen hoffen und Käufe zurückstellen. Die deutsche Tochter der Tokai-Bank, durch die"deflationäre Lücke" in Japan sensibel geworden, schreibt in ihrer jüngsten Lageanalyse:"Eher kann Deflation demnächst ein Thema sein." In Europa, wohlgemerkt. Und die Bundesbank bremst durch Untätigkeit. Führt der starre Blick auf ungeliebte Euro-Kandidaten (Italien beispielsweise) an der Lage der Wirtschaft vorbei?
Auch die öffentlichen Haushalte stehen auf der Bremse. Seit Jahren gehen von der Finanzpolitik keine positiven Impulse auf die Konjunktur aus, denn alle Regierungen in Euro-Land haben, um das politisch fetischisierte Euro-Kriterium von maximal drei Prozent Nettoneuverschuldung zu erreichen, Ausgaben gekürzt und manche auch Steuern erhöht. Deutschlands Fiskalisten haben das Ganze am Ende des vergangenen Jahres noch auf die Spitze getrieben: Die öffentlichen Investitionen, ein Kernelement der Angebotspolitik, sind"ausweislich der Zahlen des Statistischen Bundesamtes im gesamten vergangenen Jahr um 10 Prozent gesunken, im vierten Quartal allein um 18 Prozent". So das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in seiner Analyse, warum Deutschland überraschenderweise das Dreiprozentkriterium 1997 unterschritten hat. Das geht aber nur einmal, ist jedenfalls nicht nachhaltig.
Lassen wir noch einmal die Zeugen der japanischen Tokai-Bank zu Wort kommen:"Tatsächlich haben die Bemühungen, die Maastricht-Kriterien bis spätestens 1997 zu erreichen, mit zu dem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen."
In dieses gesamtwirtschaftliche Bild gehört auch die neueste Hiobsbotschaft des Statistischen Bundesamtes: Die für das Wachstum der Binnenwirtschaft maßgebliche gesamtwirtschaftliche Bruttolohnsumme - also vor Abzug der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge - ist in Westdeutschland im vergangenen Jahr real um 2 Prozent gesunken, die Nettoreallöhne pro Kopf schrumpften um 2,2 Prozent, erstmals seit Existenz der alten Bundesrepublik. Auch wenn man die Meßfehler im Preisindex berücksichtigt, bleibt immer noch ein Lohnminus von gut einem Prozent. Man landet schnell in deflationären Prozessen, wenn bei niedrigsten Preisraten die Bruttostundenlöhne weiter hinter dem Zuwachs der Produktivität zurückbleiben. Niemand rechnet daher mit einem nennenswerten Abbau der Arbeitslosigkeit 1998. Man sieht, Lohnkürzungen schaffen keine Arbeitsplätze, negative Lohnpolitik gar führt zu Wachstumsund Beschäftigungsverlusten.
Die gegenwärtige wirtschaftspolitische Mixtur hat es in sich: Ein real steigender Notenbankzins, eine kontraktive Finanzpolitik sowie die real sinkende Kaufkraft der Löhne sind der Stoff, aus dem bei extrem flacher Preisentwicklung Deflation wird. Die Macher sitzen in Bonn und in Frankfurt, so entsteht kein Aufschwung, der ihnen noch helfen könnte.
Unter www.zeit.de/links/ finden Sie weitere Informationen über die Bundesbank
© beim Autor/DIE ZEIT 1998 Nr. 12
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