- Die Angst - Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken - BossCube, 23.04.2001, 22:17
- Mit Panik hat das noch gar nix zu tun - Rumpelstilzchen, 23.04.2001, 22:35
- die 0190-Nummer gefällt mir... - Cosa, 24.04.2001, 00:12
- @Boss & Rumpel / Angst - Tobias, 23.04.2001, 23:37
- Mit Panik hat das noch gar nix zu tun - Rumpelstilzchen, 23.04.2001, 22:35
Die Angst - Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
Die Angst vor der Angst
Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
Seit einigen Wochen gehören Börsenmakler und Investmentbanker in New York zu jenen geplagten
Geschöpfen, die von Partygästen und Zufallsbekanntschaften abendelang mit Fachfragen gelöchert
werden. Wie das denn nun sei mit den Kursen und den Fonds und den Langzeitperspektiven, wo das
Geld denn jetzt noch sicher wäre. Das ist ungefähr so höflich, wie wenn man einem Arzt am
Bartresen die Zunge herausstreckt und ihn bittet, doch mal nachzusehen, ob die geschwollenen Dinger
da hinten eine Mandelentzündung sein könnten. Doch wer Angst hat, schert sich nicht um Etikette.
Seit letztem Herbst hat sich die Angst ganz langsam ausgebreitet. Erst kamen die Verunsicherungen.
Die Kursstürze. Das Wahldebakel von Florida. Die Massenentlassungen. Dann prognostizierten die
Analysten eine düstere Zukunft und die Massenmedien griffen das Thema auf. Das zeigt nun
Wirkung. Selbst in den erlauchten Kreisen, in denen man sich auch in schlechten Zeiten keine Sorgen
machen müsste, wird plötzlich heimlich gespart. In den New Yorker Edellokalen wie Bouley’s Bakery
oder Balthazar, die sich noch letztes Jahr damit rühmten, jeden Tag bis zu 2000 Anfragen für eine
Reservierung zu bekommen, kann man jetzt auch kurzfristig einen Tisch ergattern. In den
Designerboutiquen auf der Fifth Avenue und am West Broadway verlieren sich die wenigen Kunden
zwischen den minimalistischen Regalen. Beim Weinhändler kann man bei den teuren Flaschen schon
mal handeln.
Zugegeben, es sieht nicht gut aus für die amerikanische Wirtschaft - auch wenn das Platzen der
Dotcomblase und der Niedergang der so genannten Neuen Märkte lediglich die längst überfällige
Rückkehr zu Maß und Vernunft darstellen mögen. Das Unwort Rezession lauert als Menetekel in den
Wirtschaftsteilen der Zeitungen und Magazine, die jede Woche neue Gräuelnachrichten verbreiten. Im
März gingen schon wieder 86000 Arbeitsplätze verloren. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis sich die
Aktienmärkte wieder auf den Stand vom letzten Jahr erholen. Laut Umfrage des Gallup-Instituts
haben immer weniger Amerikaner Vertrauen in die Wirtschaft ihres Landes. Selbst George W.Bush,
von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet, hat jetzt zugegeben, dass die Dinge nicht nur zum Guten
stehen. Auf schlechte Nachrichten folgt eben schlechte Laune. Und die sollte man nicht
unterschätzen.
Teuflische Launenhaftigkeit
Angesichts der Unkenrufe begab sich Finanzminister Paul O’Neill kürzlich in das Studio von CNN, um
eifrig zu verkünden, dass von Rezession keine Rede sein könne. Aus gutem Grund. Keine Wirtschaft
ist so anfällig für kollektive Launen wie die der USA, denn sie beruht laut New York Times zu zwei
Dritteln auf einem Gemütszustand, der von den Wirtschaftsnachrichten inzwischen als legitimer
Indikator für die finanzielle Lage der Nation angeführt wird: Consumer Confidence. Ein großartiger
Begriff, der die Mischung aus Selbstbewusstsein und Gottvertrauen beschreibt, die ein gut gefülltes
Bankkonto verleiht. Consumer Confidence sorgt dafür, dass Geld im Umlauf bleibt und die Wirtschaft
am Leben. Doch der Teufelskreis der Self Fulfilling Prophecy hat sich schon geschlossen.
Das wirkliche Problem der mangelnden Consumer Confidence sind aber nicht nur die mageren
Wirtschaftsdaten, sondern eine Angstkultur, die sich über die letzten Jahre kontinuierlich
weiterentwickelt hat. Ausgerechnet während der optimistischen Clintonjahre entdeckten die
Massenmedien die Angst als Verkaufsargument. Irreale Bedrohungen werden immer häufiger zu
allgemeinen Gefahren aufgebauscht: Exotische Krankheiten wie das Ebolafieber oder der
West-Nile-Virus; Extremfälle wie amoklaufende Schulkinder und Rechtsradikale; Alltagsgefahren wie
die unzähligen Viren und Bakterien, gegen die neue Reinigungsprodukte angepriesen werden; bisher
unbekannte Zahnfleischerkrankungen oder Nervenleiden, für die Medikamente entwickelt wurden;
Konstruktionsfehler, die Luxusgüter wie Geländewagen oder Klimaanlagen in Todesfallen
verwandeln. Marktschreierisch kündigen die Nachrichtenmagazine der Fernsehsender ihre neuesten
Entdeckungen an. Floskeln wie „ein Problem, das es öfter gibt, als Sie glauben“ oder „Sie könnten der
Nächste sein“ sollen vertuschen, dass hier über Phänomene berichtet wird, die nur wenige betreffen.
Wie weit diese Verzerrungen gehen, bewies eine Studie des Journalisten Bob Garfield, der ein Jahr
lang die Berichterstattungen von Washington Post, New York Times und USA Today auswertete.
Nachdem er sämtliche Krankheitsfälle von Migräne bis Krebs zusammengezählt hatte, kam er zu dem
Ergebnis, dass 543 Millionen Amerikaner schwer erkrankt sein müssten. Nicht schlecht für ein Land
mit 280 Millionen Einwohnern.
Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.
Da wurden in der so genannten Me Decade der siebziger Jahre die Neurosen entdeckt, die Zipperlein
des zarten Egos. In den Achtzigern gab es das Chronic Fatigue Syndrome als Folge der
arbeitswütigen Yuppiegesellschaft. Die zunehmende Vernetzung während der neunziger Jahre
brachte die multiple Persönlichkeit und die verschüttete Erinnerung in die Diskussion. Und jetzt, an der
vermeintlichen Schwelle zur großen Weltwirtschaftskrise, kommt eben die Angst. Ihre Extremform,
die Phobie, wurde von Time Magazine vor kurzem mit einer Titelgeschichte zum nationalen Problem
geadelt.
Die Gesellschaft reagiert auf die psychologischen Massenphänomene meist mit Selbstmedikation, wie
der Drogenkonsum im Jargon der Psychologie genannt wird. In den siebziger Jahren versuchte man
sich vom Selbstbezug der Neurosen mit Psychedelika wie LSD zu befreien. Gegen die
Ermüdungserscheinungen der Achtziger wurde Kokain eingesetzt. Die vermeintliche Klarheit des
Ecstasy-Rausches sollte gegen die Verwirrungen der Neunziger helfen. Und heute vermelden die
Medien eine epidemische Verbreitung des Schmerzmittelmissbrauchs.
Das künstliche Opiat Hydrokodon, in Amerika gegen Rezept als Vicodin erhältlich, hat sich zum
absoluten Kassenschlager der Pharmaindustrie entwickelt. Wie ein weicher Kokon aus Sicherheits-
und Glücksgefühl umhüllt der sanfte Rausch das angstgeplagte Hirn. Fernseh- und Filmstar Matthew
Perry musste wegen seiner Sucht schon eingeliefert werden. Die Schauspielerin Melanie Griffith führt
im Internet Tagebuch über ihren Entzug. Der Rapper Eminem ließ sich eine Vicodin-Tablette auf
seinen Arm tätowieren. Teenager schlucken die Pillen auf Parties und Konzerten. Und die
Notaufnahmen der Krankenhäuser vermelden einen sprunghaften Anstieg der Überdosen durch
Schmerzmittel.
Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Amerikas, dass Angst eine Wirtschaftskrise beschleunigt.
Auf dem Höhepunkt der Great Depression erkannte der neu gewählte Präsident Franklin D.Roosevelt
1933 die Gefahr der kollektiven Panik: „Wir sollten vor nichts Angst haben, außer vor der Angst“,
proklamierte er in seiner Antrittsrede. Er wusste, dass Reformprogramme allein nicht ausreichen
würden, die verängstigte Bevölkerung zu beruhigen. Und so behandelte er das Land wie einen
Patienten. Immer wieder versammelte sich die Nation vor den Radios, um seinen Fireside Chats zu
lauschen, den tröstenden Worten eines Landesvaters, der seine Bürger an einen virtuellen Kamin bat,
um sie von ihren Ängsten zu therapieren.
Was Roosevelt instinktiv verstand, hat die New York University nun bewiesen. Anfang April haben
die Wissenschaftler des neurologischen Instituts eine Forschungsarbeit vorgelegt, die nachweist, dass
sich die Angst längst von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst hat. Waren Angst und Schmerz in
Urzeiten Schutzmechanismen, um das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu erlernen, so hat die
Studie ergeben, dass im modernen Menschen auch Gefahren, die lediglich vermutet oder von Dritten
kolportiert werden, jene Zentren des Gehirnes aktivieren, die einstmals nur auf direkte Erfahrungen
reagierten. Wenn sich die virtuellen Ängste aber schon biologisch manifestieren, muss man sie auch
ernstnehmen. Erst recht, wenn sie ganz realen Schaden anrichten. ANDRIAN KREYE
Aus der Süddeutschen von heute.
J.
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