- Die Angst - Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken - BossCube, 23.04.2001, 22:17
- Mit Panik hat das noch gar nix zu tun - Rumpelstilzchen, 23.04.2001, 22:35
- die 0190-Nummer gefällt mir... - Cosa, 24.04.2001, 00:12
- @Boss & Rumpel / Angst - Tobias, 23.04.2001, 23:37
- Mit Panik hat das noch gar nix zu tun - Rumpelstilzchen, 23.04.2001, 22:35
Mit Panik hat das noch gar nix zu tun
Die Leute sind verunsichert, ärgern sich über ihre Verluste, manche ziemlich stark.
In solchen Zeiten wollen sie natürlich bestärkt werden, das ihre ursprünglichen Annahmen von steigenden Kursen doch richtig sind. Also ein hübsches Beispiel, wie kognitive Dissonanz abgebaut werden soll. Soziale Unterstützung bietet sich da besonders an.
Da kommt mir beim Schreiben übrigens eine tolle Idee, wie man diese Verunsicherung nützen konnte.
Wir gründen einen Es-wird-alles-gut-Klub, wo zu jeder Befürchtung gegen ein geringes Entgelt ein Heiko Thieme Spruch angeboten wird.
Bsp:
Anleger:Herr Doktor, ich fürchte, ich habe an der Börse Mist gebaut.
Klubantwort: Der einzige Mist ist der Pessimist.
Das ganze könnte man mit einer 0190 Nummer abrechnen.
Aber zurück zum Thema: Mit Panik hat das nix zu tun. Panikattacken sind zwar meines Wissens die Störung mit der größten Zunahme, aber das läuft schon seit mehreren Jahren, also auch schon zu den Mega-Bullenzeiten.
Das mit den psychoaktiven Substanzen ist auch sehr, sehr weit hergeholt.
Obwohl ich zugeben muss, erst unlängst einen Artikel gelesen zu haben, in dem der Anstieg des Nasdaq mit dem Anstieg des Prozac-Verbrauchs (ein stimmungsaufhellendes Medikament, in den USA sehr weit verbreitet) korreliert wurde.
Aber bei solchen Statistiken sollte man auch nie vergessen, auf die hohe Korrelation von Geburten und regionaler Storchdichte hinzuweisen.
So, dass war jetzt sehr weitschweifig. Ich sollte nur noch in nüchternem Zustand schreiben.
Hickks
R.
> Die Angst vor der Angst
> Post-Boom-Syndrom: Amerika leidet unter kollektiven Panikattacken
>Seit einigen Wochen gehören Börsenmakler und Investmentbanker in New York zu jenen geplagten
>Geschöpfen, die von Partygästen und Zufallsbekanntschaften abendelang mit Fachfragen gelöchert
>werden. Wie das denn nun sei mit den Kursen und den Fonds und den Langzeitperspektiven, wo das
>Geld denn jetzt noch sicher wäre. Das ist ungefähr so höflich, wie wenn man einem Arzt am
>Bartresen die Zunge herausstreckt und ihn bittet, doch mal nachzusehen, ob die geschwollenen Dinger
>da hinten eine Mandelentzündung sein könnten. Doch wer Angst hat, schert sich nicht um Etikette.
>Seit letztem Herbst hat sich die Angst ganz langsam ausgebreitet. Erst kamen die Verunsicherungen.
>Die Kursstürze. Das Wahldebakel von Florida. Die Massenentlassungen. Dann prognostizierten die
>Analysten eine düstere Zukunft und die Massenmedien griffen das Thema auf. Das zeigt nun
>Wirkung. Selbst in den erlauchten Kreisen, in denen man sich auch in schlechten Zeiten keine Sorgen
>machen müsste, wird plötzlich heimlich gespart. In den New Yorker Edellokalen wie Bouley’s Bakery
>oder Balthazar, die sich noch letztes Jahr damit rühmten, jeden Tag bis zu 2000 Anfragen für eine
>Reservierung zu bekommen, kann man jetzt auch kurzfristig einen Tisch ergattern. In den
>Designerboutiquen auf der Fifth Avenue und am West Broadway verlieren sich die wenigen Kunden
>zwischen den minimalistischen Regalen. Beim Weinhändler kann man bei den teuren Flaschen schon
>mal handeln.
>Zugegeben, es sieht nicht gut aus für die amerikanische Wirtschaft - auch wenn das Platzen der
>Dotcomblase und der Niedergang der so genannten Neuen Märkte lediglich die längst überfällige
>Rückkehr zu Maß und Vernunft darstellen mögen. Das Unwort Rezession lauert als Menetekel in den
>Wirtschaftsteilen der Zeitungen und Magazine, die jede Woche neue Gräuelnachrichten verbreiten. Im
>März gingen schon wieder 86000 Arbeitsplätze verloren. Es könnte ein Jahrzehnt dauern, bis sich die
>Aktienmärkte wieder auf den Stand vom letzten Jahr erholen. Laut Umfrage des Gallup-Instituts
>haben immer weniger Amerikaner Vertrauen in die Wirtschaft ihres Landes. Selbst George W.Bush,
>von Amts wegen zu Optimismus verpflichtet, hat jetzt zugegeben, dass die Dinge nicht nur zum Guten
>stehen. Auf schlechte Nachrichten folgt eben schlechte Laune. Und die sollte man nicht
>unterschätzen.
>Teuflische Launenhaftigkeit
>Angesichts der Unkenrufe begab sich Finanzminister Paul O’Neill kürzlich in das Studio von CNN, um
>eifrig zu verkünden, dass von Rezession keine Rede sein könne. Aus gutem Grund. Keine Wirtschaft
>ist so anfällig für kollektive Launen wie die der USA, denn sie beruht laut New York Times zu zwei
>Dritteln auf einem Gemütszustand, der von den Wirtschaftsnachrichten inzwischen als legitimer
>Indikator für die finanzielle Lage der Nation angeführt wird: Consumer Confidence. Ein großartiger
>Begriff, der die Mischung aus Selbstbewusstsein und Gottvertrauen beschreibt, die ein gut gefülltes
>Bankkonto verleiht. Consumer Confidence sorgt dafür, dass Geld im Umlauf bleibt und die Wirtschaft
>am Leben. Doch der Teufelskreis der Self Fulfilling Prophecy hat sich schon geschlossen.
>Das wirkliche Problem der mangelnden Consumer Confidence sind aber nicht nur die mageren
>Wirtschaftsdaten, sondern eine Angstkultur, die sich über die letzten Jahre kontinuierlich
>weiterentwickelt hat. Ausgerechnet während der optimistischen Clintonjahre entdeckten die
>Massenmedien die Angst als Verkaufsargument. Irreale Bedrohungen werden immer häufiger zu
>allgemeinen Gefahren aufgebauscht: Exotische Krankheiten wie das Ebolafieber oder der
>West-Nile-Virus; Extremfälle wie amoklaufende Schulkinder und Rechtsradikale; Alltagsgefahren wie
>die unzähligen Viren und Bakterien, gegen die neue Reinigungsprodukte angepriesen werden; bisher
>unbekannte Zahnfleischerkrankungen oder Nervenleiden, für die Medikamente entwickelt wurden;
>Konstruktionsfehler, die Luxusgüter wie Geländewagen oder Klimaanlagen in Todesfallen
>verwandeln. Marktschreierisch kündigen die Nachrichtenmagazine der Fernsehsender ihre neuesten
>Entdeckungen an. Floskeln wie „ein Problem, das es öfter gibt, als Sie glauben“ oder „Sie könnten der
>Nächste sein“ sollen vertuschen, dass hier über Phänomene berichtet wird, die nur wenige betreffen.
>Wie weit diese Verzerrungen gehen, bewies eine Studie des Journalisten Bob Garfield, der ein Jahr
>lang die Berichterstattungen von Washington Post, New York Times und USA Today auswertete.
>Nachdem er sämtliche Krankheitsfälle von Migräne bis Krebs zusammengezählt hatte, kam er zu dem
>Ergebnis, dass 543 Millionen Amerikaner schwer erkrankt sein müssten. Nicht schlecht für ein Land
>mit 280 Millionen Einwohnern.
>Nun könnte man psychologische Massenphänomene ebenfalls als mediale Modeerscheinungen abtun.
>Da wurden in der so genannten Me Decade der siebziger Jahre die Neurosen entdeckt, die Zipperlein
>des zarten Egos. In den Achtzigern gab es das Chronic Fatigue Syndrome als Folge der
>arbeitswütigen Yuppiegesellschaft. Die zunehmende Vernetzung während der neunziger Jahre
>brachte die multiple Persönlichkeit und die verschüttete Erinnerung in die Diskussion. Und jetzt, an der
>vermeintlichen Schwelle zur großen Weltwirtschaftskrise, kommt eben die Angst. Ihre Extremform,
>die Phobie, wurde von Time Magazine vor kurzem mit einer Titelgeschichte zum nationalen Problem
>geadelt.
>Die Gesellschaft reagiert auf die psychologischen Massenphänomene meist mit Selbstmedikation, wie
>der Drogenkonsum im Jargon der Psychologie genannt wird. In den siebziger Jahren versuchte man
>sich vom Selbstbezug der Neurosen mit Psychedelika wie LSD zu befreien. Gegen die
>Ermüdungserscheinungen der Achtziger wurde Kokain eingesetzt. Die vermeintliche Klarheit des
>Ecstasy-Rausches sollte gegen die Verwirrungen der Neunziger helfen. Und heute vermelden die
>Medien eine epidemische Verbreitung des Schmerzmittelmissbrauchs.
>Das künstliche Opiat Hydrokodon, in Amerika gegen Rezept als Vicodin erhältlich, hat sich zum
>absoluten Kassenschlager der Pharmaindustrie entwickelt. Wie ein weicher Kokon aus Sicherheits-
>und Glücksgefühl umhüllt der sanfte Rausch das angstgeplagte Hirn. Fernseh- und Filmstar Matthew
>Perry musste wegen seiner Sucht schon eingeliefert werden. Die Schauspielerin Melanie Griffith führt
>im Internet Tagebuch über ihren Entzug. Der Rapper Eminem ließ sich eine Vicodin-Tablette auf
>seinen Arm tätowieren. Teenager schlucken die Pillen auf Parties und Konzerten. Und die
>Notaufnahmen der Krankenhäuser vermelden einen sprunghaften Anstieg der Überdosen durch
>Schmerzmittel.
>Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte Amerikas, dass Angst eine Wirtschaftskrise beschleunigt.
>Auf dem Höhepunkt der Great Depression erkannte der neu gewählte Präsident Franklin D.Roosevelt
>1933 die Gefahr der kollektiven Panik: „Wir sollten vor nichts Angst haben, außer vor der Angst“,
>proklamierte er in seiner Antrittsrede. Er wusste, dass Reformprogramme allein nicht ausreichen
>würden, die verängstigte Bevölkerung zu beruhigen. Und so behandelte er das Land wie einen
>Patienten. Immer wieder versammelte sich die Nation vor den Radios, um seinen Fireside Chats zu
>lauschen, den tröstenden Worten eines Landesvaters, der seine Bürger an einen virtuellen Kamin bat,
>um sie von ihren Ängsten zu therapieren.
>Was Roosevelt instinktiv verstand, hat die New York University nun bewiesen. Anfang April haben
>die Wissenschaftler des neurologischen Instituts eine Forschungsarbeit vorgelegt, die nachweist, dass
>sich die Angst längst von ihrer ursprünglichen Funktion gelöst hat. Waren Angst und Schmerz in
>Urzeiten Schutzmechanismen, um das Überleben in einer feindlichen Umwelt zu erlernen, so hat die
>Studie ergeben, dass im modernen Menschen auch Gefahren, die lediglich vermutet oder von Dritten
>kolportiert werden, jene Zentren des Gehirnes aktivieren, die einstmals nur auf direkte Erfahrungen
>reagierten. Wenn sich die virtuellen Ängste aber schon biologisch manifestieren, muss man sie auch
>ernstnehmen. Erst recht, wenn sie ganz realen Schaden anrichten. ANDRIAN KREYE
>Aus der Süddeutschen von heute.
>J.
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<HR>
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