- Welt-Artikel: Der Sozialstaat macht arm - Der letzte Grund, 25.04.2001, 13:21
Welt-Artikel: Der Sozialstaat macht arm
Wo sich Angebote und Ansprüche gegenseitig hochschaukeln, da wird die Decke irgendwann zu kurz
Von Konrad Adam
Als der britische Gesundheitsminister Aneurin Bevan um die Mitte des letzten Jahrhunderts vor dem Unterhaus den Ausbau des englischen Wohlfahrtsstaates und seines Kernstücks, des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS, bekannt gab, schlug er einen betont zuversichtlichen Ton an. Er gab sich überzeugt, eine sichere Grundlage für die Gesundung des ganzen Volkes gefunden zu haben, und äußerte die Erwartung, dass die Engländer nach einigen Jahrzehnten NHS im Großen und Ganzen, wie er sich ausdrückte, gesund sein würden.
Bekanntlich sind auch diese Bäume nicht in den Himmel gewachsen, in England nicht und hier zu Lande auch nicht. Nach einigen Jahrzehnten kollektivierter Wohlfahrt ist das System in die Krise geraten. Dabei haben sich die Unterschiede zwischen oben und unten keineswegs verwischt, im Gegenteil. Einer von Bevans Nachfolgern als Gesundheitsminister, der Labour-Politiker Frank Field, machte aus seiner Verzweiflung kein Hehl, als er neulich Bilanz zog. Obwohl er nichts anderes tue, als Geld zu sparen, Leistungen zu kürzen und irgendwelche Gruppen von irgendwelchen Zuwendungen auszuschließen, wachse sein Haushalt unaufhörlich."Und jedes Jahr muss ich feststellen", setzte er hinzu,"dass ich selbst bei gewachsenen Einnahmen meinen Haushalt nicht ausgleichen kann." Er muss Wohltaten einsammeln, und das natürlich bei den Armen.
So wie es böse Absichten mit guter Wirkung gibt, gibt es, wo die Umverteiler am Werk sind, die gute Absicht mit den schlimmen Folgen. Seit seiner Entstehung unter dem Fürsten Bismarck hat der deutsche Wohlfahrtsstaat nicht nur die Zahl der von ihm Betreuten, sondern auch deren Wünsche steil nach oben getrieben. Er ließ beides wachsen, die Ansprüche und die Anspruchberechtigten; und beides zusammen hat ihn in die Krise geführt. Heute sind mehr als 90 Prozent der Bevölkerung Pflichtmitglieder in irgendeiner Krankenkasse - die sich inzwischen aber, Beispiel AOK, nicht mehr als Kranken-, sondern als Gesundheitskasse begreift und mit dieser Umbenennung ihren Versicherungszweck so großzügig auslegt, dass es Gesunde praktisch nicht mehr gibt."Es gibt keine Gesunden, sondern nur schlecht Untersuchte", heißt der keineswegs zynisch gemeinte Kommentar erfahrener Ärzte. Wenn das so ist: Wer soll dann noch Gesundheit garantieren, und vor allem: Wer soll dafür aufkommen?
Die Antwort des geübten Sozialstaatsbürgers ist klar: Bezahlen sollen die anderen. Das ihnen eingebläute Motto"Für die Gesundheit ist mir nichts zu teuer" heißt in die gesellschaftliche Wirklichkeit übersetzt:"Für meine Gesundheit hat den anderen nichts zu teuer zu sein." Nach diesem Grundsatz haben die Gesundheitspolitiker die Bundesrepublik zum Land mit den höchsten Pflegesätzen und der längsten Verweildauer im Krankenhaus ausgebaut. Da alles aus öffentlichen Kassen bezahlt wird, gibt es keinen Anreiz mehr, sich sparsam zu verhalten, für die Verbraucher nicht und für die Anbieter schon gar nicht. Die einen sehen im Ausmalen von abenteuerlichen Wünschen, die anderen im exzessiven Anspruch auf Erfüllung den sichersten Weg, persönlich einen guten Schnitt zu machen.
Die Mentalität verrät sich schon in der Sprache. Wer in Deutschland zum Arzt geht, eine Apotheke betritt oder ins Krankenhaus kommt, der verbraucht nichts, sondern"holt sich was zurück": einen Teil nämlich von dem, was ihm über Jahr und Tag an Pflichtbeiträgen abgenommen worden ist. Versicherungsbetrug darf man so etwas wohl nicht nennen, wenn das Verhalten vom System geduldet wo nicht gar gefördert wird. Indem es den Versicherten, die das Ganze bezahlen, jeden Aufschluss darüber verweigert, was das Ganze kostet, bringt sich das deutsche Wohlfahrtsschema um die Chance, die knappen Güter richtig zu verteilen. Das Verfahren orientiert sich nicht an den Grundsätzen des sparsamen Verbrauchs oder der zweckmäßigen Versorgung, es folgt der Logik des kalten Büfetts, bei dem man ja nur dann auf seine Kosten kommt, wenn man so viel vom Tisch nimmt, wie man kann. Trotzdem wird dieses langfristig ruinöse Verfahren von seinen Konstrukteuren zäh verteidigt, die darin auch von ihren Mündeln noch bestärkt werden, weil diese hoffen, dass ihre höchst eigensüchtigen Rechnungen aufgehen. Erst ganz allmählich dämmert ihnen, dass auf die Dauer der Einzelne nur so gut fahren kann, wie das System als Ganzes überlebt; und das ist alles andere als sicher. Die Kirchen haben darauf hingewiesen, als sie in ihrem Sozialpapier den Wohlfahrtsstaat nicht nur als Folge, sondern auch als Quelle von allerlei sozialen Missständen beschrieben. Er produziert, was er einmal verhindern wollte, die relative Armut.
Wo sich Angebote und Ansprüche gegenseitig hochschaukeln, da wird die Decke irgendwann zu kurz. Als erstes trifft es dann diejenigen, die den sozialstaatlichen Schutz am nötigsten haben, die Schwachen also. Während sich die guten Risiken in den Betriebskrankenkassen zusammenfinden, bleiben die schlechten bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen hängen. Die Folge ist, dass ausgerechnet diese Kassen bei relativ bescheidenen Leistungen die höchsten Beiträge verlangen: eine der vielen asozialen Konsequenzen der ganz zu Unrecht so genannten Sozialpolitik.
Klassenschranken und Einkommensunterschiede lassen sich nur dann abmildern oder ausgleichen, wenn man dabei die Pflicht zur Sparsamkeit beachtet. Das nicht getan zu haben, ist dem Realsozialismus, der alle Verteilungsprobleme durch Überflussproduktion aus der Welt schaffen wollte, zum Verhängnis geworden. Wenn sie so weitermachen, werden ihm die hiesigen Sozialstaatsingenieure folgen. Erfolgreich können sie nur dann sein, wenn sie den Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung, zwischen den Ansprüchen und ihren Kosten wieder deutlich werden lassen, durch Wahltarife also, Risikozuschläge, Selbstbeteiligung und Beitragsrückgewähr. Solche Mechanismen würden daran erinnern, dass alles seinen Preis hat, und dass man diesen Preis nicht ungefragt von irgendwelchen anderen verlangen kann. Tut man das trotzdem, dann werden sich die anderen verweigern.
Am Ende stünde eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen oben und unten, zwischen Arm und Reich nicht kleiner werden, sondern größer: das Gegenteil von dem, was die Wohlfahrtspolitiker versprochen haben.
WELT online
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