- Die japanische Deflation aus der Sicht von Kenneth Courtis - André, 25.04.2001, 19:45
Die japanische Deflation aus der Sicht von Kenneth Courtis
Ein nicht mehr ganz taufrisches Interview aus dem Butterfly-Forum eingestellt von TAM am 25.04.2001 16:24:22, das aber dennoch die Reise für Japan vorgibt, wenngleich in dem letzten Abschnitt ein"deus ex machina" alles zum Guten wendet, was angesichts des zuvor prognosizierten Zusammenbruchs der Banken und Versicherungen sowie der anhaltenden Deflation unerklärt bleibt. Auch neue, dynamischere junge Leute machen aus einem Staatsbankrott nicht ruckzuck ein Startup-Paradies.
Gewiß"rein zufällig" ist, daß dieses Interview synkron lief mit der Mitteilung der DB, daß Japan-Anlagen für die nächsten Jahre absolut obsolet seien.
Bezeichnenderweise ist, nachdem Ausländer ihre Japanengagements extrem reduziert haben, mit Ausnahme der strategischen Unternehmensinvestitionen, der Nikkei um rund 15% gestiegen!
(Jükü prognostizierte, wenn auch zu früh, den Anstieg, mit der Bemerkung reale Gründe nicht erkennbar.)
Und nun der Text:
"Weil es ein Interview ist mit Kenneth Courtis. Einer der absoluten Japan-Stars unter den Analysten. Chefvolkswirt der Deutsche Bank Capital Markets, seit einigen Monaten Senior Vice President von Goldman Sachs. Berät Unternehmensführer und Spitzenpolitiker in der ganzen Welt. Zudem lehrt er an verschiedenen Universitäten in Japan, und ist"Sexiest Economist alive". Wenn einer etwas zu Japan weiß, dann ist er es.
"Eine Tragoedie"
Interview: Deflation, Firmenpleiten, Schuldenberge - Japan steuert auf eine hoechst bedrohliche Situation zu, behauptet Asien-Experte Kenneth Courtis. Gibt es tatsaechlich keinen Ausweg aus der schier endlosen Krise von Politik und Wirtschaft?
mm Herr Courtis, seit zehn Jahren taumelt Japan von einer Krise in die andere. Nun spitzt sich die Lage erneut zu. Steht das Land vor dem Bankrott?
Courtis Die Aktienkurse sind seit 1990 auf ein Drittel ihres Wertes gefallen, eine Pleitewelle hat abertausende von Unternehmen zerstoert, die Arbeitslosenrate hat sich mehr als verdoppelt. Aber das ist erst der Anfang. Was Japan in den 90er Jahren erlebt hat, waren nur kleine Krisen, gemessen an dem, was kommen wird.
mm Was steht den Japanern noch alles bevor?
Courtis Die Bankenkrise flammt neu auf, der Versicherungssektor bricht zusammen. Das Land hat die Internet-Revolution und die New Economy verpasst. Die Deflation laehmt die Wirtschaft, und der Staat droht unter einem Schuldenberg zu ersticken. Eine tragische Situation.
mm Sie leben seit ueber 20 Jahren in Japan. Koennen Sie erklaeren, warum die Japaner ihre Schwierigkeiten nicht in den Griff bekommen?
Courtis Die Japaner kommen mir vor wie Ruderer, die in ihren Booten froehlich Champagner trinken und Hummer essen. Und weil die Leute mit dem Ruecken zur Fahrtrichtung sitzen, merken sie gar nicht, dass sie auf einen Wasserfall zusteuern.
mm Sie muessten sich nur mal umdrehen.
Courtis Die Japaner schieben die grossen Zukunftsentscheidungen vor sich her - das war immer so in der Geschichte des Landes. Erst wenn die Politiker mit dem Ruecken zur Wand stehen und keine andere Wahl mehr haben, packen sie die Dinge an.
mm Ganz tatenlos war die Regierung nicht. Seit 1992 hat sie zehn Konjunkturprogramme aufgelegt. Bloss hat das Geld nichts bewirkt.
Courtis Da taeuschen Sie sich. Ohne diese Programme waere Japan auf den Stand der 30er Jahre zurueckgefallen. Die Konjunkturspritzen haben Japan vor dem Zusammenbruch bewahrt. Die Tragoedie ist, dass das Geld fuer sinnlose Projekte vergeudet wurde. Die Politiker haben sich zehn Jahre Reformaufschub erkauft.
mm Das Geld floss zum Beispiel in den Bau von Strassen oder Bruecken...
Courtis... Bruecken, die ins Nichts fuehren. Im letzten Wahlkampf hat der Premierminister waehrend einer Rede gesagt:"Wenn Sie am Sonntag waehlen, vergessen Sie nicht die neue Bruecke, die wir gebaut haben." Ein Zuhoerer rief dazwischen und fragte:"Und wo bleibt der Fluss?""Den kriegen Sie bei der naechsten Wahl", antwortete der Premier.
mm Kaum zu glauben, dass japanische Politiker so schlagfertig sind.
Courtis Leider trifft der Scherz die Wahrheit. Gemeint war eine neue Verbindung zwischen den beiden Hauptinseln Honshu und Shikoku - eine Bruecke fuer zehn Milliarden Dollar - ueber die gerade mal 100 Autos pro Stunde fahren.
mm Die Regierung hat innerhalb einer Dekade fuer konjunkturstuetzende Investitionen rund 1,2 Billionen Dollar ausgegeben. Woher kam das Geld?
Courtis Die Verbindlichkeiten der oeffentlichen Hand entsprachen 1991 51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Ende 2001 werden es 151 Prozent sein. Und das ist nur der offizielle Teil der Schulden. Hinzu kommen Forderungen an den Staat, die nicht ausgewiesen werden.
mm Welche Forderungen meinen Sie?
Courtis Zum Beispiel hat die japanische Regierung in den vergangenen 30 Monaten an kleine und mittlere Unternehmen Kredite in Hoehe von rund 361 Milliarden Dollar vergeben oder entsprechende Buergschaften uebernommen. Von diesem Geld, das offiziell nicht zu den Staatsschulden zaehlt, wird kaum etwas zurueckgezahlt werden.
Hinzu kommt, dass die Regierung ihre Verpflichtungen an die Rentenkasse zu niedrig ansetzt; sie diskontiert die kuenftigen Rentenzahlungen mit 4 Prozent und nicht mit 2 Prozent, was realistisch waere. Hier klafft eine Luecke von 3 Billionen Dollar.
mm Wie hoch liegt die Staatsverschuldung, wenn man die ausgewiesenen und die verdeckten Verbindlichkeiten zusammenzaehlt?
Courtis Die tatsaechlichen Verbindlichkeiten betragen etwa 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Verschuldung der oeffentlichen Hand hat in Japan ein Ausmass erreicht wie noch nie zuvor in einem Land.
mm Was bedeutet dieses Schuldengebirge fuer Japan?
Courtis Ganz einfach: Die Zinsen steigen.
mm Moment mal. Die Notenbank haelt doch seit Jahren die Zinsen bei einer Rate von knapp ueber null.
Courtis Das ist die Hoehe der Nominalzinsen. Aber schauen Sie sich die realen Zinsen an. Japan erlebt derzeit eine Deflation von offiziell 1,5 Prozent. Nach meinen Berechnungen sind es aber mehr als 2,5 Prozent pro Jahr. Wenn Sie die 3 bis 5 Prozent Zinsen dazuaddieren, die Firmen fuer Kredite bezahlen, ergibt sich ein realer Zinssatz von 5 bis 7 Prozent.
mm Was folgt daraus?
Courtis Die Leute tragen ihr Geld zur Bank. Die Sparrate in Japan liegt dreimal so hoch wie in Deutschland und 25-mal so hoch wie in Amerika. Und weil die Menschen so wenig konsumieren, kommt die Konjunktur nicht in Schwung.
mm Das Privatvermoegen der Japaner betraegt etwa 11,5 Billionen Dollar. So reich sind die Menschen in kaum einer anderen Nation. Warum sparen sich die Japaner schier zu Tode? Das liegt doch nicht nur an den Zinsen.
Courtis Frau Suzuki versteht zwar nicht den ganzen Zahlenkram, ueber den wir hier reden, aber sie weiss, dass sie in Zukunft selbst fuer sich sorgen muss. Sie weiss, dass in der Rentenversicherung ein Loch klafft; sie erlebt, dass die Leistungen der Krankenversicherung zurueckgefahren werden; sie sieht, dass ihr Arbeitsplatz nicht mehr sicher ist.
Und sie muss zur Kenntnis nehmen, dass ein grosser Teil ihrer Ersparnisse verloren ist. Der Immobilienwert ist um 60 bis 70 Prozent gefallen. Fast ein Drittel der Hypotheken steckt im Minus. Das heisst: Frau Suzuki bekommt beim Verkauf ihres Hauses weniger Geld, als sie der Bank schuldet. Aehnlich schlimm sieht es bei den Lebensversicherungen aus.
mm Warum gehen so viele Lebensversicherungsunternehmen Pleite?
Courtis Die Versicherungen haben das Geld ihrer Kunden zum grossen Teil in Staatsanleihen angelegt, die eine Rendite von rund 1,6 Prozent abwerfen. Der Rest steckt in Immobilien; wie deren Wert gesunken ist, wissen Sie ja. Wenn die Policen eine Rendite von 4,5 Prozent garantieren, die Versicherungen aber nur 1,6 Prozent Zinsen bekommen, sind Verluste unausweichlich.
mm Der Staat springt doch sonst immer ein. Warum nicht bei den Versicherungen?
Courtis Der Regierungsfonds zur Rettung der Versicherungen ist mittlerweile ausgeschoepft. Fuenf Gesellschaften sind schon bankrott, sie werden umstrukturiert oder verkauft. Die Verluste muessen die Ver-sicherten tragen. Ich schaetze, dass die Besitzer von Lebensversicherungen schon heute einen Teil ihres Investments verloren haben.
So werden Tag fuer Tag die Ersparnisse der Menschen vernichtet. In keinem anderen Land sind zu Friedenszeiten so gigantische Werte zerstoert worden wie in Japan.
mm Die Versicherungen wissen seit fast zehn Jahren um die Problematik. Warum haben sie nicht reagiert?
Courtis Weil die Japaner nicht faehig sind, fruehzeitig schmerzhafte Entscheidungen zu treffen. Das zeigt sich ueberall. Nehmen Sie den Bankensektor. Seit zwei Jahren wissen die Chefs der Kreditinstitute, dass ab Ende Maerz schaerfere Bilanzierungsricht-linien gelten. Kuenftig darf der Wertpapierbesitz nicht mehr zum hohen Anschaffungswert ausgewiesen werden, es muss der Marktwert angesetzt werden. Doch nichts geschieht.
mm Analysten sagen voraus, dass beim jetzigen Stand des Nikkei-Index 12 der 16 grossen japanischen Banken hohe Verluste erleiden.
Courtis Die Zahl koennte sogar noch groesser sein.
mm Wie wollen die Banken aus dieser Klemme herauskommen?
Courtis Da gibt es viele Vorschlaege. Zum Beispiel wird darueber nachgedacht, die Einfuehrung der neuen Bilanzierungsregeln zu verschieben. Aber keine der diskutierten Alternativen loest das Problem.
mm Japan ist technologisch weit hinter Amerika und auch hinter einige europaeische Staaten zurueckgefallen. Wo liegt die Ursache?
Courtis Ueberlegen Sie mal, wie Japan heute dastehen wuerde, wenn die Regierung einen Teil der Konjunkturprogramme genutzt haette, um Hochgeschwindigkeitsnetze fuer die Nutzung des Internets zu errichten. Das ist nicht passiert. Der Staat hat die gleiche Misswirtschaft betrieben wie die Konzerne. Die Investitionen in die Informations- und Kommunikationstechnik lagen 1990 - pro Kopf gerechnet - hoeher als in Amerika. Mittlerweile hat sich das Verhaeltnis umgekehrt. 1999 haben die USA doppelt so viel in IT-Technik investiert wie Japan.
mm Die japanische Statistik weist hohe Investitionen in Anlagegueter aus. Wohin ist das Geld geflossen?
Courtis Hauptsaechlich in Technologien von gestern - in Maschinen und Anlagen zur Erhoehung der Kapazitaeten. Japan baut immer mehr Kapazitaeten auf, die immer weniger wettbewerbsfaehig sind. Seit Jahren waechst die Produktivitaet in Japan langsamer als in Amerika.
mm Ist eine ganze Generation von Managern so vernebelt, dass sie die technologische Revolution nicht wahrgenommen hat?
Courtis Lassen Sie mich einen Augenblick lang zurueckblicken - auf die Jahre des Kalten Krieges. Das war fuer Japaner ein goldenes Zeitalter. Zum ersten Mal hatte das Land eine Demokratie. Und was noch wichtiger war: Japan galt den USA als unsinkbarer Flugzeugtraeger vor Russland. Im Gegenzug genossen die japanischen Exporte eine Vorzugsbehandlung auf dem groessten Markt der Welt. So wuchs die Wirtschaft Japans mit 5 bis 7 Prozent pro Jahr.
mm Was hat diese Zeit mit der heutigen Misswirtschaft zu tun?
Courtis Als der Kalte Krieg vorueber war, begann auch fuer Japan eine neue Epoche. Das Land wurde von den Amerikanern nicht mehr protegiert. Zudem erlahmte der Elan der Unternehmergeneration, die nach dem Weltkrieg das Land aufgebaut hatte. Die gegenwaertige Fuehrungselite verhaelt sich so, als haette sich nichts veraendert. Sie schaut zurueck statt nach vorn.
mm Warum jagen die Menschen die Regierung nicht zum Teufel?
Courtis Die Regierungspartei hat ihre Waehlerschaft in den laendlichen Gebieten und in den Kleinstaedten. Die Menschen dort wollen keine Veraenderung. Das ist der Grund, weshalb die Liberaldemokratische Partei seit ueber 40 Jahren regiert.
mm Das heisst, es muss noch schlimmer kommen, bevor Reformen angepackt werden?
Courtis Einen anderen Ausweg sehe ich nicht. Aber es ist schon deutlich zu spueren, wie tief das Vertrauen der Bevoelkerung gesunken ist. In Japan ist die schwaechste Regierung seit Jahrzehnten am Ruder. Nach Meinungsumfragen stehen weniger als 15 Prozent der Bevoelkerung hinter Ministerpraesident Yoshiro Mori. Und auch die Opposition hat keinen klaren Entwurf fuer die Zukunft. Ich befuerchte, dass die naechste Regierung noch schwaecher wird.
mm Sehen Sie ueberhaupt eine Chance, dass sich Japan wieder erholt?
Courtis Man darf die Japaner nicht abschreiben. Auch Deutschland war am Ende und ist wieder hochgekommen. Die Krise wird sich weiter verschaerfen, bis ein Punkt erreicht ist, an dem das Alte voellig diskreditiert ist. Und dann wird eine neue Generation von Fuehrern antreten: Manager und Politiker, die alle Sektoren deregulieren und privatisieren, die das Steuerwesen reformieren und fuer Transparenz sorgen.
mm Nach den Schreckensszenarien, die Sie gezeichnet haben, sind Sie ploetzlich verdammt optimistisch.
Courtis Erste Anzeichen fuer den Wandel sehen Sie heute schon. Startups werden gegruendet. Traditionsverbundene Unternehmen wie NEC uebernehmen westliche Managementstandards. Junge Leute suchen sich Jobs in Firmen, in denen sie fruehzeitig Verantwortung uebernehmen koennen und wo sie nach Leistung bezahlt werden.
mm Wann hat Japan das Aergste hinter sich?
Courtis In drei bis fuenf Jahren. Wenn Japan ein Unternehmen waere, ich wuerde es kaufen. Da liegen so viele Werte brach. Zum ersten Mal stehen Firmen zum Verkauf. Man findet hervorragend ausgebildete Mitarbeiter. Nissan ist das beste Beispiel. Sieben Jahre lang machte das Unternehmen Verluste, eigentlich war der Konzern pleite. Dann kam ein neuer Chef...
mm... einer aus Europa, Carlos Ghosn vom Grossaktionaer Renault.
Courtis Ist ja egal, woher die neuen Manager kommen. Meine Botschaft heisst: Es muessen nur die richtigen Leute her, die es verstehen, die Schaetze zu heben. Dann geht es mit Japan wieder aufwaerts."
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