- Das Spiel mit der Eisenbahn -von G. Feix - McMike, 26.04.2001, 23:09
Das Spiel mit der Eisenbahn -von G. Feix
Das Spiel mit der Eisenbahn
Eine seltsame Geschichte aus der Welt der Computer
copyright 1996, G.Feix
Der Angestellte Skurril ging jeden Tag in ein großes Gebäude zur Arbeit. Es ist ein Unterschied, ob jemand in ein großes oder in ein kleines Gebäude geht. Im ersteren kann er leicht verloren gehen. Diese Gebäude haben in der Regel endlos lange Flure mit vielen geschlossenen Türen. Am Ende des Flures ist ein tristes Flurfenster, durch das fades Tageslicht eindringt. Wer wollte, konnte eines der Flurfenster öffnen und hinabspringen. Mitunter passierte es auch. Nur die Computer konnten das nicht. Diese blieben bis sie ausgemustert wurden an ihrem Platz. Das Betonsilo wuchs allmählich grösser und grösser und konnte schliesslich nicht mehr abgerissen werden. Ständig mußte Arbeit erdacht werden, um die Existenz des Gebäudes samt Inhalt zu rechtfertigen. Das Land, in dem das Gebäude stand, fiel in die Kategorie Klassenstaat und besaß drei S-Klassen. Die erste Klasse war die sogenannte Selbstbefriedungsklasse. Ihr gehörten regierende Kreise mit den verbundenen Unterschichten an. Diese Klasse legte ihre Bedarfsgrenzen selbst fest und befriedigte ihr Bedürfnisse durch Zuwendungen per einstimmiger Abstimmung. Gelehrte hatten schon in frühen Zeiten diesen Zustand beschrieben. Aber alle können daran nie teilnehmen. Die erste Klasse war zudem wählbar. Doch war inzwischen die Wahlbeteilung unter 10 Prozent abgesunken und keiner konnte erklären, warum es eine noch so hohe Wahlbeteiligung gab. Die Wähler waren allmählich frustiert, denn wie und wer auch immer gewählt wurde, es änderte sich nichts. Den einen freute es, den anderen weniger. Manche meinten, daß Computer die Macht übernommen hätten und denkende Wesen dort oben - wenn sie je existiert haben sollten - längst ausgestorben waren. Doch diese Klasse lebte und residierte mit ihren Computern in abgeschlossenen Glaspalästen lustig weiter. Das Glas sollte Durchsichtigkeit und Einsehbarkeit dokumentieren. Aber in Wirklichkeit war das Glas verspiegelt und keiner konnte durchblicken. Früher unterschieden sich Gruppierungen in dieser Klasse durch frei gewählte Farbsymbole. Jetzt war alles vergraut wie das Gebäude von Herrn Skurill auch. Die zweite Klasse war die grosse Singleklasse, diese erwirtschaftete die Einkünfte und bildete das Rückgrat für den Staat. Diese Klasse lebte in ständiger sozialer Angst. Das System hatte geschickt Ängste entwickelt, um diese Klasse am Leben zu erhalten. So war der Verlust des Arbeitsplatzes eine Versetzung in die dritte S-Klasse. Hatten Singles erst einmal Kinder oder doubelten sich zu einer Mehrkind-Familie, drifteten sie auch in jene dritte Klasse ab. Sa dritte S stand für die sogenannte Sozialklasse. Diese Klasse konnte sich nur zum Teil oder überhaupt nicht mehr durch eigene Erwerbstätigkeit ernähren und wurde sparsam unterhalten aber dafür dauerhaft. Aus diesem Teufelskreis kam keiner so leicht heraus, es sei denn, er schaffte seine Kinder ab, wurde Exot und Mehrverdiener oder schlüpfte in die Masse der ersten S-Klasse. Das System hatte zwei streng getrennte Geldkreisläufe entwickelt. Die kleinere Menge diente zum Unterhalt besagter S-Klassen. Diese Menge mußte möglichst klein gehalten werden. Die Wachstumsraten für die unteren Klassen wurden nur nach zähen Verhandlungen erhöht. Der zweite Kreislauf war virtuelles Geld und lief im Wirtschaftskreislauf rund um die Uhr. Hier wurde alles getan, um diese Menge wachsen zu lassen. Wer konnte, etablierte sich in diesem Kreislauf. Und mit diesem zweiten Kreislauf beginnt eigentlich erst unsere Geschichte.
Als Herr Skurril, der immerhin der zweiten S-Klasse angehören durfte, wieder einmal am Schreibtisch saß, hörte er wie eine unbekannte Stimme zu ihm sprach:
Warum sitzen Sie eigentlich noch hier herum?
Es war aber seine eigene Stimme, denn so fremd war er sich inzwischen geworden, daß er nicht mehr seine eigene Stimme kannte und sich mit Sie ansprach. Er hätte jetzt zum Telefonsprechhörer greifen müssen, um dieses Problem pflichtgemäß zu bearbeiten. Jedoch sein Amtsanschluß war längst abgeschaltet. Wollte er telefonieren, mußte Skurr einige Stockwerke zurücklegen, einen langen Gang entlang gehen, um dann mit dem Fahrstuhl, der überhaupt kein Fenster kannte, viele anonyme Stockwerke hochgleiten. Das schaffte ihm wenigstens Bewegung. Eingedenk vor so viel Bewegung zog Skurril jedoch die Frage zurück und dachte über die Logistik seines Arbeitsgehäuses nach. Sein Blick fiel auf die Schreibtischschublade, und er verglich unwillkürlich das System mit Schubkästen. Jeder Schubkasten beherbergte einen Vorgang mit angehängten Bearbeiter, der wie ein Schlüssel am Schlüsselbund daran baumelte. Eine kastenübergreifende Arbeit war nicht möglich. Deshalb hatte Herr Skurril den Eindruck gewonnen, in einer inversen offenen Anstalt zu arbeiten. Die Insassen kehren in solchen Anlagen gewöhnlich nachts zurück und haben am Tag Ausgang. Nur hier war es umgekehrt.
In dem langen Endgang vor seiner Tür wurde es mitunter laut, wenn eines der fehlerhaften Geräte abgestellt wurde. Doch so ganz verloren zwischen all dem Gerümpel und ausgedienten Registrierkästen war Herr Skurril nun auch wiederum nicht, denn sein hüstelnder Computer hing zufällig noch am Nabelschnur der Welt, das Netz genannt. Das Netz war nicht aus Stahl sondern es war virtuell, also fein wie ein Spinnennetz gesponnen und völlig unsichtbar. Beinahe hätte er sein Bett mitgebracht aber regelmässig schaute ja noch die Putzfrau herein. Während sie die Papierkörbe leerte, wünschte sie ihm eine gute Nacht. Die guten Wünsche zur Nacht wurden schon bald erhört. Inzwischen hatte er sich den Nicknamen Torro zugelegt. Unter diesem Namen hatte er virtuelle Geschäftsprogramme entwickelt und stieg alsbald in den schon erwähnten großen Geldkreislauf ein. Er ließ Torro mit Aktien spekulieren. Die virtuellen Konten des Herrn Torro füllten sich wie von Geisterhand. Da auf Dauer das Spiel mit sechsstelligen Zahlen keine rechte Freude aufkommen ließ, überlegte Skurril, wie er diese Zahlen zu Leben erwecken konnte. Er kaufte eine stillgelegte Übersee-Eisenbahn. Diese Bahn transportierte einmal Bananen. Er hatte früher auch sehr gern mit Eisenbahnen gespielt und erinnerte sich noch an jenen bunten Bananenwagen in seinem Zug von damals. Jetzt aber besorgte er sich alte Verordnungen der preußisch-königlichen Eisenbahn und stellte über den Computer Bedienstete für diese Eisenbahn ein. Er war plötzlich Eisenbahnpräsident geworden und führte Kraft seines neuen Amtes die preußische Uniformordnung ein. Dann kramte er seine Eisenbahnkenntnisse aus der Kinderzeit hervor. Diese Spielzeugeisenbahn - so erinnerte er sich dunkel - fuhr immer im Kreis herum. Also ließ er alle vorhandenen Stationen durch einen Schienenkreis verbinden, das schaffte Arbeitsplätze. Bald wurden Gleise nach seinen Plänen umgelegt und alle Räder rollten rundum für den Gewinn der virtuellen Gesellschaft. Auf seinem Bildschirm spielte Herr Skurril - wie früher auf dem elterlichen Dachboden- jetzt mit der Überseebahn. Wenn der Bahnhofsvorsteher keine gebügelte Hose trug und etwa nur in Jeans die rote Kelle hochhielt, erhielt er sofort eine Email-Abmahnung. Die Überwachung lief ferngesteuert via Computer. Zuerst munkelten die Bahnangestellten etwas von Mafia und Geldwäsche, aber als die Eisenbahn immer erfolgreicher wurde, fragte niemand mehr nach dem großen Unbekannten. Der graue Unbekannte ließ die Lokomotiven mit schneebedeckten Bergen in weithin leuchtenden Farben anmalen. In seinem Übereifer übersah er, daß seine Eisenbahn nur durch trockene Gebiete mit vierzig Grad im Schatten fuhr. Aber aus unerklärlichen Gründen brachte dort die Schneewerbung besonders viele Kunden ein.
Im Gegensatz zu Skurril besaß Torro keine Steuerkarte, denn nirgendwo in der Welt tauchte er als Person auf. Den Kontakt mit Torro hielt Skurril mit sechsstelligen Passwörtern aufrecht. Doch gerade darin lag das Risiko, denn er hatte diese Wörter nur seinem persönlichen Computer anvertraut. Torro wurde für Skurril so vertraut, daß er eines Tages einen persönlichen Kontakt aufzunehmen versuchte. Er fragte, ob Torro einen persönlichen Wunsch besitze. Das Programm war nun so ausgelegt, daß das virtuelle Schattenwesen keiner Frage ausweichen durfte. Jede Verweigerung einer Frage bedeutete den Absturz des Sytems und damit den sicheren Tod für Torro. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb antwortete er deshalb absurdes Zeug, er würde gern einmal Weihnachten auf einer Lokomotive im Schnee feiern. Leutselig lud Skurril den Herrn Torro ein und wartete auf eine Antwort. Prompt erschien diese auch. Torro hatte inzwischen für die kommenden Weihnachten auf den Weihnachtsinseln alles per Computer arrangiert, Festessen, Hotelbuchungen, eine künstliche Schneelandschaft in einer alten Lagerhalle mit einer richtigen Dampflokomotive. Torro wollte sich für diese Zeit frei nehmen und geriet dadurc in Schwierigkeiten, denn er suchte fieberhaft nach Programmen, die ihm das gestatten könnten. Aber es gab dafür kein Programm. Doch das Problem löste sich von selbst, denn der altersschwache Computer des Herrn Skurril stürzte ab und alle Daten gingen verloren. Damit konnte Skurril nicht mehr mit Torro korrespondieren. Er hatte die Passwörter nicht im Kopf. In diesem Moment verselbständigte sich Torro und hatte keine weiteren Eingriffe von einer Zentrale zu befürchten. Die Programme konnten sich nach der genialen Idee von Herrn Skurr selbständig weiterentwickeln. Das Prinzip der Programme war wie die Eisenbahn organisiert. Alles bewegte sich in einer Endlosschleife um die ganze Welt herum von Computer zu Computer. Als Herr Skurril an diesem Crashtag resigniert nach Hause schlürfte und in seinen leeren Kühlschrank schaute und ein Bier suchte, schüttelte er nur den Kopf:
Nicht möglich! -, was alles heute so von einem Chip abhängt.
Der virtuelle Schatten, genannt Torro, blieb hingegen aktiv. Torro hatte kein Verständnis für Spiele, denn nie hatte er gespielt. So verkaufte er die Überseebahn und vergaß darüber Weihnachten. Seine virtuellen Sinne arbeiteten jetzt immer schneller und schneller. Der Kauf und Verkauf von Unternehmen hetzten sich. Doch seine Berechnungen des genauen Zeitpunktes des An- und Verkaufs waren so perfekt, daß nichts entgleiste. Durch den jähen Ausstieg brachen Firmen zusammen und andere Scheinfirmen tauchten auf. Torro kannte nur Geld, Gewinn und wieder Geld. Torro hinterließ - wie ein Tornado in einem Wald - eine breite Schneise von Wirtschaftsruinen. Nie wurde der wahre Urheber ermittelt. Alles wurde dem allgemeinen System zugeschrieben. Die Gewinne hatten inzwischen die Milliardengrenze erreicht - Bei dieser Höhe hört normalerweise Geld auf, Geld zu sein. Es wandelt sich zur puren Macht. Ein solche Macht lag jetzt in den Händen des seelenlosen Torro. In Wirklichkeit handelte es sich aber nur um eine Idee, die zufällig ein spielender Angestellter im obersten Stockwerk eines grauen leblosen Gebäudes hinterlassen hatte. Die einzige Lösung, dem Unwesen von Torro Einhalt zu gebieten, wären jetzt die verlorenen Passwörter gewesen. Aber diese waren unwiderruflich verloren..
Eines Tages hatte ein Youngster sein Spiel ins Netz gegeben. Es war ein einfaches Spiel, in dem Fragen gestellt wurden. Wenn eine Frage der Spieler nicht beantwortete, leuchtete auf dem Bildschirm Game is over auf. Zufällig erreichte eine solche Frage das Torromonster. Torro mußte ja laut Programm jede an ihn gerichtete Frage beantworten. Bisher hatte ohneweiters alles - auch die schwierigste Spekulation- geklappt. Aber diese Frage -nein - die lag nicht im kontrollierten Wissensbereich von Torro. Die Frage wurde falsch beantwortet und wie eine Kettenreaktion stürzte das sich aufgebaute virtuelle Imperium wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Wie hieß also diese Frage an das elektronische Superhirn? -
Warum nur wollte der böse Wolf unbedingt das Rotkäppchen fressen?
Computermonster sind eben einseitig und kennen keine Märchen. So konnte er nur Unsinn aus seinem memory kramen. Er setzte sie -wie im Fall von Weihnachten im Schnee unter heißer Sonne - wieder zu einer unsinnigen Antwort zusammen. Er antwortete, eine Wolfsgmbh muß eine in rote Zahlen steckende Gesellschaft verkappt einkaufen und nach Einstecken der Gewinne abschieben. Das Spiel hatte die Antwort nicht akzeptiert. Der kleine Skurril-Staat ist irgendwann auch untergegangen. Warum ist nicht überliefert.
gruss mcmike
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