- 02.06.2001 in der NZZ:"Ist unsere Finanz- und Sozialpolitik nachhaltig?" - Ecki1, 03.06.2001, 00:58
02.06.2001 in der NZZ:"Ist unsere Finanz- und Sozialpolitik nachhaltig?"
Ein generationenpolitischer Thermometer
Ist unsere Finanz- und Sozialpolitik nachhaltig?
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) führt mit der sogenannten Generationenbilanz eine in der EU bereits etablierte Messmethode für die Nachhaltigkeit der Sozial- und Finanzpolitik ein. Motiv ist ein fairer Umgang mit den zukünftigen Generationen, die nicht von Schulden und ererbten Verpflichtungen bedrängt werden sollen.
met. Bern, 1. Juni
Ist die schweizerische Finanz- und Sozialpolitik nachhaltig? Konkreter gefragt: Werden heute durch die Politik Ansprüche gesetzlich verankert und Schulden angehäuft, welche die Entfaltungsmöglichkeiten der zukünftigen Generationen einschränken oder gar abwürgen werden? Das Staatssekretariat für Wirtschaft wollte es genauer wissen und bringt neu ein Instrument ins Spiel, das vor etwa zehn Jahren in den USA entwickelt worden ist: die Generationenbilanzierung. Die EU-Kommission hat mittlerweile für alle Mitgliedsstaaten der Union derartige Bilanzen erstellen lassen. Dabei handelt es sich um eine Art Buchhaltungssystem, das alle Zahlungsströme erfasst, welche die einzelnen Jahrgänge während eines Jahres via den Staat abwickeln. Für jeden Jahrgang wird zunächst ermittelt, wie viel er in jedem Lebensalter in Form von Steuern, Beiträgen, Gebühren und Prämien an den Staat abgeben muss. Dieser Summe werden daraufhin die Transfers gegenübergestellt, die jeder Jahrgang an Bildungs- und Gesundheitsausgaben, Familienzulagen, Renten und so weiter während seines ganzen Lebens empfangen wird. Den so erhaltenen Saldo bezeichnet man als die Generationenbilanz des Jahrgangs.
Staatsschuld höher als ausgewiesen
Verfasser der Generationenbilanz für die Schweiz wie auch für die EU-Staaten ist der in Freiburg i. Br. und in Bergen lehrende Prof. Bernd Raffelhüschen. Er stellte die Ergebnisse in Bern an einem Medienanlass vor. Das Hauptresultat der Untersuchung für die Schweiz lautet, dass die bisher ausgewiesene Verschuldung von 36 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu tief angesetzt ist, wenn die einzelnen Generationenkonten mit der Anzahl der lebenden Personen jedes Jahrgangs gewichtet und addiert werden. Die wahre Staatsverschuldung, die «Nachhaltigkeitslücke», liegt laut der Untersuchung Raffelhüschens bei 75 Prozent des BIP. Um das Minus aufzufangen, müssten alle nach 1997 (Stichjahr für die Untersuchung) geborenen Generationen über den gesamten Lebenszyklus gerechnet etwa 66 000 Franken mehr an Steuern und Abgaben leisten als die Generation des Jahres 1997. - Der Autor kommt zu interessanten Schlüssen. Die Verschuldung der öffentlichen Hand ist nahezu zur Hälfte für die bestehende Nachhaltigkeitslücke verantwortlich. Die andere Hälfte geht auf den demographischen Alterungsprozess zurück. Daraus leitet Raffelhüschen Handlungsbedarf in beiden Politikbereichen ab. Der Schuldenabbau allein wird zum Ausgleich der Generationenbilanz nicht reichen, die Konsolidierung der AHV allein ebenso wenig. Zurzeit sind einige positive Effekte auszumachen: Bereits die am runden Tisch beschlossenen Reduktionen der Defizite haben die Mehrbelastung der zukünftigen Generationen reduziert. Die Erhöhung des Rentenalters der Frauen, die Anpassung der Witwenrente an jene der Witwer, die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer, vor allem aber die Beibehaltung der Mischindexierung im Rahmen der 11. AHV-Revision führen laut Raffelhüschen annähernd zum Bilanzausgleich. Eher gering veranschlagt der Autor den möglichen Beitrag der Immigrationspolitik zur Lösung des Überalterungsproblems und damit betragsmässig zur Hälfte der Nachhaltigkeitslücke: Selbst wenn pro Jahr 25 000 jüngere Immigranten zugelassen würden, reduzierte sich die Differenz zwischen den Generationenkonten (1997) lediglich von 66 000 auf 56 000 Franken.
Nur Irland ohne Nachhaltigkeitslücke
Im internationalen Vergleich ortet die Untersuchung die Schweiz bei Festhalten an der Mischindexierung der AHV-Renten trotz dem besonders ausgeprägten Überalterungsproblem in günstiger Lage, auf Platz 4 einer Liste von 15 OECD- Ländern. Eine Vollindexierung der Renten würde sie jedoch ins Mittelfeld zurückwerfen. Mit Ausnahme von Irland weisen alle untersuchten Länder eine Nachhaltigkeitslücke auf. Die Liste zeigt, dass sich die Zurückhaltung beim Ausbau der Sozialsysteme, wie sie sich die Schweiz, Grossbritannien, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, die USA und Italien auferlegen, lohnt. Am Schluss der Reihe liegen wenig überraschend Deutschland, Spanien, Ã-sterreich, Schweden und Finnland.
Eine Diskussion mit dem Autor nach der Präsentation der Generationenbilanz offenbarte einige Schwächen des gewählten Ansatzes deutlich. Die «Messmethode» reagiert äusserst empfindlich auf Veränderungen des unterstellten Wirtschaftswachstums (1 Prozent) und des Zinsniveaus (3 Prozent). Keine Berücksichtigung fand aus Gründen der Vergleichbarkeit mit den EU- Staaten die berufliche Vorsorge. Rechnerisch problematisch ist sodann die Berücksichtigung von Grossinvestitionen auch zugunsten der kommenden Generationen wie etwa der Bahn-Alpentransversale.
2. Juni 2001
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