- PLEASE HELP! Kennt jemand brauchbare Infos zur.. - YIHI, 23.06.2001, 19:35
- Re: PLEASE HELP! Kennt jemand brauchbare Infos zur.. - Baldur der Ketzer, 23.06.2001, 19:46
- Da könnte was dabei sein.... - Cosa, 23.06.2001, 22:39
- Re: Mein Aufsatz in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (4./5.IV.'92) könnte helfen.... - Galiani, 24.06.2001, 03:49
- Re: Danke für diesen Text! Muss ihn aber noch lesen... owT - JüKü, 24.06.2001, 03:53
- Vielen lieben Dank! owT - YIHI, 24.06.2001, 11:58
- Re: Russische Lethargie - Dionysos, 24.06.2001, 13:02
- Re: Beim Einlesen dieses Aufsatzes mit OmniPage gab es sinnstörende Fehler - Galiani, 24.06.2001, 04:54
Vielen lieben Dank! owT
>Erschienen unter der Rubrik ZEITFRAGEN
>in der NEUEN ZÃœRCHER ZEITUNG,
>Samstag/Sonntag 4./5. April 1992, S. 25
>Der Untergang. der Sowjetunion
>und die politische Okonomie im Westen
>
>Von Dr. Werner Tabarelli, Jurist und Okonom, Honorarkonsul der Republik Ã-sterreich, Liechtenstein
>Auch Staatsuntergänge sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Das Osmanische Reich wurde vom Ersten Weltkrieg
>hinweggefegt, Frankreichs Ancien Regime verschwand im Chaos der Revolution. Die Sowjetunion hingegen hörte sang- und
>klanglos auf. Sie war wirtschaftlich und moralisch einfach am Ende. In seltsamem Gegensatz zu diesem Scheitern war es dem
>sowjetischen Propagandaapparat drei Generationen lang gelungen, im Westen die Vorstellung von einer ausserordentlichen
>wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems zu erzeugen. In den Schriften der illustersten Wissenschafter, im Denken
>westlicher Politiker und selbst in den Schulbüchern, nach denen unsere Kinder in Geschichte oder Religion unterrichtet
>werden, finden sich die Spuren dieser Geschichtsfälschung. Es ist an der Zeit, den nun wirklich nicht mehr übersehbaren
>Realitäten zu entsprechen und aufzuräumen.
>Der Mythos von der Vertragstreue der Sowjetunion
> Irgendwie schaffte es die kommunistische Propaganda, den Politikern, den Geschäftsleuten und den Bankern im
>Westen einzureden, dass es sich bei der Sowjetunion um einen ganz besonders verlässlichen Partner handle. Obwohl
>natürlich jeder wusste, dass dieser Partner in allen freien Ländern Wirtschaftsgeheimnisse stahl und agitatorische Wühlarbeit
>betrieb.
> Im Zuge der 1990 gegen den britischen Bergarbeiterpräsidenten Scargill erhobenen Veruntreuungsbeschuldigungen
>erfuhr man ganz nebenbei, dass der von ihm angezettelte rein politisch motivierte Bergarbeiterstreik in den Jahren 1984/85 mit
>Millionen aus der Sowjetunion finanziert war. Und das hatte Tradition: Schon in den zwanziger Jahren hatte Moskau die
>britischen Bergarbeiter mit hohen Beträgen bestochen. Der Ruf, absolut vertragstreu zu sein, den die Sowjetunion über
>Jahrzehnte mit Umsicht aufgebaut und gepflegt hatte, erlaubte es ihr im übrigen auch, binnen nur zwanzig Jahren seit 1970
>Kredite in Höhe von zuletzt rund 80 Milliarden Dollar im Westen aufzunehmen. Wobei man nach dem gigantischen
>Staatsbankrott vom Februar 1918 eigentlich hätte meinen sollen, dass niemand jemals wieder bereit sein würde, der
>Sowjetunion Geld zu leihen.
> Als am '10. Februar 1918 die Bolschewiken mit einem Paukenschlag alle «von den Regierungen der russischen
>Bourgeoisie» aufgenommenen Staatsanleihen für ungültig erklärten, wurden mit diesem Dekret internationale
>Zahlungsverpflichtungen des zaristischen Russland von nahezu 2 Milliarden Pfund Sterling vom Tisch gewischt. Nach heutigem
>Geld, über den Goldpreis umgerechnet, nicht ganz 200 Milliarden Dollar!
> Man müsse wohl, schrieb die NZZ am 17. Dezember 1991, «vom Mythos der, Sowjetuniön als eines über alle
>Zweifel erabenen Schuldners... Abschied nehmen». Denn kurz vorher hätten die Sowjets ihre Gläubiger wissen,lassen, dass
>sie -vorerstnicht mehr in der Lage seien, die von ihnen aufgenommenen internationalen Kredite zu bedienen. Und jene
>zweieinhalbtausend Tonnen Gold, die man im Westen immer als letzte Sicherheit für die sowjetische Aussenschuld betrachtet
>hatte, seien - sorry! auch verschwunden! 1
>
>Stabile Preise in einer sozialistischen Wirtschaft?
> Zum festen Schatz marxistischer Propaganda gehörte seit Generationen auch die unhaltbare Behauptung, dass nur
>unter den Verhältnissen einer Marktwirtschaft Inflation möglich sei. Vom Staat festgesetzte Preise seien sozusagen per
>Definition stabil. Das ist natürlich Unsinn, wie spätestens im letzten Jahrzehnt durch die Entwicklung in fast allen sozialistischen
>Staaten klargeworden ist. Dennoch hat sich derartiges selbst in unsere nationalökonomischen Lehrbücher eingeschlichen.
>Samuelson und Nordhaus etwa erliegen in ihrem berühmten Werk der sowjetischen Desinformation: «Was immer sonst die
>Fehler des Sowjetkommunismus sein mögen», verkünden sie vollmundig, «die Probleme einer offenen Inflation... gehören
>nicht dazu»?
> Die 74jährige Geschichte der Sowjetunion lehrt indes, dass gerade Preisstabilität nie etwas war, worauf
>kommunistische Machthaber hätten besonders stolz sein können! Gleich nach der Oktoberrevolution gab es die furchtbaren
>Geldwirren der frühen zwanziger Jahre. Der neue, per Dekret am 7. März 1924 eingeführte Rubel ersetzte ein Geld, das gerade
>noch ein Fünfzigmilliardstel des Vorkriegsrubels wert war! Und auch dieser Rubel von 1924 verlor rasch an Wert. Schon 1926
>war sein Schwarzmarktkurs um 60 Prozent gesunken. Auch zwischen 1928 und 1931 und dann natürlich im Krieg sind die
>Preise rasant gestiegen; vorsichtig gerechnet zwischen 1924 und 1949 auf das mindestens Fünfundzwanzigfache. Nicht gerade
>das, was man unter Preisstabilität versteht!'
> In den Fünfzigern und wohl auch in den sechziger Jahren waren die Preise in der Sowjetunion offenbar
>einigermassen stabil, wenngleich die Statistiken diesbezüglich kein einheitliches Bild vermitteln. Spätestens ab den frühen
>siebziger Jahren aber kam es auch in der ehemaligen Sowjetunion wie in allen Industriestaaten der Welt wieder zu einem
>stärkeren Anstieg der Preise. Zwischen 1960 und 1985 beläuft er sich auf etwa 35 Prozent und bis 1988 auf nochmals knapp 20
>Prozent. 1989 nahm er mit einer Jahresrate von 50 bis 100 Prozent dramatische Ausmasse an. 1990/91 ging die Entwicklung in
>eine Hyperinflation über mit Preissteigerungsraten von 300 bis 500 Prozent! Ende Dezember 1991 kostete Wurst in Moskau
>zwanzigmal soviel wie 1985. Eier waren 35mal so teuer. Butter gab es vor Präsident Jelzins Preisreform überhaupt nicht mehr
>zu kaufen!
>
>Vergleich: Rubel gegen Dollar
> Gewiss, auch anderswo sind über drei Generationen hinweg die Preise gestiegen. Für einen Dollar erhielt man 1930
>fast genau 11/z Gramm Gold; heute dagegen nur noch rund den siebzehnten Teil davon. Andererseits wurden nach Sedillot
>1930 am Schwarzmarkt in Moskau 50 Rubel für einen Dollar bezahlt; heute erzielt man, wie man täglich in der Zeitung liest,
>mindestens 100 Rubel pro Dollar. Hat der Rubel also im Verhältnis 100 zu 50, somit mindestens zweimal soviel, an Wert
>verloren wie der Dollar?
> Falsch! Denn der heutige Rubel ist um einen, Faktor 100 «schwerer» als Anfang der dreissiger Jahre. Die
>Sowjetregierung hat nämlich zweimal, 1947 und Ende 1960, das jeweils alte Geld für ungültig erklärt und zehn «alte» gegen
>einen «neuen» Rubel umgetauscht. Anders ausgedrückt: der Wertverlust des Rubels seit Anfang der dreissiger Jahre ist nicht
>bloss zweimal, sondern zumindest zweihundertmal so gross wie der des Dollars!
>
>Potemkinsche Dörfer heute
> Die Manipulation der öffentlichen Meinung, «systematische Agitation», wie man das schon am IX. Kongress der
>KPdSU Ende März 1920 in Moskau nannte, und zwar ausdrücklich «auch auf wirtschaftlichem Gebiet», ist für Kommunisten eine
>ausserordentlich wichtige Sache. Schon in den zwanziger und dreissiger Jahren gab Stalin für Auslandagitation Millionen aus.
>Im Laufe der Zeit wuchsen die diesbezüglichen Budgets beträchtlich an. In den achtziger Jahre beliefen sich die
>Gesamtausgaben dieses Apparates,;.der im übrigen, wie Vermaat berichtet,, eng. mit dem KGB verzahnt war, nach offiziellen
>Angaben. auf nahezu 2 Milliarden Dollar pro Jahr: die Tass verfügte über 550 Millionen; Novosti über 500 Millionen; «New
>Times» über 200 Millionen und der Auslandservice von Radio Moskau über 700 Millionen Dollar. 4)
> Je mehr man diesen Fragen nachgeht,' um so beklemmender wird einem klar, wie erfolgreich sowjetische
>Wirtschaftspropaganda das Denken der Menschen im Westen während Jahrzehnten geformt hat: Josef Schumpeter sah, wie
>viele vor und nach ihm, in den vierziger Jahren den baldigen Untergang des kapitalistischen Wirtschaftssystems voraus. John
>Kenneth Galbraith von der Harvard-Universität meinte 1984, das sowjetische System habe «deshalb Erfolg, weil es im
>Gegensatz zur westlichen Industriewirtschaft vollen Gebrauch von seinen Arbeitskräften macht». Die Analysten der CIA
>überschätzten, wie der wortgewaltige Daniel Patrick Moynihan der CIA.unlängst vorwarf, konsequent über Jahrzehnte hinweg
>ohne Ausnahme und erheblich die Grösse und das Wachstum der Sowjetwirtschaft. Und der Nobelpreisträger Professor Paul
>A. Samuelson behauptet in zahlreichen Auflagen seines bereits erwähnten Lehrbuches, dass angeblich -die Zuwächse der
>Wirtschaft in der ehemaligen Sowjetunion jene in den westlichen Industrieländern stets weit übertroffen hätten: «Tatsächlich»,
>verkünden Samuelson und sein Co-Autor mit einem Hauch von Begeisterung, «war das sowjetische Wirtschaftswachstum seit
>den zwanziger Jahren eindrucksvoll. Es verlief steiler als der langfristige Wachstumstrend in jeder Marktwirtschaft...»
>Deprimierende Wirklichkeit
> Rechnet man anhand der hier unterstellten Wachstumsraten nach, so hätte die Sowjetunion die Länder im Westen
>längst einholen, ja überholen müssen. Jedenfalls hätte sich der Abstand im Lebensstandard zwischen der Sowjetunion und
>dem Westen notwendigerweise verringern müssen! Das aber war eben nicht der Fall! «Wir lebten viel schlechter als andere
>entwickelte Länden, sagte Präsident Gorbatschew in seiner Rücktrittsrede am Abend des Weihnachtstages 1991, «und wir
>fallen immer mehr hinter diese zurück.» Den hungernden Menschen in der ehemaligen Sowjetunion musste man das freilich
>nicht erläutern; sie wussten es ohnehin! Der Anteil der Sowjetunion an der Summe des Sozialproduktes der grossen
>Industrieländer war seit den fünfziger Jahren keineswegs gestiegen, wie es nach Samuelsons These hätte sein müssen,
>sondern dramatisch zurückgegangen: von knapp 30 Prozent 1960 auf schätzungsweise bloss noch ein Zehntel im Jahre 1990!
> Aber es ist nicht etwa so, dass sich da erst in den sechziger Jahren irgendein Fehler ins System eingeschlichen
>hätte! Vielmehr führten schon die ersten Schritte der Sowjets Anfang der zwanziger Jahre zu einer verheerenden
>Wirtschaftskatastrophe. Der Sozialist Valentin Gitermann, ein bestimmt nicht böswilliger Kronzeuge, 5 schätzt, dass die
>gesamte Produktion in den Jahren 1921 /22 nur noch etwas mehr als zwei Fünftel des Standes von 1913 betrug und dass diese
>Einbusse erst 1927/28 wettgemacht werden konnte. Ausserdem wütete 1921 eine Hungerkatastrophe. In einzelnen
>Gouvernements gab es überhaupt keine Nahrungsmittel mehr. Millionen von Menschen liefen Gefahr, buchstäblich zu
>verhungern! Der Münchner Universitätsprofessor Fjodor Stepun, der diese Zeit in seiner Jugend durchlitten hatte, erinnert sich
>später daran mit den Worten: «Es fehlte in Moskau an allem. Die Menschen verhungerten zu Tausenden, starben an Typhus
>und «spanischer Grippe». Die um die Särge anstehenden Schlangen waren ebenso lang wie die auf Brot wartenden. Nur etwas
>gab es in hinreichender Menge Leichen in der Anatomie». 6)
>
>Stalins Fünfjahrespläne
> Ab 1928 wurde von eindrucksvollen jährlichen Zuwachsraten berichtet. Aber was bedeuten solche Zahlen in Tat und
>Wahrheit?
> Ota Sik, der in der Schweiz lebende frühere stellvertretende Ministerpräsident der Tschechoslowakei während des
>«Prager Frühlings»,' hat uns, was Wirtschaftsstatistiken aus kommunistischen Ländern betrifft, die Augen geöffnet: Erstens muss
>man dabei immer mit « beschönigten», d. h. gefälschten Daten rechnen - ein Sachverhalt, der im Zeitalter von Glasnost
>schliesslich sogar von sowjetischen Ã-konomen, etwa von Abel Aganbegyan, anhand einer Fülle von Beispielen bestätigt
>wurde." Zweitens ist es, wie Ota Sik gezeigt hat, unter den Verhältnissen einer sozialistischen Wirtschaft durchaus möglich,
>einerseits angeblich laufend die Produktion zu steigern, während in Wirklichkeit «der Lebensstandard der Bevölkerung
>unendlich langsamer wächst oder sogar stagniert>. Belege aus der ehemaligen Sowjetunion wurden ebenfalls im Zeichen von
>Glasnost nachgeliefert: Sik hatte darauf aufmerksam gemacht, dass sich das Sozialprodukt in der kommunistischen
>Planwirtschaft nach der Menge des verbrauchten Rohmaterials bemisst. In der Sowjetunion bestätigt sich dieser Sachverhalt
>dadurch, dass man dort doppelt soviel Stahl verbrauchte wie in den Vereinigten Staaten, obwohl die Zahl der Produkte aus
>Stahl nur einen kleinen Bruchteil der entsprechenden Anzahl in den USA ausmacht. Der Rest wird aus denselben Gründen
>häufig nicht einmal als Schrott verwertet, sondern einfach weggeworfen!
> Oder: In der Sowjetunion wurden um die Mitte der 80er Jahre 3;2 Paar Schuhe je Kopf der Bevölkerung (!) -
>insgesamt 800 Millionen Paar Schuhe pro Jahr erzeugt, die zum grossen Teil unverkäuflich waren. Dies war der einfachste Weg
>für die Schuhfabriken, ihre Produktionspläne zu erfüllen und dadurch in den Genuss ihrer Leistungsprämien zu gelangen. Auch
>auf diesen Mechanismus hatte Sik bereits-vor fast zwanzig Jahren hingewiesen!
> In solchem Licht betrachtet, verlieren selbstverständlich auch in der Periode von 1928 bis 1960 die offiziellen
>Wachstumsraten der sowjetischen Wirtschaft viel von ihrem Glanz. Und tatsächlich gibt es ein Anzeichen dafür, dass sogar
>Stalin mit den erzielten Ergebnissen nicht zufrieden war.
>
>War Russlands Wirtschaft 1917 «rückständig»?
> Stalin bemühte als Rechtfertigung der Wirtschaftsmisere den angeblichen Rückstand «um 50 bis 100 Jahre», den die
>Entwicklung der Wirtschaft im zaristischen Russland gegenüber dem Westen gehabt habe. Dies war eine notwendige Antwort
>auf die Frage, weshalb es den Sowjetbürgern trotz dem behaupteten enormen Wachstum ihrer Wirtschaft noch immer nicht
>besser ging als den Menschen im Westen.
> Im Laufe der Zeit ist durch ständige Wiederholprig aus dieser These von der wirtschaftlichen Rückständigkeit des
>Zarenreiches eine Ãœberzeugung geworden, die sich tief in unser Bewusstsein eingegraben hat. Selbst ruhige und sachliche
>Leute reagieren gereizt, wenn man diesen Sachverhalt in Frage stellt. Wobei wir ausdrücklich nicht von Demokratie reden und
>nicht von der Freiheit der Arbeiter oder von Menschenrechten, sondern vom Entwicklungsstand der Wirtschaft!
> Jede halbwegs seriöse wirtschaftshistorische Analyse widerlegt nun allerdings sofort und ganz offensichtlich diese
>These Stalins: Zwar hatte Russland mit seiner Industrialisierung spät begonnen, sie ging nach dem Debakel des Krimkrieges
>jedoch überaus dynamisch vor sich. Das russische Eisenbahnnetz, dessen Streckenlänge 1865 erst 3800 Kilometer betragen
>hatte, erstreckte sich 1913 über eine Gesamtlänge von 75 000 Kilometern, davon 17 000 im unwirtlichen asiatischen Teil des
>Landes. Zum Vergleich: Auf dem Gebiet des Deutschen Reichs waren bis 1920 erst 62 000 Kilometer gebaut worden. Die
>russische Handelsflotte zählte 1914 rund 3700 Schiffe, diejenige Preussens nur 2300. Im Bergbau, in der Rohstahlerzeugung
>und im Maschinenbau stand Russland 1913 jeweils an vierter Stelle der Weltrangliste, hinter den USA, Deutschland und
>Grossbritannien, vor Frankreich und weit vor Ã-sterreich-Ungarn.' Im übrigen findet sich auch in dem erstmals 1899
>erschienenen Werk Lenins «Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland» kein Wort von einer angeblichen Rückständigkeit,
>sondern Lenin schwärmt darin geradezu von den Erfolgen der Industrialisierung in seiner Heimat. Und in den schon erwähnten
>Beschlüssen des IX. Kongresses der KPdSU vom Frühjahr 1920 ist ebenfalls nicht von Rückständigkeit, sondern von den
>«grundlegenden Bedingungen für das wirtschaftliche Wiederaufblühen des Landes» die Rede!
> Es ist im höchsten Mass erstaunlich, dass das Märchen von der angeblichen Rückständigkeit Russlands bei uns im
>Westen unüberprüft und unwidersprochen so Karriere machen und selbst in die Geschichtsbücher eindringen konnte, nach
>denen unsere Kinder in der Schule heute unterrichtet werden!
>Der «neue Mensch»
> Ein grotesker Propagandaerfolg Lenins und seiner Erben war es schliesslich, die Intellektuellen im Westen von der
>ethischen und moralischen Überlegenheit des Sowjetsystems und der Behauptung überzeugt zu haben, der «neue Mensch» in
>der Sowjetunion sei nicht mehr auf Profit und Geld erpicht; ja der als «Profit» diffamierte Gewinn sei überhaupt etwas höchst
>Verwerfliches.
> John Maynard Keynes etwa entdeckt bei seiner 'Reise durch die Sowjetunion 1925, «dass im Herzen des
>russischen Kommunismus etwas... Belangvolleres lebt, (dessen)... ethischer Kern.. seinen Mittelpunkt in der Einstellung des
>Individuums und der Gemeinschaft zum Geld» habe (Short View of Soviet Russia, 1925). Und sogar den Kirchen erscheint
>mittlerweile alles, was mit «Profit» zu tun hat, als mehr oder weniger suspekt: Eine Untersuchung von etlichen hundert
>katholischen und evangelischen Religionsbüchern, die im Schulunterricht Verwendung finden, hat neben solchen mit
>ausgeprägt ideologischer Orientierung selbst in ideologisch unverdächtigen Schulbüchern erstaunliche Lehrinhalte entdeckt:
>Da wird das Leistungsprinzip mit Ausbeutung, industrielle Arbeit mit Galeerensklaverei, Rationalisierung mit profitorientierter
>Jobkillerei gleichgesetzt. 10)
> In Wirklichkeit hat der Sowjetkommunismus keines seiner Versprechen eingelöst: Mit Sicherheit waren die
>Menschen in der Sowjetunion nicht «moralischen» als im Westen. Nach allen Berichten ist die Sowjetgesellschaft heute [Anm.
>Galiani: also 1992!] sogar durchsetzt von krimineller Schattenwirtschaft und Korruption. Und auch in den zwanziger und
>dreissiger Jahren las man häufig von Verhaftungen und Verurteilungen wegen Eigentumsdelikten. 1928 etwa waren eine halbe
>Million Rubel Gewerkschaftsgelder verschwunden, und in den dreissiger Jahren erschoss Dserschinski als Verkehrsminister
>eigenhändig einen Bahnstationsvorsteher wegen finanzieller Verfehlungen.
> Die hochmütige Industrialisierung der Sowjets, die das Arbeiterparadies hätte schaffen sollen, hat ganze Landstriche
>unbewohnbar gemacht.- wir erinnern uns an den Atomunfall von Tscheljabinsk 1957, der bis 1988 verheimlicht worden war, oder
>an den von Tschernobyl 1986. Zwei Drittel der Sowjetbevölkerung verdienten 1986 wenige als jene 200 Rubel pro Monat, die in
>der Statistik als eine Art Armutsgrenze galten. Und die Lebenserwartung der Menschen in der ehemaligen Sowjetunion liegt 10
>Prozent unter der im Westen.
> Dennoch fand das alles seltsamerweise nie die gebührende Aufmerksamkeit - wobei vermutlich auch dabei die
>kommunistische Propagandamaschine ihre Hand im Spiele hatte! Selbst Stalins Massenmorde wurden verdrängt. Vom
>Pulitzerpreisträger Walter Duranty, der in den dreissiger Jahren Moskaukorrespondent der «New York Times» war, ist die
>Äusserung überliefert, mit der er über «ein paar Millionen toter Russen» hinwegging: «... Völlig unwichtig... Bloss eine
>Randerscheinung des mitreissenden Wandels, der sich hier abspielt...» Wie eine gefährliche Droge vernebelte die
>Propaganda der Sowjets den meistern Beobachtern aus dem Westen das Hirn.
> Die einzigen, die sich als immun dagegen erwiesen, waren einige ehrliche Sozialisten: Die Sowjetunion sei die
>Hölle, zitiert Lincoln Steffens die von dort zurückkehrende Emma Goldmann (Skandalbericht, 1974) [Anm. Galiani: Eine
>Kurzbiografie von Emma Goldmann aus der Ecyclopedia Britannica schließe ich am Ende bei.]. Im selben Atemzug aber
>macht er sich lustig darüber: Die Schwierigkeit der Sozialisten mit der neuen Sowjetunion sei, meinte er, dass sie am Bahnhof
>einen Bummelzug erwartet hätten, während ein Express an ihnen vorbeisause.
>Fußnoten:
> 1 Wall Street Joumal - Europe, 16. Nov. 1991.
> 2 P. A. Samuelson, W. D. Nordhaus: Economics, 1985; S. 776.
> 3 H. Nagler: Die Finanzen und die Währung der Sowjetunion, 1932; R. Sedillot: Le Draine des Monnaies, 1937; A. J.
> Brown: The Great Inflation 1939-1951, 1955.
> 4 Die Beschlüsse des IX. Kongresses der Kommunistischen Partei Russlands (Moskau, 29. März bis 4. April 1920),
> Leipzig 1920; § XIX, S. 34; U. Graf: Aktive Massnahmen - Eine Einführung in die sowjetischen Techniken der
>Beeinflussung, 1990; J. Bartun: KGB heute, 1983; J. A. E. Vermaat in: Problems of Communism, Nov. bis Dez. 1982;
>R Lewinson: Das Geld in der Politik, 1931.
> 5 V. Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee, 1939; S. 226.
> 6 F. Stepun: Das Antlitz Russlands und das Gesicht der Revolution - Aus meinem Leben: 1884-1922, 1961. S. 375.
> 7 0. Sik: Argumente für den Dritten Weg, 1973, 4. Kapitel.
> 8 A. G. Aganbegyan (hrsg. v. M. B. Brown): The Economic Challenge of Perestroika, 1988; Die Beispiele wurden
> von Aganbegyan auf einer Wirtschaftskonferenz 1988 in London erwähnt (Wall Street Journal - Europe, B. Fehr. 1988).
>Vgl. auch: S. Bialer: The Soviet Paradox: External Expansion, Internal Decline, 1987.
> 9 B. R Mitchell: European Historical Statistics 1750-1975, 1980; The Statesman's Year-Book, Statistical and Historical
> Annual of the States of the World, 75th Annual Publication, 1920.
> 10 M. Spieker: Flucht aus dem Alltag? Arbeit, Wirtschaft und Technik in den Schulbüchern des katholischen und
> evangelischen Religionsunterrichts, 1989.
>
>Britannica:
>Goldman, Emma
>(b. June 27, 1869, Kaunas, Lithuania, Russian Empire--d. May 14, 1940, Toronto, Ont., Can.), international anarchist who
>conducted leftist activities in the United States from about 1890 to 1917.
>The daughter of a government theatre manager, Goldman spent her early life in Königsberg, the capital of Prussia (now
>Kaliningrad, Russia), and St. Petersburg, the capital of Russia. She emigrated to the United States in 1885 and worked in a
>clothing factory in Rochester, N.Y., where she attended meetings of German socialists. Later she worked in New Haven, Conn.,
>where she met a group of Russian anarchists.
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<HR>
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