- Sehr interessanter Artikel aus der NZZ zum Thema Globalisierungsgegner - Mundus, 14.07.2001, 19:31
Sehr interessanter Artikel aus der NZZ zum Thema Globalisierungsgegner
Guten Abend alle zusammen,
ich habe heute in der NZZ diesen Artikel gelesen und ich dachte mir es wäre der Mühe wert ihn einzuscannen (auch mit Hilfe von OCR Software) und ihn dann hier in dieses gute Forum reinzustellen. Nach langem Hin und Her hoffe ich, daß er jetzt endlich lesbar ist und kaum mehr Fehler enthält.
Ich wünsche noch ein schönes Wochenende,
Mundus
P.S. Wer kann mir den letzten Satz übersetzen?:-)
Aus der Neuen Züricher Zeitung vom Samstag / Sonntag 14. - 15. Juli 2001:
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Tute bianche - eine Armee von Träumern?
Ein Bericht aus dem Mailänder Centro sociale Leoncavallo von Leonardo La Rose (Text) und Roger Wehrli (Bilder)
Unter den Manifestanten gegen den WTO - Gipfel in Seattle, die IWF - Konferenz in Prag und andere Veranstaltungen, die mit der Globalisierung in Verbindung gebracht werden, fiel eine Gruppe auf, die gleichsam in Uniform auftrat: In weisse, dick mit Schaumgummi ausgepolsterte Overalls gekleidet, die Gesichter mit einfachen Gasmasken und Schutzbrillen bewehrt, und an der Spitze des Zugs eine Wand aus miteinander verbundenen, aufgepumpten Lastwagenschläuchen oder eine Phalanx von Schilden aus Plexiglas - so gerüstet, traten die Tute bianche, die weissen Overalls, zum Sturm auf Polizeikordons und Strassensperren an. Weder Schlagstöcke noch Steine noch Molotowcocktails und Schleudern oder irgendeine der anderen Waffen, mit denen gewaltbereite Demonstranten oft wenig zimperlich sind, gelangten zum Einsatz Und doch schaffen es die Frauen und Männer in den weissen Overalls immer wieder, die Stimmen des Protestes zu denen zu tragen, die sie lieber nicht hören würden. - Die Tute bianche führen nur eine einzige Waffe ins Feld, eine zerbrechliche, auf den ersten Blick wenig effiziente und einschüchternde Waffe: den eigenen Körper, durch nichts geschützt als ein paar Lagen Schaumgummi und den Glauben an eine gerechtere Welt: “Wir sind eine Armee von Träumern, deshalb sind wir unbesiegbar”, heisst es auf einem Flugblatt. Aber die dürftigen Schutzmassnahmen lassen die Arsenale der Ordnungsmächte noch furchterregender aussehen, als sie ohnehin sind --ein unschätzbarer Vorteil in unserm visuellen Zeitalter.
Wer den weissen Overall überzieht, braucht weder ein Parteibuch, noch muss er - oder sie, denn viele tute bianche sind Frauen - sich einer Organisation anschliessen oder zu irgendeiner Ideologie bekennen. Zwar gehören die meisten Überzeugungen, die die Tute bianche vertreten, zum klassischen linken Kanon: Antikapitalismus, Antisexismus, Antirassismus und eine gute Portion Antiamerikanismus. Aber sie kennen weder Renegaten noch Dissidenten, sondern akzeptieren Menschen mit ihrer ganzen Vielfalt von Meinungen und Überzeugungen. Vorausgesetzt werden lediglich die Befolgung des Prinzips der “gewaltlosen Gewalt” und die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam.
So leicht die tute bianche an einer Demonstration zu erkennen sind, so schwierig sind sie im Alltagsleben aufzuspüren. Ein Hinweis führt nach Rom, in eines der autonomen Centri sociali an der Peripherie. Nach mehreren Versuchen der Kontaktaufnahme werden wir nach Mailand weiter verwiesen, ins Centro sociale Leoncavallo, von dort, heisst es, kommen die tute bianche ursprünglich her. Zwei Namen, Riccardo und Luca, und zwei Mobiltelefonnummern werden nachgereicht. Riccardo ist am Telefon vorsichtig, fast misstrauisch: Was wir wollen, von welcher Zeitung wir kämen, will er wissen und verweist auf zwei, drei Internetseiten, wo alles Wissenswerte über die tute bianche zu finden sei. Als wir insistieren und nach einer Gelegenheit fragen, sie in Aktion zu sehen, gibt er einen Termin an, dann einen weiteren: “Vielleicht gibt es da eine Manifestation, mal sehen, und am übernächsten Samstag ist hier die Informationsveranstaltung über unsere Aktion in Mexiko.”
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Das Centro sociale Leoncavalla liegt im Quartiere Greco, einer Gegend Mailands, in die es Touristen wohlweislich kaum verschlägt, denn wenn vom “Greco” in der Zeitung zu lesen ist, dann meist in der “Cronace”, den Berichten über Unfälle und Verbrechen. Durch eine mit Graffiti voll gesprayte Eisenbahnunterführung gelangt man zum Gebäude einer ehemaligen Grossdruckerei; es steht im Schatten dreier Wohnhochhäuser und gibt von aussen kaum einen Hinweis auf sein Innenleben. Die Fenster sind vergittert, die Türen mit Stahl armiert - man könnte das Haus für eine getarnte Festung halten. Zu dieser Morgenstunde ist noch fast niemand da. Zwei Männer, die den Boden kehren, weisen den Weg zum Sekretariat. Dort laufen drei, vier der rund zehn modernen Computer; vor dem einen sitzen drei Frauen und ein Mann und arbeiten an einem Radiospot für den alternativen Sender Onda di urto (Schockwelle). Auf die Frage nach Riccardo oder Luca gibt einer sich zu erkennen: “Ich bin Riccardo. Was wollt ihr?” Abgesehen von dem T - Shirt mit dem Kürzel “E. Z. L. N.” der zapatistischen Befreiungsarmee, sieht er nicht aus, wie man sich einen militanten Globalisierungsgegner vorstellt.
“Informationen zu den Tute bianche? Da”, er zeigt auf die zahlreichen Flugblätter, Informationsschriften und Untergrundzeitungen, “da findest du alles, was du über die Tute bianche wissen musst.” - “Die Menschen, die mitmachen, interessieren uns vor allem, ihr.” - “Wir? Wir sind unwichtig, non c´entriamo. Es geht hier nicht um Geschichtchen über Menschen, es geht nicht um Personen. Es geht um Wichtigeres, es geht um die Welt! Um Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt, eine Wirtschaftsordnung, die nicht die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer, Schluss mit neoliberalen Experimenten und mit IMF - Diktaten, die die Armen zwingen, die Suppen auszulöffeln, die ihnen ihre Führer mit gütiger Hilfe der internationalen Finanzoligarchie eingebrockt haben. Im Übrigen sollen sich die USA endlich aus Lateinamerika heraushalten und nicht etwa mit dem “Plan Colombia” versuchen, ihr heimisches Drogenproblem auf dem Rücken kolumbianischer Bauern auszutragen. Das sind wichtige Themen, über die sollt ihr schreiben, nicht über Leute und ihre Geschichten. Das spielt schlicht keine Rolle, bei uns hat es Arbeiter, Studenten, Angestellte, Hausfrauen, alles. Und auch die weissen Overalls sind nicht wirklich wichtig, sie sind nur ein Ausdruck, ein Mittel, ein Symbol, wenn du so willst. Man fragt uns dauernd dies und das, wie viele wir sind, woher wir kommen - was weiss ich.» Wieder steht in seinem Gesicht das Misstrauen. «Wer seid ihr genau? Und für welche Zeitung arbeitet ihr? Di che razza di giornale si tratta?»
Ein Engländer, der mit einem Ã-sterreicher zusammen an einem der Computer eine Pressemitteilung für das Network of Indepen-dent Journalists entwirft, wendet sich kurz um, streift mich mit einem spöttischen Blick und bedenkt die Zeitung mit einer wenig schmeichelhaften Qualifizierung. «Markus Sky», stellt er sich daraufhin vor, in einem Ton, der das Thema «Namen» unmissverständlich abschliesst. Dann bequemt er sich dazu, ein paar der Websites vorzuführen, die von der Antiglobalisierungs-Bewegung betrieben werden. Auf die Frage, ob das Internet in ein paar Jahren immer noch so frei und allen zugänglich sein werde wie jetzt, nickt er entschieden: «Sicher, denn je mehr sie uns zurückzudrängen versuchen, desto mehr werden wir Widerstand leisten. Und wir haben ein paar Leute, die verdammt viel von der Sache verstehen; es wäre ein ziemlicher Fehler, wenn man uns hier rauszudrängen versuchte. You know, tomorrow's terrorists may be able to do more with a keyboard than with a bomb.»
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Es geht gegen Mittag, und da die Küche im «Leoncavallo» erst abends in Betrieb ist, bestellt Carla Pizze bei einem Kurier. Während wir uns darüber hermachen, gesellt sich Carmen hinzu, eine der beiden «Mamme» des «Leoncavallo». Carmen ist über sechzig und hat den grössten Teil ihres Lebens dem Kampf für eine bessere Welt gewidmet. Als sie hört, dass Gäste aus der Schweiz da sind, beginnt sie in ihrer Handtasche zu kramen und fördert ein Fax in einer Plastic-Sichthülle zutage. Sie streicht das Dokument glatt und legt es neben mich auf den Tisch: «Da, schau, eine der Mamme der Plaza de Mayo in Buenos Aires wurde kürzlich schwer zusammengeschlagen, weil sie einen hohen Militär vor Gericht gebracht hat: Und was sagt die Polizei, die sie ruft, als sie aus der Bewußtlosigkeit wieder erwacht? Es sei ein normaler Überfall gewesen, ohne jede Beziehung zu der Sache mit dem Offizier. Dabei wurde nichts, rein gar nichts gestohlen. Komischer Überfall. Wie findest du das?» Ohne eine Antwort abzuwarten, durchsucht sie weiter ihre Handtasche, die offenbar ein ganzes Archiv birgt. «Ecco!», ruft sie triumphierend und legt eine Zeitschrift vor mich hin. «Schau, das ist ein Magazin für die in die ganze Welt emigrierten Bellunesi. Hier hat's zweitausend, dort zehntausend, dort fünftausend. Überall, auf der ganzen Welt, hat es Leute aus Belluno. Emigranten. Und warum wollen die in Belluno oder hier in Milano oder bei euch in der Schweiz jetzt die Immigranten rauswerfen? Vor hundert Jahren, ja noch vor fünfzig haben die Leute hier doch genau das Gleiche gemacht. Wer seinen Kindern nicht genug zu essen geben kann, geht doch dorthin, wo er Arbeit findet, ein Auskommen. Ah, dieser Rassismus, ich verstehe das nicht! Aber wir müssen dagegen kämpfen, Ich weiss doch selber, wie es ist. Du bist aus Zürich, ja? Ich habe fast zehn Jahre in Zürich gearbeitet. Und wenn du eine Wohnung gesucht hast, dann hat es geheissen: Nein, keine Tschinggeli, vero?»
Markus Sky schlendert herbei und legt mit einem maliziösen Lächeln eine Zeitung neben mich, die in Aufmachung, Lettern und Papierfarbe aufs Haar der «Financial Times» gleicht. Der Titel indes ist leicht modifiziert, er lautet jetzt: «Financial Crimes». -«Lies mal den Text auf der letzten Seite«, empfiehlt Sky und trollt sich. Der Text erweist sich als die Abschiedsrede John Swaintons, eines ehemaligen Chefredakteurs der «New York Times», der sein bitteres Fazit des Journalistenberufs mit den Worten beschloss:
«We are intellectual prostitutes.»
Ob sie es aufgegeben hätten, ihre Ziele auf rein politischem Weg zu erreichen, schliesslich lebten sie ja in einer Demokratie, versuche ich einen Einstieg, als wir wieder im Sekretariat sitzen. «Demokratie?» Riccardo schüttelt den Kopf und schaut mich an wie einen hoffnungslosen Fall. «Demokratie nennst du das, wenn einer, der sich für das Amt des Ministerpräsidenten bewirbt, fast die ganze Medienmacht in Händen halt? Oder findest du es demokratisch, dass die Polizei vor etwa drei Jahren hier eindrang, angeblich auf der Suche nach Drogen - wir schauen schon selber, dass wir hier keine harten Drogen haben, das kann ich dir garantieren - und sämtliche Gerate kurz und klein schlug. Hätten wir etwa Anzeige erstatten sollen? Bei den Carabinieri?»
Weiss ist die Summe aller Farben, das Nichts wie das Alles, das Neue, Unverbrauchte ebenso wie das Ewige; weiss sind traditionell auch die Geister der Nacht. Die Idee, weiss gekleidet zu demonstrieren, geht eigentlich auf eine Bemerkung des 1994 in Mailand regierenden Bürgermeisters zurück, der nach der Schleifung des ersten Centro sociale an der Via Leoncavallo die dort verkehrenden Menschen als Gespenster bezeichnete. Mit der Zerstörung des Zentrums, wähnte er, würden auch die Benützer verschwinden - ein Exorzismus, der nicht funktionierte, im Gegenteil. Die ursprünglich kleine Gruppe der Tute bianche begann rasch zu wachsen und sich zu verzweigen, zunächst in Italien, dann in Europa und schliesslich weltweit, und heute bilden sie, die sich in Spanien und Lateinamerika «Monos blancos» (weisse Affen) nennen, eine der aktivsten Organisationen (oder eher Nicht-Organisationen) von Globalisierungsgegnern und Umweltaktivisten: Die Gespenster sind zahlreicher geworden, als es sich der Bürgermeister in seinen schlimmsten Träumen hätte vorstellen können. Mit ihren weissen Overalls stehen sie gleichsam für alle «Gespenster» dieser Welt, die niemand wahrnehmen will - etwa die zahlreichen illegal in Ita-lien lebenden Ausländer, für die sich kein Mensch interessiert, solange sie nicht weiter auffallen und den Dreck wegräumen, für den sich die Italiener zu schade sind. In einer landesweiten Aktion machten die Tute bianche im Januar 2000 auf das Schicksal der «clandestini» aufmerksam und forderten für sie Rechte ein. In Mailand hatten sie sich vorgenommen, das Ausschaffungsgefängnis an der Via Corelli zu stürmen und dessen Aufhebung durchzusetzen. Nach stundenlangen Auseinandersetzungen musste sich die Polizei geschlagen geben, zumal sie vor laufenden Femsehkameras mit ihren Machtmitteln etwas mässiger umgehen musste als «off the records».
Zwei Hauptprinzipien, sagt Riccardo, bildeten das Fundament der Bewegung. Erstens gelte es, etwas wirklich Neues aufzubauen, weder rechts noch links, ohne Autoritäten, Hierarchien, Zentren, überhaupt ohne feste Strukturen; vielmehr wechselnde Allianzen von untereinander unabhängigen Gruppen und Einzelnen mit gleichen Zielen. Zweitens sei die Meinungsvielfalt entscheidend. Es gebe keine verbindliche Ideologie ausser der Überzeugung, dass die westlichen Demokratien bestenfalls als Pseudodemokratien
durchgehen konnten, wofür gerade Italien ein eklatantes Beispiel abgebe. Finanziert werden die Aktionen der Tute bianche mit Parties, Konzerten und weiteren kulturellen Veranstaltungen, die dem «Leoncavallo» einen festen Platz auf den Feuilletonseiten der wichtigsten italienischen Zeitungen garantieren.
Die Wände des Centre sind mit sämtlichen Ikonen der linken Mythologie dekoriert. Am meisten Platz beanspruchen Plakate, die an Fausto Tindelli und Iaio Fannucci erinnern, zwei regelmässige Benützer des ersten «Leoncavallo». Die beiden noch nicht Zwanzigjährigen wurden am 18. März 1978, zwei Tage nach der Entführung Aldo Moros, auf offener Strasse erschossen - hingerichtet wäre wohl der treffendere Ausdruck. Obwohl es Zeugen gab und zahlreiche Indizien, wurde das Verbrechen nie aufgeklärt. Auf einem der Plakate wird der Chef des als extrem rassistisch bekannten Fanclubs von Lazio Roma offen des Mordes beschuldigt, was
ihn scheint's nicht gross beeindruckte, hat er sich doch nicht einmal die Mühe gemacht, eine Verleumdungsklage einzureichen. Die eklatante Sehschwäche, die die Ordnungskräfte immer wieder auf dem rechten Auge bewiesen, indes das linke umso schärfer sah, hat bei den Linken Italiens das Vertrauen in den Staat und seine Organe irreparabel erschüttert. Ihre Taktik der «gewaltlosen Gewalt» verstehen die Tute bianche als Antwort auf diese Erfahrungen. In früheren Stadien ihrer Entwicklung wurden auch die Möglichkeiten von Terror, Sabotage und bewaffnetem Kampf diskutiert, jedoch als aussichtslos und kontraproduktiv verworfen. Einige der Ideen der Tute bianche basieren auf den Überlegungen des Philosophen Toni Negri zur Autonomie des Menschen. Die Erfahrung Negris, der trotz erklärter Distanz zum Terrorismus zu dessen Theoretiker erklärt wurde und nach langem Exil in Frankreich nun im Gefängnis sitzt, fügte das Element der Transparenz hinzu: Indem sie ihre Handlungsweise offen darlegen und begründen, wollen die Tute bianche den staatlichen Organen jede Möglichkeit nehmen, sie der Subversion zu bezichtigen. Den philosophischen Hintergrund zur Benützung des eigenen Körpers als Waffe gibt Michel Foucault: Der Körper ist, wie der Mensch als Ganzes, ein Objekt von Machtausübung. Die soziale und politische Kontrolle erstreckt sich auf ihn, und die Gesetze des Marktes degradieren ihn zur Ware. Sein selbst bestimmter wehrhafter Einsatz ist somit auch eine Form der Wiederaneignung.
Eine höchst motivierende Erfahrung war für die Tute bianche ihre erste Begegnung mit den Zapatisten im Jahre 1998. Endlich ergab sich eine Gelegenheit zum Kontakt und Austausch mit einer Gruppe aus der sogenannten Dritten Welt. Riccardo spricht von enger Verwandtschaft im Geist: «Wir wollen beide nicht die Macht um der Macht willen, sondern die Freiheit für alle Menschen dieser Erde und die Chance für jeden, ein menschenwürdiges Leben zu leben. Dass jetzt das Kapital frei zirkulieren kann, nicht aber die Menschen, sagt ja eigentlich alles. Und Gentechnologie, Nuklear- und andere Grosstechnologien, die sich im Besitz der westlichen, reichen Länder befinden, sind völlig ungeeignete Mittel zur Lösung der Probleme dieser Welt; sie führen viel eher zu einer weiteren Vertiefung des schon jetzt abgrundtiefen Grabens zwischen der sogenannt Ersten und der sogenannt Dritten Welt. Dagegen wehren wir uns - und mit uns immer mehr andere Men-schen, die die Fehler dieses Systems ebenso erkennen. Was ist denn wichtiger: der Mensch oder das Geld?»
Als sich die Zapatisten um Subcomandante Marcos in diesem Frühjahr in die Hauptstadt Mexikos aufmachten, begleitete sie eine gut hundertköpfige Schar von Tute bianche. Der mexikanische Präsident Fox hatte den Zapatisten wohl freies Geleit und Sicherheit versprochen, doch die Polizisten, die sich ihrer als Leibwächter hätten annehmen sollen, kamen just aus den Reihen derer, die mit ihnen am liebsten kurzen Prozess gemacht hätten - die Katze taugt wenig als Leibwächter der Maus. - Auf ihrem Marsch in die Hauptstadt gelangten die Zapatisten zu einem Militärstützpunkt. Hunderte, Tausende von ihnen bewegten sich langsam, unbewaff-net, in ständigem Blickkontakt mit den unsicher werdenden Solda-ten, auf das Camp zu. Und weil sie so eine Beziehung zwischen «Angreifern» und Soldaten herstellten, fühlten sich diese außerstande, zur Waffe zu greifen, bis sie umringt waren und die Zapatisten ihnen die Gewehre abnahmen, sanft fast, ohne ein Zeichen von Hass und Aggression.
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Weit weniger friedlich dürfte indes das Zusammentreffen von Tute bianche und Polizei in Genua verlaufen, wo die Aktivisten die Durchführung des G-8-Gipfels vom 20. bis zum 22. Juli verhindern wollen. Auch bei der Planung dieser Aktion legen sie Wert auf Transparenz. Die Orientierungsveranstaltung für Sympathisanten, Presse und wohl auch Polizeispitzel erinnert ironischerweise an die Medien-Briefings während des Golfkrieges: Riccardo steht mit einem Zeigestock vor einer Computer-Projektion, die zunächst eine Luftaufnahme von Genua zeigt und danach einen schematisierten Plan mit den wichtigsten Eisenbahnlinien und Strassen, die in die Stadt führen. Besondere Aufmerksamkeit wollen die Tute bianche dem Flugplatz widmen, der in den Tagen des Gipfels geschlossen sein wird. Seine lange meerseitige Front bietet ideale Bedingungen für eine Landeaktion. Zu diesem Zweck sollen aus Lastwagenschläuchen Hunderte von Flossen gebaut werden, so dass die schiere Zahl den Ordnungskräften ein vollständiges Abfangen verunmöglichen werde. Zugleich werde eine andere Gruppe versuchen, auf dem Landweg in die Stadt zu kommen. Ziel ist die Belagerung und Erstürmung der Zona rossa mit dem Castello Ducale, wo die Konferenz stattfinden soll.
«Wir wehren uns dagegen», ruft Luca den Pressevertretern zu, «dass die Zeitungen uns zu kriminalisieren versuchen. Die Gewalt wird in der Tat in Genua sein: in Gestalt jener acht Leute, deren Entscheidungen Zehntausenden den Tod bringen könnte, Hunger, Arbeitslosigkeit, Elend und Ausgrenzung. Das ist die wahre Gewalt! Wir wehren uns aber auch dagegen, dass man versucht, die Demonstranten in Genua in vier Gruppen einzuteilen, “die Guten, die ein bisschen Guten, die Schlechten und die ganz Schlechten”. Wir sind solidarisch mit den anderen Gruppen, auch wenn wir ihre Methoden nicht immer billigen: “Unsere Ziele sind die gleichen!”
Am Schluss der Informationsveranstaltung erhebt sich ein älterer Compagno aus Livorno, der Genua gut kennt. Mit leiser Stimme erzählt er von Leuten, die an Demonstrationen schwer verprügelt worden seien, obwohl sie sich, wie befohlen, auf den Boden gelegt oder die Hände erhoben hätten. Er spricht davon, dass es normal sei, Angst zu haben, dass auch er Angst habe, weil das, was sie zu gewärtigen hätten, sehr schlimm sein könne. Deshalb sollten die, welche schon jetzt Angst hätten, besser nicht kommen, denn sonst könnten sie unter den anderen eine Panik auslösen, das Schlimmste überhaupt. Es ist einen Moment lang still, doch die anwesenden Tute bianche sehen nicht aus, als würden sie zittern. Gehört Angst nicht immer ein wenig dazu, wenn man Hoffnung hat? Und Angst werden auch die Polizisten in Genua haben, vielleicht nicht unbedingt vor den Tute bianche, obschon auch von ihnen nichts Angenehmes zu erwarten sein wird. Ob die Geschichte mit den mittelalterlichen Katapulten stimme, die das italienische Nachrichtenmagazin “Panorama” kolportierte, frage ich Riccardo, und was denn damit auf die Ordnungshüter geschleudert werden solle. “Si, è vero”, sagt er grimmig lächelnd, “lanciamo la merda”.
Verantwortlich für diese Beilage:
Margret Mellert, Christian Güntlisberger
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