- Real-Enzyklopädie (7): Urschuld - dottore, 17.07.2001, 17:19
- Re: Real-Enzyklopädie (7): Urschuld - Fontvieille, 17.07.2001, 18:44
- Re: D'accord und besten Dank! (owT) - dottore, 17.07.2001, 18:48
- @dottore: Zum"Äufnen von Kapital", zur"Urschuld" und anderem - Galiani, 18.07.2001, 02:36
- Re: Zwei Seelen, ach... Wer ist der"Conscius"? - dottore, 18.07.2001, 13:32
- @dottore: OK, lassen wir's dabei! Grüße! Ihr"schizo-Urschuld-Mensch" G. (owT) - Galiani, 18.07.2001, 17:56
- Re: Zwei Seelen, ach... Wer ist der"Conscius"? - dottore, 18.07.2001, 13:32
- Re: Real-Enzyklopädie (7): Urschuld - Fontvieille, 17.07.2001, 18:44
Re: Zwei Seelen, ach... Wer ist der"Conscius"?
Lieber Galiani,
zunächst besten Dank für die netten Worte.
>Dennoch bekenne ich, daß ich auch nach Studium dieser letzten sehr kenntnisreichen Abhandlung von Ihnen immer noch nicht so recht an die"Urschuld" glaube. Ich hege den schrecklichen Verdacht, daß die"Urschuld" nichts anderes ist als das biologische Postulat der Spezies, zu überleben.
Ihr Verdacht trügt Sie nicht. Zunächst existiert in der Tat der Überlebenswille. Allerdings manifestiert sich dieser Wille nicht nur dadurch, dass der Mensch Gefahren ausweicht, sondern dass er laufend für sich selber sorgen muss.
Dieser Zwang ("muss") lässt sich ökonomisch fassen, indem wir zunächst ganz simpel fragen, mit welchen"Mengen" an Lebensmitteln (= Mittel, um zu überleben) ein Mensch im Laufe seines Lebens rechnen muss. Gehen wir von 2000 Kalorien pro Tag aus, kommen wir auf viele Millionen Kalorien, die sich der Mensch im Laufe eines Lebens zuführen muss, um nicht unterzugehen.
Viele Möche des Mittelalters, so las ich jüngst in einer Geschichte der Nahrungsmittelaufnahme, nahmen sogar bis zu 7000 Kalorien täglich zu sich (daher die Mönchsdarstellungen mit rundem Bauch und rosigen Wangen). Radsportler wie Jan Ullrich müssen pro Tag bis zu 20.000 Kalorien zu sich nehmen, umd die Strapazen der Tour zu bewältigen.
Die Kalorien werden heute nicht mehr in platten Einheiten dagestellt, sondern wir erleben sie in Form von allerlei Waren, auch Getränken. Die unmittelbar und täglich benötigte Kalorienzufuhr ist mit Hilfe der Preise der Waren auszurechnen, die sich inzwischen gebildet haben. (Die Radsportler nehmen vor allem Nudeln zu sich, die natürlich etwas kosten, dazu kommt die Zubereitung, die Aufnahme von Flüssigkeit usw.).
Gewiss kann jeder die Art seiner Kalorienzufuhr gestalten wie es ihm beliebt, aber am Zwang zur Zufuhr kommt er nicht vorbei. Man kann statt Spaghetti vielleicht Kaviar essen, statt zuckerhaltiger Coca Cola Champagner wählen, aber letztlich führt an einer Auspreisung des Lebensmittels kein Weg vorbei. Denn wäre das Mittel nicht erhältlich, trüge es keinen Preis.
Auch in bescheidensten Tauschwirtschaften tausche ich nicht Fleisch gegen Brot, um zu tauschen, sondern um entweder vom Fleisch oder vom Brot anschließend zu leben.
So ergibt sich Tag um Tag der Zwang, ein bestimmtes Gewicht (und heute eine bestimmte Summe) zur Verfügung zu haben, um das abzutragen, was ich unter"Urschuld" verstehe. Das selbe existiert nicht nur für die Kosten des Lebensunterhaltes, sondern auch für die des"Lebensaufenthaltes": Ich muss entweder zur Miete leben (Summe) oder im eigenen Haus, das aber seinerseits ebenfalls finanziert und laufend unterhalten werden muss (Summe).
Der Betrag, den ich allein täglich aufwende, um diese Urschuld zu bewältigen, liegt im Schnitt bei 80 CHF (incl. Benzin, Genussmittel usw.). Könnte ich diese 80 CHF nicht selbst aubringen (gegen Leistungen am Markt), müsste sie ein anderer für mich aufbringen.
Die Summe, die ich (oder ein anderer) zur Abtragung dieser meiner, inzwischen bescheiden und damit niedriger als früher gewordenen Urschuld aufbringen muss, liegt also bei knapp 30.000 CHF im Jahr. Ich könnte sie noch senken (Tram statt Auto, keine Genussmittel mehr usw.), aber irgendein Betrag wird übrig bleiben. Vielleicht 12.000 CHF?
Da meine Lebenserwartung noch bei ca. 20 Jahren liegt (Versicherungstabelle), komme ich an den 20 x 12.000 CHF nicht vorbei. Das Kapital (hier: meine früheren Einkünfte), das ich - in Eidgenössischen Anleihen zu 5 % angelegt - mindestens benötigen würde, um die 12.000 CHF p.a. daraus in Form von Zinsen (= meinem Einkommen, Steuern mal außen vor) zu erhalten, beliefe sich also auf 240.000 CHF. Es anzutasten wäre gefährlich, da ich nicht wissen kann, ob ich nicht noch 25 oder gar 30 Jahre vor mir habe (Leibrenten lassen wir weg).
So habe ich dann in meiner ganz persönlichen Bilanz auf der Aktivseite die 240.000 CHF als Vermögen stehen (der Begriff"Kapital" passt jetzt nicht mehr, da ich die 240.000 CHF als etwas verbuche, das mir Einkünfte verschafft, was eine Passivverbuchung ausschließt) und auf meiner Passivseite die entsprechend hohe Urschuld. Die arbeite ich nicht mehr selbst ab, da ich in diesem Beispiel ausschließlich von den Erträgen meines Vermögens leben möchte.
Die Schwierigkeit, mit dem Problem der Urschuld umzugehen, liegt vor allem darin, dass der Mensch nicht bilanziert, weil er sich selbst gegenüber kaum jemals Rechnung legt. Wer es aber tut, erkennt sehr schnell, was Sache ist: dass jeder von uns leider sich selbst"etwas schuldig ist". Wer diese Schuld dann abträgt, ob er selbst durch laufende Markteinkommen oder ein Vermögen, wobei dann andere für mich arbeiten oder Rentenansprüche, für die das nämlich gilt, spielt keine Rolle.
Ich bestehe nun durchaus nicht auf diesem Konstrukt, das gern als"weit hergeholt" betrachtet wird, wie ich aus vielen Diskussionen weiß. Aber ich empfehle jedem, sich das - und sei es nur als Gag - für sich selbst durchzurechnen. Er wird staunen. Danach kann er es gern wieder vergessen und weiter in den Tag hinein leben - in der Hoffnung, alles würde sich schon richten.
Aber dadurch, dass Zeit verstreicht, richtet sich leider nichts.
>Aber im Ernst: als Jurist war ich immer der Ansicht, daß der Begriff der Schuld, auch in seiner doppelten Bedeutung, sowohl als debitum wie auch als culpa stets zwei Parteien voraussetzt, einen Gläubiger und einen Schuldner.
Natürlich haben Sie Recht. Wer aber noch abstrakter als dies Juristen tun, denkt, kommt zu der verblüffenden Erkenntnis, dass das Phänomen"Mensch" durchaus aus zwei Parteien besteht. Einer, der die Schuld hat und einer, der sie für ihn abträgt.
Dies ist so ähnlich beim Phänomen"Staat", dessen Gläubiger (Bürger als Halter der Staatstitel) und Schuldner (gleiche Bürger als Steuerzahler) nicht unterschieden werden, da sich der Staat ebenso als"Einheit" versteht, was er in Wahrheit aber auch nicht ist.
>Selbst wenn man den eigentlichen ökonomischen Bereich verläßt, mag ein Mensch zwar die Pflicht zu einem gewissen Verhalten gegenüber anderen, gegenüber der Allgemeinheit etwa, haben. Er mag es anderen gegenüber"schuldig" sein und bußfällig werden, wenn er seine Pflichten verletzt. Der Fromme wird sich Gott gegenüber zur Einhaltung von Geboten verpflichtet fühlen.
Das ist richtig. Weshalb wir aber auch von einem Verlassen des"ökonomischen Bereiches" sprechen. Religiöse Verpflichtungen existieren nur in der spirituellen Vorstellungskraft und nicht in der Realität des zu lebenden Lebens bzw. Über-Lebens, das ich mir nicht nur vorstellen darf, sondern das ich über meinen Lebenszeitraum hinweg ganz unmittelbar, persönlich und physisch, bewältigen muss. Interessant ist, dass es"Opfer" gibt oder gegeben hat, also den Versuch, die (vorgestellte) Schuld gegenüber der Gottheit abzutragen.
Bernhard Laum, der hoch bedeutende Geldhistoriker leitete vor ca. 75 Jahren schon die Entstehung des Geldes aus dem Opfer ab. Und zwar aus einer Verbringung von Edelmetall in Tempel, die erst Schatzhäuser wurden (was im Grunde alle Tempel waren) und dann - je nach kulturellem Brauch - dieses Metall dann verliehen haben. Darüber existiert hin bis Heinsohn/Steiger eine umfangreiche Literatur.
>Sich selbst aber kann meiner Überzeugung nach niemand etwas"schuldig" sein. Selbst wenn jemand sagt:"Ich bin mir das oder jenes schuldig", so meint er das im übertragenen Sinn, daß er nicht die Werthaltungen seines"bessern Ich's" verletzen möchte. Der philosophische Wiener Komödienschreiber Nestroy hat das einmal so ausgedrückt:"Wer wird jetzt das Richtigere tun? Der i oder der i?"
Nestroy war, wie so viele, die sich scheinbar närrisch geben, durchaus auf der richtigen Spur.
Dazu noch ein äußerst wichtiger Gedanke: Das Wort"Gewissen" deutet schon in Richtung"Wissen" und zwar in dem Sinne, dass es zwei"Ichs" gibt, die beide dieses Wissen miteinander teilen (nach außen dringt nichts).
Das lateinische"Conscientia" (con = zusammen, gemeinsam, scire = wissen) macht es noch deutlicher: Der "Conscius" ist ein Zweiter (der Mit-Wisser) und zwar in uns selbst. Diesen, nur vermeintlich religiösen Hinweis verdanke ich P. Dr. Angelus Waldstein, dem ehemaligen Prior des Klosters Ettal, einem entfernten Verwandten des Feldherrn Wallenstein übrigens.
>Und so bin ich denn nach wie vor zwar mit Ihnen der Meinung, daß die Verschuldung unserer Welt das Symptom einer tiefsitzenden Krankheit ist. Daß jedes Neugeborene qua Staatschuld schon von allem Anfang an eine beträchtliche Schuldenlast zu tragen hat, ist ein moralischer Skandal, an dem die Demokratie zugrunde gehen wird. Ich gehe auch mit Ihnen darin d'accord, daß es wahrscheinlich eher früher als später ökonomisch ein böses Erwachen geben wird. Denn immer nur hochzubuchen, führt zu Verzerrungen, zur Fehlallokation von Resourcen, wie wir Ã-konomen sagen, was irgendwann - und nochmals: wahrscheinlich in gar nicht so ferner Zukunft!; auch da haben Sie zweifellos recht! - sehr schmerzhaft korrigiert werden wird. Aber ich bezweifle, daß - in einer fundamentalen, in einer grundsätzlichen Weise, - Schulden ein theoretischer Konstruktionsfehler sind, der sozusagen dem lieben Gott bei der Erschaffung der Welt unterlaufen wäre.
Bei der Erschaffung, wenn wir den Mythen Glauben schenken, nicht. Worauf läuft letztlich die Paradiesgeschichte der Bibel hinaus? Auf einen Konsum ("Apfel"), der böse Folgen hatte: Die Menschen wurden aus dem Paradies vertrieben und können sich nicht mehr im Garten Eden"kostenlos" bedienen. Sie müssen hinfort"im Schweiße ihres Angesichts" tätig sein, um sich selbst zu erhalten, sprich wiederum zu konsumieren.
In allen Mythen steckt ein höchst realer Kern. Ich glaube, in diesem Beispiel ist es die Tatsache, dass dem Menschen bewusst (wiederum"scire") wurde, dass er nicht mehr alles so genießen kann, wie die Natur es schenkt, sondern dass er dafür arbeiten (= leisten) muss.
Herzliche Grüsse zurück!
d.
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