- Rezessionen sind der Schlüssel zu mehr Lebensqualität - YIHI, 14.09.2001, 16:45
Rezessionen sind der Schlüssel zu mehr Lebensqualität
© Cash; 2001-09-14; Seite 33; Nummer 37
Arbeitszeit
Weniger bringt viel mehr
Rezessionen sind der Schlüssel zu mehr Lebensqualität. Leider wird die Chance kaum genutzt.
Massenentlassungen werden wieder Mode. Offenbar hat man aus den Erfahrungen der Vergangenheit nichts gelernt. Diese zeigen nämlich, dass Rezessionen die Lebensqualität erheblich verbessern können - sofern man die Arbeit umverteilt, statt Leute zu entlassen.
Werner Vontobel
Es tönt unglaublich, ist aber wahr: Eine Rezession könnte ein Ereignis sein, das alle herbeisehnen und das gerade deshalb viel zu schnell vorbeigeht. Diese Sicht der Dinge gründet sich auf zwei wissenschaftlich erhärtete Tatsachen:
1. Wir arbeiten zu viel. Der hohe zeitliche Aufwand für Arbeit und Arbeitsweg ist einer der Hauptgründe für allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben und für schlechte Gesundheit, Arbeitsunfälle usw. Eine gesamteuropäische Umfrage zeigt zudem, dass nur 11 Prozent der (Teilzeit-)Beschäftigten lieber mehr, aber 49 Prozent weniger lang arbeiten möchten. Per saldo wird trotz Einkommenseinbussen eine Reduktion von 5 Wochenstunden gewünscht.
2. Eine Verteilung der (in Rezessionszeiten) abnehmenden Arbeitszeiten innerhalb des Betriebs ist nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch betriebswirtschaftlich machbar und sinnvoll. Dies gilt nicht unbeschränkt, aber doch in einem Ausmass, das bei weitem ausreicht, um die negativen sozialen Folgen einer Rezession abzufedern.
Die Gesundheit richtet sich nach der Beschäftigungslage
Wirtschaftspolitiker glauben, dass ein Aufschwung mit steigender Arbeitsnachfrage gut, Rezessionen mit abnehmender Beschäftigung aber schlecht seien. Die Realität ist viel differenzierter. So zeigt sich etwa, dass das mit dem Aufschwung verbundene steigende Bruttosozialprodukt keinerlei Zunahme der Lebensqualität mit sich bringt. Hingegen belegen diverse Studien, dass längere Arbeitszeiten die Lebensqualität und die Gesundheit beeinträchtigen. So gesehen sind Rezessionen gut, weil und insofern sie Gelegenheit zur Verkürzung der Arbeitszeiten bieten.
Eine neue Studie aus den USA bestätigt dies: Ein Vergleich von 50 US-Staaten in den Jahren 1972 bis 1991 zeigt, dass sich der Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung insgesamt sowie acht von zehn einzelnen Gesundheitsindikatoren jedesmal verschlechtern, wenn die Beschäftigung zu- und die Arbeitslosigkeit abnimmt. Die jüngeren Arbeitnehmer sind davon besonders betroffen. So führt eine Zunahme der Beschäftigung um einen Prozentpunkt dazu, dass der Anteil der krankgeschriebenen Arbeitskräfte innerhalb von zwei Jahren um 36 Prozent steigt. Auch gesundheitliche Schäden durch Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Rückenschäden usw. nehmen mit sinkender Arbeitslosigkeit deutlich zu. Es gibt zwei Ausnahmen: Selbstmorde und psychische Schäden wie Depressionen nehmen zu, wenn es mehr Arbeitslose gibt.
Wer zu viel arbeitet, lebt weniger gesund
Der Grund für diese Entwicklung liegt offenbar darin, dass eine zunehmende Beschäftigung weniger Raum und Zeit für die Gesundheitsvorsorge lässt. Die arbeitende Bevölkerung treibt in Zeiten des Aufschwungs weniger Sport, raucht mehr, nimmt an Gewicht zu und ernährt sich schlechter. Zudem nimmt die Gesundheitsgefährdung am Arbeitsplatz selbst zu. All dies wiegt schwerer als der Umstand, dass der mit der Sorge um den Arbeitsplatz verbundene Stress in der Rezession grösser wird.
Zumindest die kleinen Rezessionen der Siebziger- bis Neunzigerjahre trübten das Lebensglück offenbar viel weniger, als Ã-konomen bisher angenommen haben. Die Bilanz könnte noch viel positiver ausfallen, wenn es gelänge, die Arbeit besser zu verteilen und die Arbeitszeiten zu verkürzen. Das ist nicht ganz einfach. Obwohl die Arbeitsproduktivität weiter zugenommen hat, ist der langfristige Trend zu kürzeren Arbeitszeiten vor gut 20 Jahren zum Stillstand gekommen. Die Nachfrage nach mehr freiwilliger Freizeit ist blockiert worden, was - zu mehr unfreiwilliger Freizeit bzw. Arbeitslosigkeit geführt hat.
Die Krise der Neunzigerjahre hat nun aber (einmal mehr) gezeigt, dass gerade die Rezession die Chance bietet, diese Blockade zu durchbrechen. Das bekannteste Einzelbeispiel dafür ist die 28,8-Stunden-Woche bei Volkswagen. Frankreich hat sogar generell die 35-Stunden-Woche eingeführt. Das neueste Beispiel liefert die Beratungsfirma Accenture, die ihren Angestellten einen «Sabbatical» von 6 bis 12 Monaten zu 20 Prozent des Lohnes bietet.
Die Zwischenbilanzen sind rundum positiv
Inzwischen ist für die meisten dieser Experimente die Zeit für eine erste Zwischenbilanz gekommen. Sie fällt fast durchweg positiv aus: Bei Volkswagen sind die Gewinne und der Cashflow seit 1993 praktisch nur gestiegen. Frankreichs Bruttosozialprodukt wächst seit 1998 deutlich schneller. Und vor allem: Die Leute, die ihre Arbeitszeit verkürzt haben, sind auf den Geschmack gekommen. Bei Volkswagen etwa zeigte sich trotz einer Lohneinbusse von 16 Prozent nur jeder Sechste unzufrieden mit dem Experiment. Bei Tamedia, wo mit einer zehnprozentigen Arbeitszeitreduktion Entlassungen verhindert wurden, würden 50 Prozent der Betroffenen trotz voller Lohneinbusse weiterhin reduziert arbeiten. In Frankreich hat die 35-Stunden-Woche zu einem neuen Lebens- und Freizeitgefühl geführt.
Eine produktive Wirtschaft ist dringend darauf angewiesen, dass immer mehr Leute immer mehr Freizeit wollen. Offenbar braucht es ab und zu eine Rezession, um diese Nachfrage anzukurbeln.
Quellen: · Eberhard Ulich (Hrsg.), «Beschäftigungswirksame Arbeitszeitmodelle», vdf Hochschulverlag, 2001.
· Christopher J. Ruhm, «Economic Expansions are Unhealthy: Evidence from Microdata», NBER Working Paper 8447, 2001.
«Die Teilnahme der Mutter am Modell hat dazu geführt, dass mehr Zeit für das Familienleben zur Verfügung steht. Während normalerweise jedes Familienmitglied für sich selbst das Frühstück zubereitet, wird am BAM-Tag ein gemeinsames Frühstück eingenommen. Die beiden älteren Kinder (15- und 18-jährig) schätzen es auch sehr, dass am BAM-Tag ein gemeinsames Mittagessen eingenommen wird, was sonst nur am Wochenende der Fall ist. Neben den gemeinsamen Familienaktivitäten erfahren die Kinder ihre Mutter als erholter, weniger nervös und fröhlicher. Diese Erfahrungen sind für die Kinder eine Bestätigung, dass der Freizeitgewinn die Lohneinbusse bei weitem übersteigt.»
Protokoll eines Gesprächs mit der Familie einer Frau, die am beschäftigungswirksamen Arbeitszeitmodell (BAM) der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich teilnimmt. Bei 20 Prozent weniger Arbeit (1 Tag pro Woche) beträgt die Lohneinbusse 13,3 Prozent.
«Seit ich diese Arbeit mache, bin ich sehr zufrieden. Ich verstehe mich auch mit meiner Frau besser. Vorher war ich immer nervös, weil ich keine Arbeit hatte und meine Frau auch nicht. Sie war krank, die Zeit verlief, es wurde nicht besser. Ich fühle mich jetzt sehr gut.»
Teilnehmer am Solidaritätsmodell der Schweizer Post
Mehr Qualität gefragt
Anteil der Arbeitskräfte, die mehr Zeit mit der Familie verbringen möchten, in Prozent
Land ein wenig mehr viel mehr
USA 46 39
Frankreich 41 40
Grossbritannien 36 38
Deutschland 26 47
Schweiz 23 47
Italien 21 43
Illustration: Eugen U. Fleckenstein
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