- Was ist"gerecht"? - dottore, 19.09.2001, 13:41
- Du bezeichnest Dich doch als Christen - Ghandi, 19.09.2001, 15:32
- Re: Du bezeichnest Dich doch als Christen - dottore, 19.09.2001, 16:30
- umsonst ist der Tod - und der kostet das Leben - Ghandi, 19.09.2001, 21:28
- Re: Ganz und gar nicht einverstanden! - Euklid, 19.09.2001, 23:40
- Re: Ganz und gar nicht einverstanden! - Cujo, 19.09.2001, 23:47
- Re: Ganz und gar nicht einverstanden! - Euklid, 20.09.2001, 00:35
- Re: Ganz und gar nicht einverstanden! - Cujo, 19.09.2001, 23:47
- Re: Missverstandener Zins: Seine Nichtbezahlung (!) ist das Problem - dottore, 20.09.2001, 12:02
- Re: Missverstandener Zins - Danke, Erklärung ist ein Meisterwerk!!! owt. - Lemmy, 20.09.2001, 12:36
- Re: Missverstandener Zins: Seine Nichtbezahlung (!) ist das Problem - Euklid, 20.09.2001, 15:38
- Re: Ganz und gar nicht einverstanden! - Euklid, 19.09.2001, 23:40
- umsonst ist der Tod - und der kostet das Leben - Ghandi, 19.09.2001, 21:28
- Re: Du bezeichnest Dich doch als Christen - dottore, 19.09.2001, 16:30
- Re: Was ist"gerecht"? / dazu: Benjamin Davy - Caspar, 19.09.2001, 15:46
- Re: Was ist"gerecht"? / dazu: Benjamin Davy - dottore, 19.09.2001, 17:52
- Re: Was ist"gerecht"? / dazu: Benjamin Davy - Caspar, 19.09.2001, 21:15
- Re: Was ist"gerecht"? / dazu: Benjamin Davy - dottore, 19.09.2001, 17:52
- Re: Was ist"gerecht"? - mguder, 19.09.2001, 16:16
- Re: Was ist"gerecht"? - André, 19.09.2001, 17:08
- Re: Ja, die moralische Einstellung muss (und wird) sich komplett ändern! (owT) - dottore, 19.09.2001, 17:59
- Re: Was ist"gerecht"? - Verliernix, 19.09.2001, 17:52
- Re: Was ist"gerecht"? - riwe, 19.09.2001, 18:51
- Re: Was ist"gerecht"? - dottore, 19.09.2001, 19:49
- Du bezeichnest Dich doch als Christen - Ghandi, 19.09.2001, 15:32
Was ist"gerecht"?
Da über dieses Thema Bibliotheken geschrieben wurden, möchte ich nur kurz die letzten beiden Bücher von Belang zu diesem Thema erwähnen:
Donald Dworkin, Sovereign Virtue: The Theory and Practice of Equality. Harvard University Press. 2000. ISBN 0-674-00219-9
G.A. Cohen, If You're an Egalitarian, How Come You're so Rich? Harvard University Press. 2000. ISBN 0.674-00218-0
Dworkin kommt aus der marxistischen Ecke, Cohen aus der liberalen.
Dworkin argumentiert, dass es Staatsaufgabe sei, to"show equal concern for the fate of all those citizens over whom it claims dominion", was aber nicht weiterhilft, da gleiche Rechte für alle ohnehin in modernen Verfassungen verankert sind, der Staat also seinem"concern" Genüge leistet und auf das"fate" (Schicksal) letztlich erst dann Einfluss nehmen kann, nachdem es sich entfaltet, was er dann mit Hilfe von Sozialleistungen und Subventionen aller Art auch versucht.
Cohen verlagert das Problem auf die einzelnen und ihre Haltungen bzw. Einstellungen dem Leben, auch wirtschaftlichem Erfolg, gegenüber:"Personal attitude and choice are the stuff of which social structure itself is made." Wenn also jemand unbedingt Lehrer werden will, gibt es keine Möglichkeit für ihn, das Einkommen eines Firmenchefs zu erreichen.
Cohen weist auch auf das altbekannte Beispiel hin, dass die Umverteilung des Einkommens eines Chefs zugunsten weniger gut verdienenden Menschen ihrerseits eine Ungerechtigkeit gegenüber dem Chef darstellt, der selbst, wenn er von sich aus die andere Ungerechtigkeit (Einkommensunterschiede) freiwillig beseitigen wollte, den Zustand, den er beenden möchte, eben nicht beendet, weil die Bezieher solcher Transfereinkommen vermutlich länger in diesem Zustand bleiben, weil sie - ohne den Transfer - vielleicht eher sich bietende Chancen, ihrem Zustand zu entkommen, ergreifen würden.
Von diesen aktuellsten Ansätzen abgesehen, muss immer wieder auf das Steuersystem, mit dessen Hilfe heute ein Großteil der Umverteilungen bewerkstelligt wird, hingewiesen werden. Es ist in doppeltem Erklärungsnotstand.
1. Es kann keinen vernünftigen Grund für eine progressive Besteuerung angeben, also dass jemand, der z.B. 6000 Mark p. m. verdient, die z.B. mit 30 % besteuert wurden, von den nächsten 100 zusätzlich verdienten Mark z.B. 35 % abgeben muss, während jemand, der 5900 Mark p.m. verdiente, für die nächsten 100 Mark nur die erwähnten 30 % abführen muss.
2. Es kann nicht erklären, warum die Besteuerung plafondiert ist, also z.B. bei 50 % ab einer bestimmten Summe für jede danach zusätzlich verdiente Mark. Dann muss jemand, der z.B. 100.000 Mark p.a. verdient, von der 100.001. Mark 50 Prozent abführen. Jemand, der 100 Millionen Mark verdient, muss aber von der 100.000.001. Mark ebenfalls nur 50 % abführen - obwohl er diese zusätzliche Mark"leichter" verdient als der andere.
Auch dort tritt die Ungerechtigkeit offen zu Tage.
Dass es nun jeden erzürnt, wenn er sieht, dass Milliarden sehr arm sind oder verhungern, während einige wenige im Privat-Jet über Kontinente düsen, ist klar und nachvollziehbar.
Aber wie ändern?
Nachträgliche Umverteilung funktioniert nicht, wie noch und noch bewiesen, vgl. dazu die Ausführungen von Galiani. Außerdem steckt sie voller zusätzlicher Ungerechtigkeiten, die zwar"relativ wenige" treffen, aber Gerechtigkeit ist kein Mengenphänomen, sondern kann und muss sich immer auf den einzelnen und dabei auf jeden einzelnen beziehen.
Es gibt auch keine Möglichkeit, eine Gerechtigkeit irgendwie von"vorneherein" herzustellen, also z.B. mittels einer Gleichverteilung von Ressourcen.
Dies nicht, weil das per se nicht ginge, denn es gibt dazu zahlreiche historische Beispiele, z.B. die Landverteilungen in der Antike, bis hin zur Auflösung der reinkommunistischen Siedlungen von Amana (Iowa), wo das Gemeineigentum in Form von Aktien an jedermann dort verteilt wurde (mit Altersabstufung).
Es wäre auch nach der deutschen Wiedervereinigung möglich gewesen, das gesamte"Volkseigentum" in Form von Anteilsscheinen gleichmäßig an die Bevölkerung zu übertragen statt es von der Treuhand inkompetent verwursten zu lassen.
Das Problem liegt darin, dass sich auch nach einer Vorab-Gleichverteilug sehr schnell wieder"Klassen","Stände" usw. herausbilden, also ein"oben" und"unten". Dazu für die Antike:
Alexander Demandt, Antike Staatsformen, Akademie Verlag 1995. ISBN 3-05-002794-0 oder -7.
Aus dem"Oben/Unten"-Phänomen haben sich große Soziologen wie Vilfredo Paretodadurch heraus gemogelt, dass sie mit Hilfe eines"Kreislaufs der Eliten" arbeiten, wonach also sozusagen jeder mal"dran kommen" kann. Dieser Kreislauf ist sicher existent, sowohl im normalen Wirtschaftsablauf als auch in revolutionären Phasen.
Es gibt nur ganz wenige Vermögen, die sich über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte halten konnten (Adel, Fugger, Bank Oppenheim etc.), aber im Normalfall geht jeder einmal aufgehäufte Reichtum ziemlich schnell wieder zugrunde.
Dass dies die jeweils Lebenden natürlich nicht tröstet, etwa zu hören, dass die Urenkel von Gates oder Buffett wieder mittellos sein könnten so wie ihre Urgroßväter, als sie ihre Geschäfte starteten, liegt auf der Hand. Sie wollen"Gerechtigkeit jetzt!" - aber das ist schlechterdings nicht zu bewerkstelligen, jedenfalls nicht ohne dass alte Ungerechtigkeiten durch neue abgelöst werden, was bei den Enteigneten oder Enterbten die bekannten Ressentiments oder gar Rachegedanken weckt.
Irgendjemand wird sich also immer"ungerecht" behandelt fühlen, was durch keinen wie auch immer gearteten Trick aus der Welt zu schaffen ist.
Es gibt nun diverse religiöse Ansätze, auch modernere Heilslehren, die das ganze Problem dadurch lösen, dass man alles, was zu sozialen Differenzierungen führen könnte, dadurch aus der Welt schafft, dass man weltliche Dinge überhaupt negiert oder für unbeachtlich ansieht, also Reichtümer, Wohlstand usw. minimiert, bis letztlich alle nur noch das Allernotwendigste zum Leben haben.
Die Stelle bei Markus 8,36 ist ein Paradebeispiel:
"Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden?"
Ähnliches predigen alle Mönchs-, Askese- und Verzichtsbewegungen, die aber dennoch nicht umhin können, für die Komplettaufgabe diesseitigen materiellen Wohlfühlens irgendeine "Gegenleistung" zu versprechen, was vom diesseitigen Seelenfrieden bis hin zur"Belohnung" nach dem Tode reicht (Paradies usw.).
Es gäbe allerdings noch eine weitere Möglichkeit,"Gerechtigkeit" einzuführen, wobei man auf die Erfahrungen mit Los-, Lotterie- oder Lottoverfahren zurückgreifen könnte.
Bekanntlich empfindet es niemand als"ungerecht", wenn mittwochs und samstags durch die Ziehung der Lottozahlen neue Millionäre aus dem Nichts entstehen (man hadert höchstens mit dem"Glück" oder dem"Zufall").
Demnach wäre zu überlegen, ob nicht sämtliche Güter und Guthaben regelmäßig durch ein Los- oder Lotterieverfahren neu verteilt werden sollten. Statt Bill Gates wäre dann ein armer Schlucker aus Bangladesh über Nacht neuer Großaktionär von Microsoft. Gates könnte sich damit trösten,"lange genug" etwas von seinem Reichtum gehabt zu haben und würde anschließend in einem Armenviertel verschwinden.
Solche"automatischen" Umverteilungen gab es in Ansätzen in der Geschichte durchaus, man erinnere sich an das mosaische Erlassjahr, mit dem schlagartig zumindest alle Gläubiger enteignet wurden. Da die Eigentümer selbst aber nicht enteignet wurden, eine Idee, die übrigens schon Plato ausführlich diskutiert hatte, konnten sie rasch wieder neue Reichtümer in Form von Forderungen aufhäufen.
Da letztlich aller Reichtum auf Privateigentum bzw. derivativen Eigentumstiteln, wie Forderungen incl."Geld" in unserer heutigen Form basiert, müsste das Eigentum selbst abgeschafft werden (nicht verstaatlicht, da dies nur einen Eigentümerwechsel darstellt).
Da es aufgrund der inzwischen erreichten Weltbevölkerungszahl völlig unmöglich ist, wieder zu Formen des Vor- oder Nichteigentums zurückzukehren, ist die Frage danach, wie"Gerechtigkeit für alle" erreicht werden könnte, einfach nicht zu beantworten.
Mehr als Versuche, wenigstens die schreiendsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen, kann es meines Erachtens nicht geben.
Da wir aber jetzt konkret in einer Zeit leben, da ununterbrochen"Reichtümer" (auch wenn oft nur eingebildete) in unvorstellbaren Summen ausgelöscht werden, dürfte sich die Umverteilungsproblematik nur noch mehr zuspitzen. Die Armen werden in einer Wirtschaftskrise noch ärmer, aber die Reichen werden dabei nicht etwa reicher, sondern sie verlieren auch und dürften sich dadurch den immer lauter gestellten Gerechtigkeitsforderungen immer stärker verschließen.
Dass das Ganze nicht gut enden kann, liegt auf der Hand.
Gruß
d.
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