- Hirnanhangdrüsen und Gallenblasen - Gerhard, 21.09.2001, 13:25
Hirnanhangdrüsen und Gallenblasen
Hirnanhangdrüsen und Gallenblasen
Ältere klagen gerne, dass sie da einfach nicht mehr mitkommen - mit der ganzen modernen Technik. Wie alt unsere politischen Mechanismen im Vergleich zur aktuellen High-Tech sind und dass sie längst aufgehört haben damit Schritt zu halten, das sieht man derzeit an der Reaktion auf den Terror in New York und Washington.
Die Vereinigten Staaten haben die modernsten Waffen der Welt. Vor knapp 60 Jahren entwickelten sie im Rahmen des Manhattan-Projekts die Atombombe.
Heute gehen sie dazu über, sie zu virtualisieren. Zu ihrer Weiterentwicklung brauchen die Militärs künftig keine physikalisch vorhandenen Nuklear-Sprengsätze mehr. Es genügt, sie in Form von Daten in einen 100 Teraflops starken Number Cruncher zu packen.
Seit dem Sputnik von 1957 wird der Weltraum militarisiert. Auf zivilem Gebiet wird die Spaltung von schweren Atomkernen zur Energiegewinnung genutzt. Und seit ein paar Jahren drehen Gentechniker ein bisschen am vierbuchstabigen Code des Lebens, um beispielsweise Pilze dazu zu bewegen, Medikamente zu produzieren.
Hinzu kommt die Technisierung des Alltags mit Telekommunikationsgeräten, elektronischen Medien, Hochgeschwindigkeitszügen und Flugzeugen. Die Möglichkeiten vieler Menschen sind dadurch vielfältiger geworden. Die Welt wird aber auch verletzbarer.
Politiker in aller Welt - zumeist auch ältere Herrschaften - kommen da einfach nicht mehr mit - mit der ganzen modernen Technik. (Die jüngeren übrigens auch nicht.)
Der Präsident der Vereinigten Staaten und sein Kabinett treten in Fliegerjacken vor die Presse. So als hätten sie vor, einen Vergeltungsschlag vom Cockpit eines Kampfjets aus zu kommandieren. Die Ureinwohner Amerikas legten auch Kriegsbemalung auf, bevor sie mit Tomahawks aufeinander losgingen. (Mit den Beilen, die so heißen, nicht mit den gleichnamigen Cruise Missiles.)
Der bayerische Datenschutzbeauftragte wiederum - warum der diese Berufsbezeichnung trägt, ist mehr denn je schleierhaft - tritt für eine stärkere Überwachung der elektronischen Kommunikation ein. Und der republikanische Kongressabgeordnete Judd Gregg fordert ein Verbot der Kryptographie.
Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Terroristen verschlüsselte Mails versendet haben. Und Flugzeugentführungen stehen schon seit jeher unter Strafe. Die Attentäter hat das nicht davon abgehalten. Ihresgleichen zusätzlich noch mit einem Bußgeld wegen unerlaubter Chiffrierung zu belegen, dürfte da auch nichts bringen.
Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass die Stammesältesten der High-Tech-Länder Verhaltensweisen offenbaren, die aus Zeiten stammen, als Feuerstein und Keule den Stand der Technik markierten. Man gefällt sich in malerischen Drohgebärden. Und der bedingte Reflex bestimmt das Handeln. Terror und Entsetzen bewirken den Ruf nach Verboten und härteren Strafen. Um das im menschlichen Nervensystem durchzuschalten, dafür bräuchte man das Kleinhirn nicht. Dafür genügt die Hirnanhangdrüse.
Da spricht der US-Präsident doch tatsächlich von einem Kreuzzug gegen den Terrorismus. Ein bisschen mehr sollte es schon werden. Die wichtigsten Auswirkungen jener frommen Veranstaltungen seinerzeit betrafen schließlich bloß die Gemüter der Kreuzfahrer. Selbst vom militärischen Standpunkt aus waren sie Flops. Und lediglich der vierte (1202 bis 1204) war wirtschaftlich erfolgreich, weil er zu einem Eroberungsfeldzug gegen das orthodoxe Byzanz umfunktioniert wurde.
Auch die Techniker bekommen die Probleme der technisierten Welt nicht in den Griff. Ihre Kollegen aus den Verkaufsabteilungen preisen jetzt Millimeter-Wellen zur Durchleuchtung von Fluggästen an. Und ein Stück Software soll den Adrenalinpegel beim Sicherheitspersonal hoch halten: Es projiziert Bilder von Waffen in Gepäckstücke, die gerade durch das Röntgengerät laufen.
Und immer wieder Biometrie. Derk Boss, der Chef der Firma Viisage, meint, angesichts der aktuellen Terroranschläge dürften datenschutzrechtliche Einwände kein Argument gegen den großangelegten Kauf seiner Systeme sein. Sie könnten die Gesichter von Passagieren mit abgespeicherten Bildern vergleichen.
Wer keine eigenen Argumente hat, verbietet halt gerne der Gegenseite die ihren. Das Problem bei allen biometrischen Verfahren besteht darin, dass nur wiedererkannt werden kann, was zuvor schon einmal erfasst wurde. Selbstmord-Attentäter aber sind keine Wiederholungstäter.
Techniker tragen zur Lösung der Krise gegenwärtig bestenfalls mit Placebos bei. Das liegt daran, dass die durch die Terroristen ausgelöste Krise kein technisches Versagen ist. Sie hat soziale Ursachen. Und deshalb braucht es zu ihrer Lösung einen sozialen Ansatz.
Der Globus muss endlich auch sozial auf den Stand der Technik gebracht werden. Aber die, deren Job das in erster Linie wäre, die haben momentan anderes im Kopf, und insbesondere in der Hirnanhangdrüse. In der Richtung tut sich nichts.
Halt, doch! New Yorker Ärzte haben jetzt einer Patientin in Straßburg - remote, über den Atlantik hinweg - durch eine Teleoperation die erkrankte Gallenblase entfernt. (Für Techniker: über eine ATM-Verbindung mit 10 Megabit pro Sekunde.)
Was das zur Lösung des Terror-Problems beitragen kann? Zugegeben, nicht viel...
Aber mehr als Tomahawks jedweder Art.
Achim Killer
Quelle http://www.silicon.de/Backslash
Nachdenkliche Grüße.
Gerhard
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