- Infinite Justice - riwe, 22.09.2001, 07:11
Infinite Justice
Doch keine grenzenlose Gerechtigkeit
Daß die Vereinigten Staaten den Namen"Infinite Justice" für die von ihnen geplante militärische Aktion kassiert haben, kann nur mit Erleichterung zur Kenntnis genommen werden. Der amerikanische Verteidigungsminister erklärte, daß er von der Wahl dieses Codeworts nicht gewußt habe, auch wollten die Vereinigten Staaten nichts tun oder sagen, was einen mißverständlichen Eindruck machen könne -"und dies wäre hier eindeutig der Fall". Merkwürdig bleibt, daß nur auf die religiösen Gefühle von islamischen Gläubigen Rücksicht genommen wurde, von einer Verletzung christlicher oder jüdischer religiöser Überzeugungen war nicht die Rede. Eine Gedankenlosigkeit? Denn es kann auch im Westen niemandem entgangen sein, daß unendlich oder grenzenlos nur eine göttliche Gerechtigkeit sein kann. Aber offenbar fand die Verknüpfung von Gerechtigkeit und Unendlichkeit in unseren Sprachen kein deutliches Echo, das den Weg zur theologischen Überlieferung gewiesen hätte."Unendliche Weisheit","infinite wisdom", ist sofort als Gottesprädikat erkennbar, und ein kurzes Nachdenken hätte darauf aufmerksam machen können, daß es mit der Gerechtigkeit nicht anders stehen kann als mit der Weisheit. Blaise Pascal, dieser gläubige Rationalist des siebzehnten Jahrhunderts, hat die Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit nur durch einen gewaltsamen Vergleich mit dem mathematischen Unendlichen ein wenig schließen können:"Zwischen unserer Gerechtigkeit und der Gottes besteht keine so große Disproportion wie zwischen der Eins und dem Unendlichen." Doch man braucht sich nicht auf theologische Rechenkunststücke einzulassen, um zu sehen, daß jedenfalls die Gerechtigkeit, die wir ausüben können, immer nur begrenzt, endlich sein kann. Sie ist sogar in ihrem Wesen grenzziehend, ihre Aufgabe ist es, die endlose Kette von Tat und Widertat, von Terror und Gegenterror abzubrechen und einen Raum zu sichern, in dem gerecht geurteilt und gemessen werden kann. Unter dem Schock der grausamen Aktionen mag für einen Augenblick ein Vergeltungsdenken die Oberhand gewonnen haben. Für einen Augenblick ließ sich eine Macht, die nur an Ordnung interessiert sein kann, dazu hinreißen, mit der Entfesselung totaler Unordnung zu drohen - mit einer grenzenlosen statt mit einer Grenzen setzenden und respektierenden Gerechtigkeit. Wenn"infinite justice" nicht das Maß militärischer Aktionen sein kann, so ist es die Gerechtigkeit durchaus. Der gerechte Krieg war ein Maß für das militärische Handeln, solange er von beiden Seiten anerkannt war und nicht die eine Seite in den Augen der anderen einen ungerechten Krieg führte. Jeder Krieg, der nicht in ein sinnloses Gemetzel ausarten soll, muß diese Möglichkeit einschließen. Man muß Gerechtigkeit und Gewalt zusammenbringen:"Die Gerechtigkeit ohne Gewalt ist machtlos, und die Gewalt ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch." Auch dies war schon die Einsicht jenes Stubenmenschen Pascal.
Ri.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.2001, Nr. 221 / Seite 41
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