- Über Jahrzehnte aufgestauter Haß. - BossCube, 02.10.2001, 20:36
Über Jahrzehnte aufgestauter Haß.
Mohssen Massarrat
Über Jahrzehnte aufgestauter
Hass
VERZERRUNGENEine Reduzierung des internationalen
Terrorismus auf den Islam führt in die Irre
Was ist das für eine Religion, die solche Monster hervorruft", fragt kurz
nach dem Inferno von New York die Redakteurin eines liberalen,
einflussreichen deutschen Hörfunksenders einen Islamexperten. Welche
Naivität und welche Unwissenheit! Die Journalistin steht für die
Unwissenheit des Westens über die tiefgreifenden Hintergründe des
Massenmords. Die allgemeine Ahnungslosigkeit, verbunden mit dem
Vorpreschen der militärisch-geostrategischen Kreise in den USA und der
NATO, die ihre Stunde für eine weitere Militarisierung der internationalen
Beziehungen für gekommen halten und nicht davor zurückschrecken, die
weltweite Trauer um die Opfer des Terrors für ihre Zwecke zu
instrumentalisieren, droht zu einem gefährlichen Gemenge zu werden. Es
dürfte der Gewalteskalation einen neuen Schub mit ungeahnten Folgen
geben. Um es klar zu sagen: ein großangelegter Krieg gegen die
Taleban-Regierung in Afghanistan mit Hilfe Pakistans könnte einen
Flächenbrand auslösen, zumindest aber den brüchigen pakistanischen
Staat destabilisieren.
Die Auswirkungen einer Gewalteskalation reichen weit über die
arabisch-islamische Welt hinaus. Bei aller Betroffenheit über den
Terroranschlag in den USA dürfen wir nicht über den Umstand
hinwegsehen, dass viele Menschen in der Dritten Welt sich nicht über die
Massenmorde selbst, sehr wohl aber über die Zerstörung der Symbole von
Reichtum und Macht in einer globalisierten Welt klammheimlich freuen.
Abertausende von ihnen könnten alsbald die Schwelle von passiver
Zustimmung zum aktiven terroristischen Handeln überschreiten und überall
in der Welt mit neuen Mitteln den gerade begonnenen"globalisierten und
modernen Partisanenkrieg" weiterführen. Die Zerstörung der Legende von
der Unverwundbarkeit der mit Abstand größten Militärmacht der Welt dürfte
bei der großen Masse von Entrechteten und Gedemütigten zu einer Welle
von terroristischen Nachahmern führen.
Moderner"Partisanenkrieg" gegen die Weltmacht USA
Die Welt befindet sich in einer äußerst kritischen Situation. Durch den
"ersten Krieg in diesem Jahrhundert" (George W. Bush) würde der"Krieg
der Zivilisationen" wahrscheinlicher, allerdings nicht im Sinne Huntingtons,
sondern als ein Krieg, den die extremistischen Eliten der armen und der
reichen Welt durch die Instrumentalisierung der jeweiligen kulturellen
Werte für die eigenen Zwecke gegeneinander ausfechten. Opfer dieses
Krieges wären auf beiden Seiten die Zivilbevölkerung, die Demokratie,
andere zivilisatorische Errungenschaften und die Umwelt.
Woher aber kommt der über Jahrzehnte aufgestaute Hass auf Amerika in
der arabisch-islamischen Welt? Dazu seien einige fundamentale Aspekte
skizziert: Der Israel-Palästina-Konflikt ist dabei zweifelsohne der wichtigste
Kristallisationspunkt, aus dem alle antiwestlich arabisch-nationalistischen
und islamisch-fundamentalistischen Bewegungen Kraft und Legitimation
schöpfen. Israel ist die größte, auch mit Atomwaffen ausgerüstete
Militärmacht im Nahen und Mittleren Osten und weigert sich, gerade
wegen seiner Überlegenheit, seine Besatzungspolitik in Palästina zu
beenden. Vielmehr stellt dieses Land tagtäglich seine Dominanz als
Besatzungsmacht demonstrativ zur Schau, die palästinensische Häuser
zerstört, palästinensischen Grund und Boden beschlagnahmt, die
Palästinenser demütigt. Bei den Arabern und Moslems in der ganzen Welt
verursacht diese Schmach Wut und Gefühle der Ohnmacht, die sich bisher
in terroristischen Anschlägen gegen westliche Touristen (wie in Ägypten)
und gegen eigene korrupte Regierungen entluden, die sich mit Rücksicht
auf die USA gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt eher zurückhaltend
geben.
Nun ist es Osama bin Laden gelungen, die angestaute Wut durch die im
Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg gegen den Irak 1990/91
gegründete Internationale Brigade der arabischen Afghanen in einen
modernen"Partisanenkrieg" gegen die Weltmacht USA zu kanalisieren.
Amerika gilt in den Augen der arabisch-islamischen Völker als
entscheidende Schutzmacht der israelischen Besatzungspolitik.
Das"kalkulierbare Risiko" wird zum Bumerang
Zu den schmerzlichen Wahrheiten des auch nach dem Terroranschlag
gegen die USA weiter eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts gehört, dass
Israel offenbar den Erhalt des gegenwärtigen Zustandes einer Aufgabe
seiner Besatzungsmacht und einem dauerhaften Friedens vorzieht. Auch
die USA haben erkennbar an einem stabilen Nahost-Frieden kein
ernsthaftes Interesse. Ich glaube seit längerem nicht an die Mär von der
jüdischen Lobby in Amerika als eigentlichem Hindernis für eine aktivere
Rolle Washingtons im Friedensprozess. Vielmehr verstecken sich alle
US-Regierungen hinter dieser Legende - Konflikteskalation in Nahost passt
besser in die US-Geostrategie als ein dauerhafter Frieden.
Seit einem halben Jahrhundert verfolgen die USA im Nahen und Mittleren
Osten eine Politik der Destabilisierung und Konflikteskalation mit
"kalkulierbarem Risiko" (low intensity war) - deren entscheidende Elemente
sind der Israel-Palästina-Konflikt, aber auch die Protektion korrupter und
diktatorischer Regimes. Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass die
Amerikaner demokratische Entwicklungen in der Region unterstützt hätten
- im Gegenteil. Sie haben 1953 die demokratisch gewählte Regierung
Mossadegh im Iran mit Hilfe von CIA und Pentagon gestürzt, den Schah an
die Macht zurückgeholt, dessen Regime zu einer regionalen Supermacht
hochgerüstet. Dadurch wurde einerseits ein gigantischer Rüstungswettlauf
am Persischen Golf entfesselt, andererseits der islamische
Fundamentalismus im Iran gestärkt und so indirekt der Islamischen
Revolution der Weg bereitet.
Der Rüstungswettlauf entlud sich 1980 und 1990/91 in zwei Golfkriegen. Im
ersten unterstützten die USA Saddam Hussein gegen den Iran und
machten den Irak zur stärksten Militärmacht am Golf. Im zweiten gingen
sie mit UN-Mandat gegen das Regime von Saddam Hussein vor, als der
glaubte, die USA weiter auf seiner Seite zu haben und daher Kuwait
ungestraft annektieren zu können.
Islamische Fundamentalisten im Iran, der Panarabist Saddam Hussein,
nicht zu vergessen das Taleban-Regime in Afghanistan, aber auch die
islamistische Strömung um Osama bin Laden - all das sind Produkte der
amerikanischen Konflikt- und Eskalationspolitik im Nahen und Mittleren
Osten. Alle diese Phänomene haben die Demokratisierung in der Region
um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern beträchtlichen Schaden
zugefügt, den kurzfristigen amerikanischen Interessen jedoch nicht
geschadet.
Nun hat sich durch die Anschläge vom 11. September das Konzept einer
Destabilisierungsstrategie mit"kalkulierbarem Risiko" als Bumerang
erwiesen. Die auf stringenten ökonomischen und geostrategischen
Interessen basierende Politik der USA und des Westens wird durch den
globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe
als Reaktion der Natur auf ein kurzsichtiges ökonomisches Handeln der
reichen Eliten in den Industrie- und Entwicklungsländern gesehen werden
muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art
und Weise der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern
tragen alle westlichen Staaten - allen voran die USA - eine beträchtliche
Mitverantwortung für das Inferno in New York und Washington.
Identitätskrisen und Feindbilder der Entwurzelten
In der islamischen wie in der gesamten Dritten Welt vollziehen sich
gegenwärtig eine historisch längst fällige Transformation und
Industrialisierung. Das führt zu tiefen sozialen Brüchen, Entfremdung,
Entwurzelung und individuellen Identitätskrisen - noch verstärkt durch den
Globalisierungsdruck. Die nachhaltigste Form der soziokulturellen und
sozial-psychologischen Aufarbeitung dieses konfliktträchtigen Prozesses,
der in Europa über zwei Jahrhunderte dauerte, sind Demokratisierung und
Selbstbestimmung. Durch Einmischung, Intervention und Unterstützung
korrupter und diktatorischer Regimes sowie Aufpfropfen seiner
Industrialisierungsmuster hat der Westen - allen voran die USA - dazu
beigetragen, dass diese Aufarbeitung unterbrochen und verzerrt wurde oder
überhaupt nicht stattfand. Die große Masse der Entwurzelten empfindet so
die entstandene Identitätskrise als fremdgesteuerten Angriff auf eigene
kulturelle Werte. Sie ist daher prädestiniert, Feindbildern zu folgen, ihr Heil
in nationalistischen wie fundamentalistischen Perspektiven zu suchen und
gleichzeitig den Westen für das eigene Leid verantwortlich zu machen.
Schließlich: Die von der reichen Elite in der Welt, internationalen
Konzernen und Finanzinstitutionen gelenkte ökonomische Globalisierung
hat die ungleiche Einkommensverteilung in der Welt in den vergangenen
Jahrzehnten vergrößert. Über eine Milliarde Menschen in der Dritten Welt
kämpfen um das tägliche Brot und fristen ein verzweifeltes Dasein. Die in
dieser Ungerechtigkeit schlummernden sozialen und politischen
Instabilitätsfaktoren können unmöglich militärisch eingedämmt werden. Die
zahlreichen US-Militärbasen in der Dritten Welt befinden sich auf einem
Pulverfass. Die bittere Armut und kulturelle Entwurzelung bei gleichzeitiger
Zurschaustellung des Reichtums der Eliten in den globalisierten
Kommunikationssystemen stellen den fruchtbarsten Nährboden für den
neuartigen globalen Terrorismus der Zukunft dar.
US-Administration folgt einer Logik der Lynchjustiz
Die hier skizzierten Thesen, die für den tiefen Hass auf Amerika nicht nur
in der islamischen Welt Anhaltspunkte liefern, entspringen keiner
verschwörungstheoretischen Sicht, weil sie vielleicht teilweise schwer
vorstellbar scheinen. Sie sind durch eine systematische Analyse der
Ereignisse und Fakten wissenschaftlich nachweisbar und zeigen, dass die
behauptete Kausalität zwischen dem internationalen Terrorismus und dem
Islam in die Irre führt. Vielmehr sind es sozioökonomische und kulturelle
Umstände, die Extremismus und Gewaltbereitschaft hervorrufen und heute
im islamischen Fundamentalismus und arabischen Nationalismus ebenso
wie im serbischen Nationalismus oder im hinduistischen
Fundamentalismus in Indien und anderswo ihre Ausdrucksform finden.
Die Vorstellung der US-Administration und einiger NATO-Regierungen, den
internationalen Terrorismus mit militärischen Mitteln auszumerzen, ist
völkerrechtswidrig, entspricht einer Logik der Lynchjustiz und verletzt alle
rechtsstaatlichen Normen. Sie ist in der Sache absurd und erfüllt im
Wesentlichen den Zweck, von eigener Mitverantwortung für den
Terrorismus abzulenken. Wer dennoch auf die militärische Karte setzt,
wird die globalen Instabilitäten und Ungleichheiten verschärfen und neue
Generationen von Terroristen erzeugen. Andererseits rechtfertigen die
objektiven Ursachen des Terrorismus weder moralisch, noch politisch,
noch rechtlich terroristisches Handeln. Daher müssten die
Verantwortlichen für den Angriff auf die USA ohne Wenn und Aber vor
einem internationalen Gericht abgeurteilt werden.
Die egoistischen, offenbar unter Realitätsverlust leidenden reichen Eliten
der Welt müssten allerdings spätestens jetzt begreifen, dass die
Konservierung ihres Lebensstils und der globalen Ungerechtigkeiten kaum
vorstellbare Katastrophen heraufbeschwört und dass in ihrem eigenen
Interesse eine Wende in den globalen Beziehungen auf der politischen
Agenda steht. Dabei fällt Europa eine Vorreiterrolle zu, die allerdings
voraussetzt, sich nicht länger wie bisher hinter der Nah- und Mittelostpolitik
der USA zu verstecken. Reformkräfte in Europa müssten erkennen, dass
ein dauerhafter Frieden in der Region, eine nachhaltige Energieversorgung
Europas, die bisher durch die USA torpedierte Klimapolitik und
europäische Nahost-, Außen- und Friedenspolitik miteinander in einem
inneren Zusammenhang stehen und dass sie - um aus dieser Erkenntnis
für Europa eine selbstständige Handlungsperspektive zu entwickeln -
zuallererst die US-amerikanische Zwangsjacke abzulegen hätten.
Professor Mohssen Massarrat, Politik- und Sozialwissenschaftler iranischer
Herkunft an der Universität Osnabrück, arbeitet zu den Schwerpunkten
Friedens- und Konfliktforschung sowie Naher und Mittlerer Osten,
Auswirkungen der Globalisierung auf die regionalen Ã-konomien. Er ist
Herausgeber des Buches Mittlerer und Naher Osten, 1996 (agenda Verlag).
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