- Gedicht - antares, 22.10.2001, 00:20
Gedicht
Grosser Herbst
Grosses Lob hat Gott sich zugerichtet
aus den Zeiten, aus dem Sternenkreis.
Langsam ist des Sommers Kranz gelichtet -
und die Stirn gibt ihn erbötig preis -
Vogelwolken stieben von den Gärten,
Felder stehn geräumt und Beete glühn,
unsern sanften Wiesengrund zu härten
wird sich bald ein früher Nachtfrost mühn.
Schauert nicht sein Vorgefühl in Winden,
nicht im Rascheln flammenfarbnen Weins?
Kühler Anhauch weiss uns aufzufinden
in der Süsse selbst des Mittagsscheins.
Und Orion hebt sich, der Titane,
grosser Ahnherr aller Jägerschar,
triumphierend aus dem Ozeane
und besiegelt riesenhaft das Jahr.
Früh am Abend hält er sich verhohlen,
erst die Mittnacht bringt der Jagd Beginn,
seine Hund fiebern schon verstohlen,
heiss und züngelnd nach der Beute hin.
Hell am Gürtel funkelt sein Geschmeide,
silbern flammt das kurze Jägerschwert.
Aber nie verlässt es seine Scheide,
und der Abflug ist dem Pfeil verwehrt.
Denn in jener hohen Bildersphäre
Hat das Flüchtge stete Gegenwart.
Ewig ihrer Sichel harrt die Aehre
und der Löwe ist im Sprung erstarrt.
Ewig krümmen Drache sich und Schlange
und erwarten scheu den Bogenschuss,
ewig flüchtet sich der Walfisch bange
in die Fluten des Eridanus.
Schwan und Adler spannen ihr Gefieder,
doch der dunkle Horst entlässt sie nicht,
fruchtlos dehnt die Jungfrau ihre Glieder,
und die Waage bleibt im Gleichgewicht.
Stumme Heldenlieder träumt die Leier,
und der Becher hält den Wein gespart.
Kampflos steht Andromedas Befreier,
und der Fuhrmann rüstet nur die Fahrt.
Einmal aber wird die Zeit gewogen,
alles Starre löst sich aus dem Bann,
einmal schnellt Orions Pfeil vom Bogen,
und die Hunde springen heulend an.
Jauchzend stürzt er durch die Sternengassen,
und sein Erz wird roter Flammenschein.
In die erste Leidenschaft entlassen,
erntet er die goldne Tierwelt ein.
Berstend sprüht die Leier ihre Klage,
und der Schwan den süssen Sterbepsalm,
ihrer Schalen eine senkt die Waage,
und die Aehre stürzt gefällt vom Halm.
Von der Krone klarem Mosaike
splittern Trümmer, feurig abgetaut,
und der Königsgattin Berenike
immer junges Silberhaar ergraut.
Da der letzte Trank im Becher schäumte
und der Wölbung edles Mass zerriss,
Stier und Löwe sich verendend bäumte
in der ungeheuren Finsternis.
Da die hellen Zwölf im Sturm verwehten
und der Milchbahn Schleier hingeblasst -
welche Zeichen weisen den Planeten
noch die Strasse und die sichre Rast?
Oder werden auch die sieben alten
Wandrer nicht mehr ihre Kreise drehn?
Welchen Herbsten sind wir aufbehalten?
Vater! Lass uns nicht verloren gehen!
Werner Bergengruen (1892-1964) aus: Die heile Welt
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