- Interview mit Suzanna Arundhati Roy. Bitte lesen! - BossCube, 24.10.2001, 15:58
- Re: Interview mit Suzanna Arundhati Roy. Bitte lesen! - SchlauFuchs, 24.10.2001, 16:57
- Das Forum liest es, die es lesen müssten bestimmt nicht. oT (owT) - riwe, 24.10.2001, 17:15
- Re: Interview mit Suzanna Arundhati Roy. Bitte lesen! / Weise und mutig! (owT) - JüKü, 24.10.2001, 19:22
- @ Boss Cube: Quelle? (owT) - Galiani, 25.10.2001, 19:13
- Re: @ Boss Cube: Quelle? (owT) - BossCube, 25.10.2001, 22:59
- Danke! Da war ein Satz, den ich gut brauchen kann! (owT) - Galiani, 25.10.2001, 23:11
- Re: @ Boss Cube: Quelle? (owT) - BossCube, 25.10.2001, 22:59
Interview mit Suzanna Arundhati Roy. Bitte lesen!
Frau Roy, in einem aufsehenerregenden Beitrag in der FAZ vom 28. September haben Sie gewarnt,
wir würden nun erleben, „wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten
Instinkt greift“, um Krieg zu führen, und deshalb würden wir „auch diesmal aus dem Blick verlieren,
warum er überhaupt geführt wird“. - Seit Sonntag bombardieren nun die USA Afghanistan. Haben sich
Ihre Befürchtungen bewahrheitet?
Roy: Natürlich. Meine schlimmsten Befürchtungen sind damit bestätigt. Amerika und seine Alliierten
haben überstürzt den schlimmsten, unklügsten, unbedachtesten aller möglichen Wege
eingeschlagen.
Wie hätte Amerika denn reagieren sollen?
Roy: Was am 11. September in New York geschehen ist, ist nicht zu rechtfertigen. Aber das bedeutet
nicht, daß man nicht versuchen muß, zu verstehen, warum es passiert ist, und wenn es nur dazu
dient, eine Wiederholung zu vermeiden. Zu versuchen, etwas zu verstehen, ist nicht dasselbe, wie es
zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Auf unheimliche und schreckliche Art und Weise gibt der
11. September Amerika die Chance zu beweisen, daß es wirklich eine Supermacht ist. Damit meine
ich, es hätte Weisheit beweisen und zeigen können, daß es ein großer Staat ist, zur Entschiedenheit
fähig, aber auch zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme. Es war nicht nur Amerika, das in der
Vergangenheit furchtbare Fehler gemacht hat. Aber gerade weil es so ein mächtiges Land ist, sind
seine Fehler entsprechend schwerwiegend - und hatten und werden um so schrecklichere
Konsequenzen haben. Doch im Moment schlägt Amerika in seiner Wut wild um sich.
Der neue Krieg wird als ein globaler Krieg bezeichnet.
Roy: Wir haben es mit einer „internationalen Allianz gegen den Terror“ zu tun, weil Amerika dazu
neigt, seine eigene Identität mit der der ganzen Welt zu verwechseln. Amerika nimmt wie
selbstverständlich an, es sei die Welt. Dabei ist das auf keinen Fall ein „globaler“ Krieg, genausowenig
wie die „internationale Allianz“ international ist. Dutzende von Ländern, Millionen von Menschen in aller
Welt wollen weder etwas mit George Bush noch mit den Taliban zu tun haben, denn beide sind auf
ihre Art und Weise monströs. Die „internationale Allianz“ ist einfach die Gruppe der reichsten Länder
der Welt, unter ihnen die Hersteller beinahe sämtlicher Waffen in der Welt, die in ihrer jüngeren
Geschichte auf der ganzen Welt furchtbaren Terror über die Menschen gebracht haben. Die „Beweise“,
die belegen, daß Osama bin Laden der Urheber der Attacken von New York ist, werden vor den
meisten Ländern der Erde geheimgehalten, obwohl sie um militärische und moralische Unterstützung
gebeten wurden. Das vernünftigste, was die Taliban je getan haben, ist wohl, die Offenlegung der
Beweise gegen bin Laden zu verlangen. Diese Höflichkeit wurde ihnen bislang aber nicht gewährt.
George Bush beharrt darauf, daß die Auslieferung bin Ladens „nicht verhandelbar“ sei.
Wie würden die USA darauf reagieren, wenn die Auslieferung eines ihrer Bürger verlangt würde?
Roy: Ja, stellen Sie sich einmal die umgekehrte Situation vor! Und das, ohne daß irgendwelche
Beweise vorliegen! Der Krieg hat seine eigene Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal
aus dem Blickfeld verlieren, warum er überhaupt geführt wird. Jede Seite wird den Einsatz erhöhen -
selbst wenn bin Laden die Attacken nicht geplant haben sollte, wird er nun alles versuchen, um seinen
Vorteil aus der Situation zu ziehen: Warum sollte er die Möglichkeit nicht nutzen, der Mann zu
werden, der die Welt verändert hat? Währenddessen verhindern Amerikas mainstream-Medien - die
berühmte amerikanische „freie Presse“ - jede sachkundige Debatte zum Thema. Jeder, der eine
abweichende Meinung hat, wird einfach an den Rand gedrängt. Die amerikanische Presse hat sich
mehr oder weniger wie ein Propaganda-Organ der US-Regierung verhalten. In der Vergangenheit haben
die Amerikaner bewiesen, daß sie sehr wohl zu eigenem Denken, zu Demut und auch dazu fähig
sind, couragiert ihrer Regierung zu widersprechen. Aber die „verhängte“ Informations- und
Debattiersperre macht aus den meisten Amerikanern Versuchskaninchen in einem beobachteten
Laborversuch, denn Menschen sind letztlich ein „Produkt“ der Informationen, die sie erhalten.
Angesichts der Informationen, die sie tatsächlich haben, kann man ihnen kaum einen Vorwurf daraus
machen, daß sie zu 90 Prozent für Krieg votieren. Amerika ist schon ein seltsamer Ort: Dort leben
wunderliche Menschen wie auf einer einsamen Insel, regiert von einer krankhaft unmoralischen
Regierung, die sich in die Angelegenheiten aller anderen einmischt.
Sie werfen dem Westen vor, mit Propaganda zu reagieren, statt die Situation zu analysieren?
Roy: Die wirkliche Lehre des 11. September hätte sein müssen, daß die Welt in eine neue Phase
eingetreten ist. Selbst unser Verständnis der menschlichen Natur muß nun ein anderes werden. Denn
alles, was wir sind, und alles, was wir bislang erreicht haben - unsere Kunst, Musik, Logik,
Technologie - beruht auf der Tatsache, daß der Mensch den biologischen und instinktiven Wunsch zu
leben hat. Er will überleben, er will, daß man sich seiner erinnert. Wenn das nicht mehr gilt und das
Leben so wertlos wird, daß der Tod wertvoller erscheint, dann leben wir wirklich an einem anderen Ort.
Um das zu verstehen, muß man allerdings einmal innehalten, sich dem Lärm und dem Treiben
entziehen und nachdenken! Man muß versuchen, zu verstehen, was so furchtbar falsch gelaufen ist.
Wie können die gemachten Fehler korrigiert werden? Was ist zu tun? Gerade jetzt brauchen wir
unbedingt Weisheit. Keine Waffen, keine Cowboys.
Sie sprechen davon, daß die USA andere Länder nicht nur „auffordern“, sondern sie sogar „zwingen“,
sich im Rahmen der „internationalen Allianz gegen den Terror“ an ihrer „nachgerade göttlichen Mission
’Infinite Justice‘“ (Grenzenlose Gerechtigkeit) zu beteiligen.
Roy: Bevor Amerika sich selbst an der Spitze dieser „internationalen Allianz“ platziert, werden wohl
einige Fragen erlaubt sein müssen: Dieser neuartige Feldzug nannte sich zunächst „Grenzenlose
Gerechtigkeit“, inzwischen heißt er „Dauerhafte Freiheit“. Doch viele Menschen in der Dritten Welt
wollen wissen: Grenzenlose Gerechtigkeit für wen? Dauernde Freiheit für wen? Denn nach unserer
Erfahrung bedeutet grenzenlose Gerechtigkeit für die einen grenzenlose Ungerechtigkeit für die
anderen. Dauerhafte Freiheit für die einen, dauerhafte Sklaverei für die anderen. Die Geschichte des
Krieges sollte uns lehren, daß man Menschen auslöschen kann, aber nicht ihre Gefühle, ihre
kollektive Erinnerung, ihren Stolz und die Erniedrigungen, die sie erfahren haben. Die Freiheit der
Rede, die Freiheit, eine abweichende Meinung zu haben, die Freiheit der Religion - das ist die eine
Seite Amerikas. Aber die Freiheit, andere zu erniedrigen, die Freiheit zu versklaven, die Freiheit,
andere in den Dreck zu stoßen - das ist die andere Seite. Die Freiheit, dein Geld und deine Macht zu
nutzen, um sich in fremde komplexe Gesellschaften einzumischen, ohne an die Konsequenzen zu
denken. Sicherlich gibt es keine perfekte Gesellschaft. Aber nehmen Sie einmal an, Amerika wäre
nicht so reich und mächtig und Deutschland und Indien würden beschließen, die amerikanischen
rechtsgerichteten Milizen zu bewaffnen, weil wir mit der US-Regierung unzufrieden wären. Oder stellen
Sie sich vor, wir würden die unter dem Rassismus leidenden Schwarzen in den USA bewaffnen. Man
kann keine egalitäre Gesellschaft schaffen, indem man einen Knopf drückt oder einfach Geld und
Waffen verteilt. Eine Gesellschaft muß die Möglichkeit haben, sich zu entwickeln, eine Demokratie
muß sich entwickeln können, die Unterdrückten müssen lernen, für ihre eigenen Rechte zu kämpfen.
Niemand kann von außen kommen und in diesen Prozeß eingreifen, indem er die Menschen wie
Schachbrettfiguren hin- und herschiebt. Genau das tut Amerika seit Jahren überall auf der Welt.
Deshalb bestehen Sie darauf, daß der Terrorismus ein Symptom sei und nicht die Krankheit.
Roy: Als Indien 1998 Atombombentests durchführte, warnte ich bereits davor, daß das Prinzip der
Abschreckung ein großer Fehler ist. Denn die Idee der Abschreckung beruht auf der Annahme, daß
man ein sensibles Verständnis seines Gegners hat und annehmen kann, daß er sich von denselben
Dingen abschrecken läßt wie man selbst auch. Was aber, wenn dem nicht so ist, was, wenn es sich
beim Gegner um den Typus des Selbstmordattentäters handelt? Terrorismus ist die kaltblütige,
unausweichliche, logische Antwort auf die nukleare Option. Denn Regierungen, die Atomwaffen haben,
sind auf bestimmte Art und Weise selbst terroristisch. Sie gehen ihren Geschäften nach und verfolgen
ihre Interessen, indem sie der Welt von Zeit zu Zeit manchmal offen, manchmal verdeckt mit dem
Terror drohen, den sie entfesseln können. Mit staatlichem Terrorismus kann man dem nichtstaatlichen
Terrorismus nicht beikommen - einfach deswegen nicht, weil darin eine unkontrollierte Wut zum
Ausdruck kommt, die der Staatsterrorismus ausgelöst hat. Diese Wut kann man nicht zerschießen
oder zerbomben. Man kann nur versuchen, ihr mit Überzeugungskraft entgegenzutreten. Das mag ein
schwieriger und demütigender Weg sein, aber es ist der einzig gangbare. Wenn wir uns weigern, ihn
zu gehen, müssen wir uns darauf einrichten, daß der Terror kein Ende findet. Und wenn Regierungen
gegen Terrorismus sind, müssen sie sich auch bereit zeigen, auf gewaltfreie, demokratische Formen
des Protests einzugehen. Sie müssen auf Alarmsignale reagieren. Indem man dem Terror so viel
Aufmerksamkeit schenkt - indem man einen terroristischen Angriff mit einer Kriegserklärung
beantwortet, die zu einem Weltkrieg führen könnte -, gibt man den Terroristen recht. Sie können Gift
drauf nehmen, daß jetzt Terroristen überall Morgenluft wittern, nachdem sie gemerkt haben, daß ein
einziger hervorragend geplanter Anschlag genügt, um ihre Anliegen auf die Fernsehschirme der
ganzen Welt zu bringen. Dafür lohnt es sich zu sterben! Die klügste Antwort auf das Grauen des 11.
September wäre der Versuch, sich die Schönheit neu vorzustellen - denn das ist es, was die Welt
verloren hat. Die Häßlichkeit des Osama bin Laden und die Häßlichkeit des George W. Bush haben
uns überwältigt.
Sind die Amerikaner demnach Heuchler oder lediglich verhängnisvoll naiv?
© White House
© Taliban
Roy: Diese Frage stelle ich mir ständig - unter der ganzen Cowboy-Rhetorik der amerikanischen
Regierung schwelt ein tiefer, manipulativer Zynismus. Aber die einfachen Menschen sind, wie gesagt,
schlecht informiert. Sie würde ich schon naiv nennen. Ich habe den Eindruck, daß die Menschen in
einem armen Land wie Indien besser über Situationen, wie wir sie jetzt erleben, informiert sind als der
durchschnittliche Amerikaner. In den indischen Zeitungen finden alle Meinungen Raum. Zur Zeit der
Atomtests herrschte in Indien genau dieselbe überzogen nationalistische Atmosphäre wie jetzt in den
USA, und trotzdem hatten einige der wichtigsten Zeitungen den Mut, sich gegen die Regierung zu
stellen. In Indien verstehen wir nicht, wie das amerikanische Volk immer wieder auf seine Regierung
hereinfallen kann. Die Amerikaner sind so reich, so privilegiert und gleichzeitig so sehr gegen die
Gewalt abgeschirmt, daß sie in ihren Filmen mit ihr spielen können, weil sie sie selbst noch nicht
wirklich erlebt haben. Sie haben Gewalt nur von außen kennengelernt, als sie ihre Männer nach
Vietnam schickten und sie in Leichensäcken zurückbekamen. Aber in ihren Heimen und in ihren
Herzen haben sie sie nie erfahren müssen. Wir dagegen haben seit Jahren mit ihr leben müssen.
Der springende Punkt scheint zu sein, daß die USA ihr weltweites militärisches Engagement, lediglich
als eine Art erweiterter Selbstverteidigung betrachten.
Roy: Wie rechtfertigt Amerika all die Untaten, die es im Namen der Selbstverteidigung begangen hat?
War Vietnam Selbstverteidigung?
Die USA sehen sich als Gralshüter von Demokratie und Freiheit legitimiert, bei Bedarf überall zu
intervenieren.
Roy: Das ist doch kompletter Unsinn! Die USA haben so viele Diktatoren unterstützt, daß man sie
kaum noch zählen kann. Sogar Saddam Hussein haben sie Waffen geliefert, als er die Kurden tötete.
Es gibt diesen berühmten Ausspruch: „Sicher ist er ein Hurensohn. Aber er ist unser Hurensohn.“ Nur
wenn die von den USA gestützten Despoten anfangen, eigene Wege zu gehen, dann nennen sie sie
„Faschisten“ oder „Diktatoren“. Auch frage ich mich, wie die USA den Tod von 500.000 Kindern durch
die Sanktionen im Irak rechtfertigen können. Dann heißt es, die Menschen sind verantwortlich für ihre
Regierung. Allerdings: Sind dann die Menschen in einer Demokratie nicht erst recht verantwortlich für
ihre Regierung?
Dann traf es am 11. September 6.000 politisch schuldige Menschen?
Roy: Natürlich waren sie nicht schuldig - aber ebensowenig waren es die Menschen, die in Amerikas
Kriegen und Gegenschlägen starben, noch sind es die Zivilisten im Irak. Die Frage ist: „Was ist
Terrorismus?“ - Kann irgendwer diese Frage beantworten? Man sagt, Terrorismus sei die Tötung
Unschuldiger. Gibt es das nicht genauso im Krieg?
Auch wenn immer wieder viele Zivilisten umkommen, so haben Soldaten eigentlich den Auftrag, nur
andere Soldaten anzugreifen. Das ist schon ein Unterschied.
Roy: Aber das ist nicht die Realität.
Aber das ist das Kriegsvölkerrecht.
Roy: Nicht in Hiroshima und Nagasaki, nicht im Irak und nicht in Ost-Timor...
Noch in Dresden, das stimmt.
Roy: Es ist sehr wichtig, zu verstehen, was Terrorismus ist. Die US-Regierung will eine „Allianz gegen
den Terror“. Als die USA in den achtziger Jahren die Mudschaheddin finanzierten und bewaffneten,
nannten sie das kommunistische Regime in Kabul Terroristen. Der US-Verbündete Pakistan hatte und
hat heute noch im ganzen Land Terror-Camps und schickt Terroristen nach Kaschmir. Indien nennt
diese Leute Terroristen, Pakistan nennt sie Freiheitskämpfer. Indien verurteilt den Terror, trainiert aber
selbst die LTTE, die gegenwärtig Sri Lanka terrorisiert. Es ist sehr gefährlich für Regierungen, mit
diesen gewaltigen, explosiven menschlichen Emotionen zu spielen. Viele Staaten sind oder waren in
das Geschäft des Terrorismus verwickelt. Es ist nötig, sich endlich einzugestehen: „Jeder von uns hat
so etwas einmal gemacht, laßt uns von nun an in die Zukunft schauen, wenigstens mit einem
Minimum an Übereinstimmung und Ehrlichkeit.“ Wenn nicht, dann sollten wir wenigstens die
Frömmigkeit und Moralität fallen lassen und so ehrlich sein, einzugestehen, was für eine brutale,
groteske Spezies wir sind, und unsere brutalen, grotesken Kriege in Zukunft fortsetzen, ohne sie mit
biblischen Bezeichnungen zu etikettieren.
Gibt es also Terrorismus gar nicht, ist er lediglich eine Frage des Standpunktes?
Roy: Ich habe an den Protesten gegen ein großes Damm-Projekt der indischen Regierung
teilgenommen. In den letzten 50 Jahren wurden deshalb 33 Millionen Menschen umgesiedelt -
natürlich die Ärmsten der Armen. Seit 15 Jahren gibt es nun diese wundervolle gewaltlose
Protestbewegung, voller Tanz, Gesang und - Schönheit. Aber niemand hört zu, niemand beachtet sie.
Wenn diese umgesiedelten Menschen morgen zu den Waffen greifen, wird sie jedermann Terroristen
nennen. Wenn die, die an der Macht sind, Gewaltfreiheit nicht zu schätzen wissen, dann fördern sie
durch Unterlassung die Gewalt.
Der Westen rüstet also nicht nur die Terroristen von morgen heute auf, er zwingt die anderen Kulturen
auch, nach dieser Lösung zu greifen, weil er auf friedliche Protest- und Abwehrformen nicht reagiert?
Roy: Ganz genau! Das ist der springende Punkt. Die Vergötterung, die absolute Ehrfurcht, die der Kult
der Gewalt überall auf der Welt genießt - das ist der springende Punkt!
Sie haben den Terrorismus als ein Produkt sozialer und politischer Ungerechtigkeit beschrieben.
Aber ist er nicht genauso eine Folge der kulturellen Differenz? Osama bin Laden führt keine sozialen,
sondern kulturelle Gründe bei seiner Argumentation gegen Amerika und den Westen ins Feld.
Roy: Was bleibt einer Person oder einer Kultur, der alles genommen wurde? Wer sind die Taliban?
Das sind Menschen, die Frauen steinigen oder sie lebendig begraben, weil sie gar nicht wissen, was
Frauen sind. Sie haben keine Mütter gehabt, denn ihre Eltern wurden zumeist im Bürgerkrieg getötet,
und sie sind ohne Familien aufgewachsen. Eineinhalb Millionen Afghanen wurden im Bürgerkrieg
getötet! Die ältesten Taliban-Führer sind um die 40. Viele von ihnen sind kriegsversehrt, ihnen fehlt ein
Auge, ein Arm oder ein Bein. Sie sind in einer Welt aus Schutt und Asche - und Heroin -
aufgewachsen und leben bis heute dort. Alles in ihrer Welt ist zertrümmert und bloßgelegt, und das
Monster in ihnen erwacht und wütet und wütet. Dabei spielt es keine Rolle, was dieses Monster ihnen
einflüstert, ob es ihren Protest kulturell, ökonomisch, politisch oder religiös nennt. Es wütet einfach.
Deshalb ist es wichtig, die Wut zu dämpfen, nicht sie anzufachen, denn diese Wut ist grenzenlos
destruktiv.
Sie haben Osama bin Laden „die dunkle Seite der Zivilisation“ und den „dunklen Doppelgänger
George Bushs“ genannt.
Roy: Ja, sie sind wie Zwillinge, sie repräsentieren die zwei Extreme der Zivilisation, und nur das eine
Extrem ist wirklich in der Lage, das andere herauszufordern. Die übrige Welt liegt zwischen diesen
Polen. Der eine ist aus den Exkrementen des anderen entstanden.
Welche Rolle spielt die Globalisierung in diesem Konflikt?
Roy: Ihre Rolle ist gewaltig. Nach dem Fall der Sowjetunion wurden die USA zur unipolaren Macht.
Denn wenn Opposition fehlt, ist es gleichgültig, ob es sich um den Kapitalismus handelt oder um den
Kommunismus oder den Islam; alles, was ungehemmt außer Rand und Band geraten kann, wird
monströs. Das ist es also, was die Globalisierung anrichtet. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen:
Die amerikanische Firma ENRON wollte in Indien ein Kraftwerk bauen. ENRON hatte die gesamte
US-Administration im Rücken, einschließlich des Präsidenten. ENRON unterzeichnete einen
merkwürdigen, einseitigen Vertrag, möglich durch die Zahlung enormer Geldsummen an Politiker.
Heute ist die Elektrizität, die ENRON anbietet, so teuer, daß sie sich niemand leisten kann. Aber
obwohl niemand den Strom kauft, ist die Regierung per Vertrag verpflichtet, ENRON einen Betrag zu
bezahlen, der 60 Prozent des indischen Budgets für landwirtschaftliche Entwicklung entspricht. Die
Menschen protestieren seit Jahren dagegen. Niemand nimmt Notiz davon. So nimmt man einer
Gesellschaft schleichend ihre Würde, ihre Infrastruktur, ihre Produktivität, ihre Initiativfreudigkeit. Und
was übrigbleibt, ist jene gefährliche Monstrosität.
Die Gefahr, die von der Globalisierung ausgeht, stellt also nicht die Vernichtung der verschiedenen
Kulturen dar, sondern das unipolare System?
Roy: Das Verschwinden der Kulturen führt zum unipolaren System.
Deutschlands bekanntester Nachrichtenmoderator Ulrich Wickert übte die gleiche Kritik wie Sie an
Präsident Bush und zitierte einige Sätze aus Ihrem Essay. Trotz sofortiger Entschuldigung sah er
sich heftigen Vorwürfen ausgesetzt, bis hin zu Rücktrittsforderungen.
Roy: Wieso denn das? - Das ist allerdings traurig...
Der Verweis auf Ihren Text nützte ihm nichts, schließlich hieß es, Frau Roy sei es erlaubt, so etwas
zu sagen, einem deutschen Nachrichtenmoderator jedoch nicht.
Roy: Was ist denn nur los mit Deutschland? Warum darf ich so etwas sagen, nicht aber Herr
Wickert? Glaubt Ihr Deutschen denn, in den Köpfen der Menschen wehen kleine Flaggen? Was ich
gesagt habe, habe ich als Weltbürgerin gesagt, nicht als Inderin. Ich dachte, Deutschland sei ein
freies Land?
Die deutsche Regierung teilt die amerikanische Interpretation des Konfliktes als „Angriff auf die
Freiheit“, sie verbittet sich jede Kritik an den Vereinigten Staaten und unterstützt die USA politisch
und militärisch völlig bedenkenlos.
Roy: Da sehen Sie die Gefahr der „uni-polaren Monstrosität“! Aber um ehrlich zu sein, wenn die
indische Regierung die Gelegenheit hätte, würde sie es genauso machen. Und tatsächlich bemüht sie
sich auch darum, doch zum Glück scheinen die USA keinen allzugroßen Wert auf ihre Hilfe zu legen.
Es ist eben sehr einfach für Präsident Bush und seine Anhänger in Deutschland und überall in der
Welt, zu erklären: „Dies war ein Angriff auf die Demokratie und die Freiheit“. Aber das war es nicht -
und jemand muß das laut sagen -, es war lediglich eine andere Welt, die versucht hat, klarzumachen:
„Schaut her! Wir existieren! Wir haben Rechte! Gebt uns Raum zu atmen!“ Hören wir auf sie, bevor es
zu spät ist.
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