- Die Akte Kissinger! - marsch, 01.11.2001, 16:30
- Re: Die Akte Kissinger! - McMike, 01.11.2001, 17:29
- Re: Die Akte Kissinger! - SchlauFuchs, 01.11.2001, 17:36
- Re: Die Akte Kissinger! - McMike, 01.11.2001, 21:07
- Re: Die Akte Kissinger! - SchlauFuchs, 01.11.2001, 17:36
- Re: Die Akte Kissinger! - McMike, 01.11.2001, 17:29
Die Akte Kissinger!
Was werden wir wohl in 30 Jahren über die heutigen"Freiheitsverteidiger" lesen/hören müßen?
<font size=4>Die Demontage einer Legende
Henry Kissinger vor Gericht </font>
Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger muss in zwei lateinamerikanischen Staaten vor Gericht als Zeuge erscheinen. In Chile soll er auf Anordnung des Obersten Gerichts zum Fall des unter der Pinochet-Militärdiktatur ermordeten Amerikaners Charles Horman vernommen werden. Am 17. September 1973, sechs Tage nach der Machtübernahme durch Augusto Pinochet, war der Journalist Horman, der sich in Chile aufhielt, um über die sozialistische Regierung Salvador Allendes zu berichten, verhaftet worden. Er wurde gefoltert und erschossen. Erst 1974 überführte man seine Leiche in die USA. In den letzten Jahren wurde der Vorwurf laut, dass die US-Regierung, obwohl sie von der Festnahme wusste, dem US-Staatsbürger keine Hilfe zukommen ließ.
Ein Argentinisches Gericht verlangt von Kissinger Auskunft über Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktaturen im südlichen Südamerika. Mit dem"Plan Condor" hatten die damaligen Diktatoren Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays die grenzübergreifende Verfolgung, Folter und Ermordung politischer Gegner organisiert. Angeklagt werden die Diktatoren in Argentinien jetzt wegen"Bildung einer illegalen Vereinigung in besonders schweren Fall". Kissinger, der mit anti-kommunistischen Machthabern immer auf gutem Fuße stand, soll zwischen 1973 und 1977 Zugang zu geheimen Informationen über die kriminellen Machenschaften gehabt haben. Mehr als 10 000 Seiten Dokumente, Abschriften dienstlicher Gespräche, soll der ehemalige Außenminister ans Außenministerium übergeben haben.
Henry Kissinger- das ist eine amerikanische Erfolgsstory. Als Jugendlicher floh er vor den Nazis in die Vereinigten Staaten. Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg als GI gegen die Deutschen. Er promovierte in Harvard und wurde zum Chefdiplomaten des 20. Jahrhunderts. Als Außenminister und Sicherheitsberater unter Präsident Richard Nixon und Henry Ford etablierte er sich zum einem der prominentesten und maßgeblichsten Politiker Amerikas. Die Abrüstungsgespräche von 1969, die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit China und der Rückzug der Amerikanischen Truppen aus Vietnam zählen zu seinen großen außenpolitischen Erfolgen.
Kissinger ist zum Sinnbild des Realpolitikers geworden. Aber dieser klassische Ansatz, Politik - im Sinne der raison d'etat zu sehen und das Interesse des Nationalstaates über die Annahme einer universalen Moral zu stellen - stand schon immer im Fadenkreuz der Kritik. Bereits Machiavellis"principe" mit seinem nüchternen und illusionslosen Realismus war als Zyniker und Verführer der Macht verschrien. Und so erstarkten in den letzten Jahren unter den allgemeinen Lobeshymen auf den Friedensnobelpreisträger Kissinger auch mehr und mehr die kritischen Stimmen. Diese demontieren das Geschichtsbild des Friedensnobelpreisträgers Kissingers, an dem er selber eifrig mitgebastelt hatte. Die Praktiken des brillanten Diplomaten, der Politik als Handwerk angesehen hat, erscheinen in immer zweifelhafterem Lichte.
Seit der Veröffentlichung des Buches"Die Akte Kissinger" von Christopher Hitchens ist es in der Debatte um die historische Rolle Kissingers nicht mehr ruhig geworden. Massive Menschenrechtsverletzungen in Südamerika und China nicht nur in Kauf genommen, sondern auch verständnisvoll gebilligt zu haben, wird ihm vorgeworfen. Kissinger wird beschuldigt, mit der massiven Bombardierung Kambodschas - im Windschatten des Vietnamkriegs - schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Nicht nur der griechische coup d'etat auf Zypern, sondern auch die indonesische Invasion in Osttimor sollen mit freundlicher Unterstützung des US-Außenminister vor sich gegangen sein.
Auffallend wenige Gegenstellungen aus politischen Kreisen haben seitdem Kissingers Rolle verteidigt, und auch er selbst hält sich den Vorwürfen gegenüber bedeckt. Ob Kissinger in einem der beiden Fälle wirklich vor Gericht erscheinen wird, ist fraglich. Letzten Monat weigerte Kissinger sich vor französischen Ermittlungsbehörden über die US-Unterstützung für Pinochet auszusagen. Er habe damals im offiziellen Auftrag der Regierung gehandelt, daher wäre das US-Außenministerium der Ansprechpartner. Mit diesem Standpunkt bleibt sich Kissinger treu. Politik das ist die Technokratie der Macht.
Franziska Fürst
<font size=4>500.000 Tote für den Wahlkampf</font>
Schriften zu Zeitschriften: Lettre International druckt die Anklageschrift des Journalisten Christopher Hitchens gegen den Staatsmann Henry Kissinger
von STEFAN SCHAAF
Im Juli 1998 beschlossen 148 Mitgliedstaaten der UNO in Rom bei nur sieben Gegenstimmen die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes, der Kriegsverbrechen untersuchen und aburteilen soll. Die USA stimmten dagegen. Erst in letzter Minute und nur, um nicht jeglichen Einfluss auf die weiteren Verhandlungen zu verlieren, entschloss sich Präsident Clinton Ende des vergangenen Jahres doch noch, dem Abkommen beizutreten. Ratifiziert haben die Gründungserklärung bislang 33 Staaten. Die USA gehören nicht dazu, und im Kongress hat sich eine von beiden Parteien getragene Front gebildet, die dafür sorgen will, dass dies auch nie geschieht. Die Begründung ist offen und direkt: Es sei für die Vereinigten Staaten keinesfalls akzeptabel, versicherte der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Clinton-Administration, David Scheffer, dem Kongress, dass dieser Gerichtshof unter Umständen gegen amerikanische Soldaten oder Regierungsbeamte Anklage erhebe.
Scheffer hätte auch sagen können: dass unser ehemaliger Außenminister Henry Kissinger womöglich einer der ersten Angeklagten eines solchen Gerichtshofes würde. Umfangreiche Belege für die Stichhaltigkeit einer solchen Befürchtung liefert jetzt der Journalist Christopher Hitchens in seinem Buch"The Trial of Henry Kissinger", das im April auf Englisch, im Herbst bei der DVA auf Deutsch ("Die Akte Kissinger") erscheinen soll, jetzt aber bereits vollständig in der neuesten Ausgabe der europäischen Kulturzeitschrift Lettre International vorabgedruckt wurde. Kissinger verdiene die Strafverfolgung"wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Verschwörung zu Mord, Entführung und Folter", schreibt Hitchens. Er stammt aus Großbritannien, sein journalistisches Handwerk bestreitet er aber seit vielen Jahren in den USA, wo er für Vanity Fair schreibt und als Kolumnist der traditionsreichen linken Wochenzeitung The Nation regelmäßig Salz in die Wunden der Mächtigen streut. Die amerikanische Lust an der Glorifizierung von Heldenfiguren ist ihm ein Gräuel, so schrieb er ein vernichtendes Buch über Mutter Teresa, schrieb genüsslich-ätzend über den Kult um Lady Di und verfasste eine äußerst bissige Kritik der Charakterschwächen Bill Clintons.
Nun also Kissinger, weltweit, von der Los Angeles Times bis zum Spiegel, hofierter Elder Statesman, Friedensnobelpreisträger und Autor, der pro Redeauftritt 30.000 Dollar kassiert und mit seiner Firma"Kissinger Associates" Großfirmen die Türen in fremde Länder öffnet, ohne lästige Fragen zu stellen. Kann man sich diesen heute 78-jährigen Mann in Handschellen wie Slobodan Milosevic vorstellen, mit gebeugtem Haupt wie Chiles Augusto Pinochet? Hitchens schildert Kissingers Rolle und seine Aktionen in Vietnam, Kambodscha, Chile - an Tatorten also, die schon seit langem von Kissinger-Gegnern genannt werden. Hitchens stützt sich dabei auf Akten und Gesprächsprotokolle aus der Nixon-Ära, die zum Teil erst in den vergangenen zwei Jahren in den USA freigegeben wurden. Der Vergleich zwischen Kissingers eigener Darstellung einzelner Unterredungen in seinen Memoiren und dem tatsächlich Gesagten bestätigt die schlimmsten Befürchtungen über die Diskrepanz zwischen Kissingers politischer Fassade und seiner faktischen Politik hinter den Kulissen.
Nach Kräften hatten Kissinger 1970 als Chef der inoffiziellen politischen Kontrollinstanz der US-Geheimdienste, des so genannten 40 Committee, den Amtsantritt des gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende zu verhindern gesucht. Man könne doch einem Land nicht erlauben, kommunistisch zu werden, nur weil dessen Bevölkerung so unvernünftig sei, sagte Henry Kissinger damals. Am 16. Oktober, fünf Wochen nach Allendes Wahlsieg und acht Tage vor dessen Vereidigung durch den chilenischen Kongress, kabelte die CIA folgende unmissverständliche Order an ihre Dienststelle in Santiago:"Weiter bestehendes, klares Ziel ist der Sturz Allendes durch einen Putsch. Es wäre wünschenswert, wenn dies noch vor dem 24. Oktober zustande käme, doch Bemühungen in dieser Hinsicht werden über dieses Datum hinaus unvermindert verfolgt."
Die CIA stand mit einer rechtsextremen Offiziersgruppe in Kontakt, der sie eigentlich keinen erfolgreichen Putsch zutraute, die der Geheimdienst dennoch mit 50.000 Dollar finanzierte und der man per Kurier aus Washington eine Ladung unmarkierter Maschinenpistolen samt Munition zukommen ließ. Zum Putsch kam es zunächst nicht, aber zur versuchten Entführung und danach zur Ermordung des angesehenen und Allende-treuen chilenischen Militärchefs General René Schneider durch diese Offiziersgruppe.
Doch die am schwersten wiegenden Vorwürfe gegen Kissinger drehen sich um die völkerrechtswidrige Bombardierung Kambodschas und um den Vietnamkrieg. Hitchens ist nicht der erste, der den Vorwurf erhebt, Kissinger habe es ermöglicht, dass Richard Nixons Präsidentschaftskampagne 1968 Präsident Lyndon B. Johnson hinterging und die Pariser Friedensverhandlungen sabotierte. Nixons Leute ließen der südvietnamesischen Regierung mitteilen, sie möge bis zur Präsidentschaftswahl hart bleiben: Falls Nixon siege, werde es für Saigon bessere Konditionen geben, als ihnen Johnson gegenwärtig anbiete. Südvietnam blieb hart, die Verhandlungen brachen zusammen, und der Krieg dauerte mindestens vier Jahre länger. 31.000 GIs und eine halbe Million Vietnamesen starben in jenen Jahren einen unnötigen gewaltsamen Tod.
Jeder zweite der fast 60.000 Namen gefallener US-Soldaten, die in das Vietnam-Memorial in Washington eingraviert wurden, steht dort wegen dieser ungeheuerlichen Intrige eines machtgierigen Politikers. Hitchens über ihn:"Kissinger wird nicht wegen seiner ausgefeilten Manieren oder seines beißenden Humors eingeladen und hofiert (seine Manieren sind eigentlich eher grob und sein Humor besteht aus einem Bündel von Bonmots aus zweiter Hand). Nein, er ist so begehrt, weil seine Anwesenheit für einen Schauder sorgt, für den authentischen Touch roher, vorlauter Macht."
Lettre International, Heft 53, II. VJ./2001, 17 DM
taz Nr. 6473 vom 18.6.2001, Seite 14, 209 Zeilen (TAZ-Bericht), STEFAN SCHAAF
<font size=4>Christopher Hitchens: Die Akte Kissinger</font>
Manuskript vom: 3.9.2001 • 19:15
Deutsche Verlagsanstalt, München. 2001 250 Seiten, DM 39,80
Ein Beitrag von Karin Beindorff
Moderation: Hermann Theißen
Während seiner Zeit als erster nationaler Sicherheitsberater und später als Außenminister unter Nixon und Ford war er immer zur Stelle, um die Armen und Hilflosen zu bombardieren oder anderweitig zu zerstören, von Chile bis Kambodscha, und einen strategischen"Deal" mit den Machthabern zu machen, selbst mit Mao.
Das schreibt der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in der Frankfurter Rundschau.
Wenn ein Land, am besten ein westeuropäisches, Kissinger auf der Promotion-Tour für dessen neuestes Buch auf dieselbe Weise verhaften würde, wie man in England Pinochet verhaftet hat, so wäre das eine authentische politische Tat. Eine solche Geste würde die internationale Menschenrechtsmaschinerie auf den Prüfstand stellen und die Verantwortlichen zwingen, ihren Standpunkt klar zu machen und eine Wahl zu treffen. Entweder würden die USA Kissingers Freilassung fordern und damit den großen Betrug der Menschenrechte belegen oder... Mitunter besteht die klügste Politik in äußerlicher Naivität, oder, um Gandhis geistreiche Bemerkung zur britischen Zivilisation zu zitieren:"Universelle Menschenrechte? Eine gute Idee, vielleicht sollten wir sie ausprobieren." Dieses sollte die Botschaft an Machthaber sein, die für die Menschenrechte eintraten bei der Verhaftung Noriegas, beim Bombardieren des Irak, bei der Wirtschaftsblockade Kubas, beim Verfolgen jugoslawischer Kriegsverbrecher vor dem Haager Tribunal: Verhaftet Kissinger, oder schweigt von Milosevic.
Zu solch konsequenter politischer Moral hat den slowenischen Philosophen die Lektüre von Christopher Hitchens Buch"The Trial of Henry Kissinger" veranlasst. Bei der DVA in München ist jetzt unter dem Titel"Die Akte Kissinger" die deutsche Übersetzung erschienen.
Henry Kissinger, der große Staatsmann und Weltenlenker, wie ihn die 'Zeit' einmal nannte, musste im Mai im feinen Pariser Ritz Hotel erfahren, dass nicht jeder ihn, wie Helmut Schmidt, für einen 'äußerst hartnäckigen diplomatischen Vermittler des amerikanischen Ideals von Freiheit' hält. Ein französischer Untersuchungsrichter ließ dem Friedensnobelpreisträger und hochdotierten Vortragsreisenden eine Zeugenvorladung überstellen. Die Familien von fünf Franzosen, die im Chile Pinochets spurlos verschwanden, wollen die Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung Oppositioneller im faschistischen Chile aufklären. Der Richter versuchte deshalb zu ermitteln, was der damalige Chef des Nationalen Sicherheitsrates der USA und das Mitglied im Geheimdienstkontrollgremium Committee 40 über die Verwicklung der CIA in die Operation Condor wusste, über den Geheimplan zur Verfolgung Oppositioneller, vereinbart zwischen mehreren rechten Diktaturen Lateinamerikas. Henry Kissinger lehnte es ab, auf die Vorladung zu antworten. Interesse an der Aufklärung kann er wohl auch kaum haben, denn in Zeiten der juristischen Ermittlungen gegen Milosevic, Pinochet, Scharon und andere Zeitgenossen, die sich um das internationale Recht gegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Mord und Folter wenig scheren, kann selbst ein ehemaliger us-amerikanischer Außenminister schnell mal in Verruf geraten. Die für die Zwecke der NATO instrumentalisierte Menschenrechtsdebatte schlägt zurück. Christopher Hitchens, ein in den USA lebender britischer Autor, hat sich schon mit der unsanften Entzauberung von medialen Lichtgestalten wie Mutter Teresa und Lady Di einen Namen gemacht, nun hat er sich Henry Kissinger vorgeknöpft. Hitchens geht es weniger um eine politische Analyse, er denkt wie ein Ankläger:
"Ich möchte nur jene Vergehen Kissingers untersuchen, die als Grundlage für eine Strafverfolgung dienen können und sollten: wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Delikte gegen das allgemeine Rechtsverständnis oder internationales Recht, darunter Verschwörung zum Mord, Entführung und Folter."
Leichen pflastern den Weg des Weltenlenkers Dr. Kissinger, diese These ist nicht grundsätzlich neu. Ob der faschistische Putsch in Chile oder die Endphase des Vietnamkrieges, die illegale Bombardierung von Kambodscha und Laos, schon andere Biographen haben Kissingers geostrategisches Denken und Handeln beschrieben und teils heftig kritisiert.
Christopher Hitchens hat akribisch recherchiert, Details zusammengetragen, ein paar neue Belege in bisher verschlossenen Archiven ausfindig gemacht und zahlreiche Interviews geführt und ausgewertet. Das Ergebnis, zudem bissig geschrieben, liest sich wie ein Krimi. Doch selbst wenn man nach der Lektüre unterstellt, das Gefundene sei stichhaltig, so ist es doch in der 'Akte Kissinger' zu einem Konstrukt verarbeitet, zu einer gewollt eindimensionalen Beurteilung komplexer politischer Zusammenhänge unter dem Gesichtspunkt strafrechtlich relevanter persönlicher Schuld. Kann man aber Politik unter den Prämissen des Strafrechts machen und beurteilen? War dann nicht zwangsläufig der bewaffnete Kampf des ANC gegen das Apartheid-Regime illegal oder ist dann nicht auch das NATO-Bombardement in Jugoslawien ein Kriegsverbrechen?
Als erstes Beispiel dient Hitchens der Vietnam-Krieg. Ende 1968 verhandelten in Paris die USA und Südvietnam mit Nordvietnam über einen Friedensvertrag. Zuhause tobte der Wahlkampf zwischen dem Demokraten Humphrey und dem Republikaner Nixon. Kissinger soll nun mit von der Partie gewesen sein, als das Nixon-Team illegal die südvietnamesische Marionettenregierung anstiftete, die Verhandlungen zu verlassen. Man hatte ihr schlicht im Falle eines Wahlsieges von Nixon bessere Konditionen versprochen. Der Krieg dauerte weitere drei Jahre, wurde dann zu ähnlichen Bedingungen vom unter Nixon zum Nationalen Sicherheitschef avancierten Kissinger beendet. In der Zwischenzeit hatte Kissinger Kambodscha und Laos in Schutt und Asche legen lassen und weitere mindestens 20.000 US-Soldaten in den Tod geschickt.
"Und dies alles war nur nötig, um Henry Kissinger nach vorne zu bringen. Es machte aus einem mittelmäßigen, opportunistischen Akademiker einen internationalen Potentaten. Seine herausragenden Eigenschaften waren schon von Beginn an vorhanden: Kriecherei und Doppelzüngigkeit, Machtverehrung und das völlige Fehlen von Skrupeln, das Verschachern alter scheinbarer Freunde für neue scheinbare Freunde... Kissingers Weltkarriere begann so, wie sie auch weiterhin verlaufen sollte. Sie verdarb die amerikanische Republik und die Demokratie, und sie forderte schwächeren und verwundbareren Gesellschaften eine ungeheuerliche Menge Menschenopfer ab."
Hitchens geht nicht der Frage nach, ob der Krieg in Vietnam tatsächlich 1968 schon hätte beendet werden können, ebenso wenig spielt die militärische Niederlage, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits abzeichnete, eine Rolle. Die Bedingungen für einen Frieden wurden nicht nur von den USA bestimmt, die Nordvietnamesen und der Vietcong hatten zu diesem Zeitpunkt kaum Veranlassung, sich den mit viel Blut bezahlten Triumph des militärischen Sieges durch fadenscheinige Kompromisse nehmen zu lassen. Hitchens personalisiert die Politik allzu stark und zieht gelegentlich Schlüsse, die vielleicht seiner Anklage dienen, aber die politischen Zusammenhänge außer acht lassen. Doch selbst wenn man sich auf die Ebene strafrechtlich relevanten Tuns begibt: Wer ist dann schuldig oder mitschuldig? Der Präsident, der Außenminister, Militärs, der einzelne Soldat, die Geheimdienste und jeder ihrer Mitarbeiter, der angestiftet, gemordet und gefoltert hat, die Journalisten, gar die Wähler in der Demokratie USA? Und wieso konnte ein derart skrupelloser von einem Drahtzieher wie Kissinger gelenkter Herrschaftsapparat am Ende doch sein Waterloo in Vietnam erleben?
Kissinger, der sich zuerst in der akademisch-politischen Welt von Harvard mit einer Studie über Metternich einen Namen gemacht hatte, war ein Kalter Krieger der realpolitischen Sorte. Der militante Antikommunismus war für den smarten Aufsteiger, der es vom Emigrantenkind aus Fürth zum einflussreichen Außenpolitiker der USA gebracht hatte, die entscheidende Triebfeder. In diesem Kreuzzug war jedes Mittel recht, nicht anders übrigens als beim verhassten und dämonisierten Gegner im Kampf gegen die Krake Kapitalismus. Man stelle sich nur für einen kleinen Moment den umgekehrten Ausgang des Kalten Krieges vor: Der siegreiche Osten würde genüsslich in den dann nicht mehr wie heute so schamhaft verschlossenen Archiven von westlichen Militärs und Geheimdienstlern herum stöbern und zutage fördern, was ein selbstgerechter, weil siegreicher Westen heute nicht wahrhaben will. Nämlich, dass auch im Namen der Freiheit Verbrechen begangen wurden, die ein ziemlich schlechtes Licht auf diese Vorstellung von Freiheit werfen.
Hitchens zählt eine Reihe blutiger Verbrechen auf, geschehen in Chile, Bangladesh, Zypern, Osttimor, um nur die zu nennen, bei denen die Beweislage für den Laien-Staatsanwalt besonders günstig ist. Die zwielichtige Unterstützung angolanischer Rebellen oder des Massenmörders Mobutu in Zaire, hat Hitchens weggelassen, obwohl auch sie für die Charakterisierung dieser geostrategischen Machtpolitik unerlässlich sind und für die Auffrischung des Gedächtnisses in diesen Zeiten westlicher Selbstgerechtigkeit im Angesicht des Sieges nützlich wären. Es fehlen, weil strafrechtlich kaum zu fassen, auch die Drohungen gegen die italienische Demokratie, gegen den eigenen NATO-Partner, falls der auf die Idee kommen sollte, die legal gewählten Kommunisten an der Regierung zu beteiligen. Heute ist längst bekannt, welch abenteuerliche und mit den Gesetzen einer Demokratie unvereinbaren Pläne auch in der NATO unter Kissingers Druck entwickelt wurden, um die von Moskau unabhängigen Eurokommunisten aus dem Feld des historischen Kompromisses zu schlagen. Wie herzlich wurscht ihm demokratische Wahlentscheidungen waren, wenn er das Militärbündnis in Gefahr sah, offenbarte Kissinger noch 1999 im 3. Band seiner Erinnerungen:
"Mit der Situation in Italien war schwierig fertig zu werden, weil die kommunistische Partei offenbar den Marsch durch das reguläre Wahlsystem angetreten hatte... Natürlich konnten wir nur wenig tun, um die Entscheidung der Politiker eines Landes wie Italien, das für das Atlantische Bündnis so zentrale Bedeutung hatte... direkt zu beeinflussen.... Als Führungsmacht der demokratischen Nationen trugen die Vereinigten Staaten eine besondere Verantwortung für den moralischen Zusammenhalt des Bündnisses."
Doch diese Moral war eher eine Doppelmoral: Präsident Ford, so Kissinger weiter, habe am Beispiel Portugals dem italienischen Regierungschef Aldo Moro klar gemacht, dass man eine marxistische Regierung in der NATO nicht dulden würde. Wenige Monate später wurde der Christdemokrat Moro, der den 'historischen Kompromiss' für Italien wollte, entführt und ermordet. Andreotti, ein Bruder Kissingers im Geiste, nahm dessen Platz ein. Die Chilenen, die Allende zum Präsidenten gewählt hatten, hielt Kissinger schlicht für unvernünftig, weswegen er es als gerechtfertigt ansah, mit Geheimdienstoperationen den faschistischen Putsch zu unterstützen. Sogar seine eigenen Mitarbeiter ließ Kissinger bespitzeln, was ihn fast das Amt des Außenministers gekostet hätte.
Es ist diese Verklärung von kruder Interessenpolitik zum legitimen Widerstand gegen die kommunistische Weltverschwörung, dieses Legitimationskonstrukt der westlichen Kalten Krieger, das eigentlich auf die Anklagebank gehört. So herzerwärmend es wäre, Henry Kissinger in Handschellen vor seinen gerechten Richtern zu sehen, es würde nur von diesem eindimensionalen Machtdenken, dass derartige politische Verbrechen erst hervorbringt, auf problematische Weise ablenken.
In Deutschland, wo der affektive Antikommunismus bis weit in die SPD hinein zum guten Ton gehört, ist Kissinger noch heute, trotz allem, was man schon vor Hitchens über ihn wissen konnte, ein Gegenstand hageographischer Verklärung. Gerade erst hat in der 'Zeit' Theo Sommer Henry Kissinger zur 'einmaligen Erscheinung' geweiht. Er sei 'eine Mischung aus Leopold von Ranke, Otto von Bismarck, Raymond Aron und McKinsey'. Zur Verleihung des Franz-Josef Strauß-Preises beweihräucherte Theo Waigel 1996 Kissinger als einen, 'der den Vorrang einer pragmatischen Politik der Verantwortung gegenüber einer an abstrakten Zielen orientierten dogmatischen Prinzipienpolitik betont habe'.
Nicht umsonst weigert sich der US-Kongress, das Statut über ein Internationales Strafgericht zu ratifizieren. Der Pragmatiker Kissinger wird wohl auch weiterhin seine 30.000 Dollar-Vorträge halten können. Doch vielleicht kann Hitchens Buch und die daraus folgende Debatte ein Anstoß sein, einen ehrlicheren, einen weniger ideologischen Blick auf die Geschichte des Kalten Krieges und seine 'pragmatische Politik der Verantwortung' zu werfen.
Christopher Hitchens,"Die Akte Kissinger". Der Band ist bei der Deutschen Verlagsanstalt in München erschienen, hat 250 Seiten und kostet DM 39,80.
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