- Wenn der Sekundenzeiger still steht - mguder, 19.11.2001, 16:12
Wenn der Sekundenzeiger still steht
Wenn der Sekundenzeiger still steht
Tino Quaderer 19.11.2001
Warum das Gehirn die Illusion einer kontinuierlichen Wahrnehmung erzeugt
Beim Blick auf die Uhr entsteht gelegentlich der Eindruck, dass der Sekundenzeiger für einen Moment ruht, bevor er sich im gewohnten Rhythmus weiterbewegt. Britische Forscher haben im Fachjournal Nature (Vol. 414, S. 302-305) eine Erklärung dieser optischen Täuschung der"ruhenden Uhr" vorgelegt: Das Gehirn rechnet die während der Augenbewegung verstrichene Zeit zum Moment der Betrachtung des fixierten Objektes hinzu.
Wie die Forscher um Kielan Yarrow ausführen, nimmt das Gehirn diese zeitliche Erweiterung der Objektfixierung nach jeder Augenbewegung vor. Dem Betrachter wird dies jedoch nur bewusst, wenn ihn eine externe Zeitreferenz - in diesem Beispiel der Sekundenzeiger der Uhr - darauf aufmerksam macht.
Den Grund für dieses Phänomen vermuten Yarrow und seine Kollegen im degradierten und verschwommenen Sehen während einer Augenbewegung. Um diesen Zustand zu vermeiden, geht das Gehirn von einer Konstanz der wahrgenommenen Situation aus und"füllt" durch eine zeitliche Extension der Objektbetrachtung das vorhandene Zeitfenster. Dies gelingt jedoch nur, wenn es sich um stationäre Objekte handelt. So konnten die britischen Forscher in einem ihrer Experimente zeigen, dass bei Objekten, die während der Augenbewegung mobil sind, keine Ausdehnung der zeitlichen Wahrnehmung vorgenommen wird und folglich die Illusion der"ruhenden Uhr" ausbleibt.
Die in ihrer Versuchsreihe gewonnen Daten sind nach Ansicht der Forscher kompatibel zu dem in der Literatur zur Aufmerksamkeit entstehenden Bild der Wahrnehmung. Dieses sieht bewusstes Erleben als einen zeitlich oft nachfolgenden Prozess der Rekonstruktion. Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet beispielsweise wies bereits in den Siebziger- und Achtzigerjahren auf eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Auftreten von Reizen und der bewussten Wahrnehmung derselben hin. In verschiedenen Experimenten konnte Libet zeigen, dass das Gehirn unter bestimmten Bedingungen die Illusion erzeugt, das Bewusstsein trete zeitgleich zum jeweiligen Stimulus auf, selbst wenn dieser dem Bewusstseinszustand zeitlich vorhergeht. In diesem Zusammenhang weisen Yarrow und seine Kollegen darauf hin, dass das von ihnen behandelte Phänomen der"ruhenden Uhr" womöglich nur als Spezialfall einer allgemeineren Klasse von Phänomenen zu sehen ist, die allesamt perzeptuelle Kontinuität über variierende sensorische Inputs hinweg gewähren sollen.
Während die Bedeutung solcherlei Experimente in der Hirnforschung noch heftig debattiert wird, bilden sie für Philosophen und Kognitionswissenschafter wie Daniel Dennett die Basis, um vom klassischen Bild eines zentralen Selbstes, in welchem sich sämtliche bewusste Wahrnehmung bündelt, abzukommen. Diesem Bild hält er seine - ebenfalls heftig debattierte - Theorie der"multiplen Entwürfe" entgegen. Diese Theorie besagt, dass unsere bewussten Hirnzustände letztlich nur kulturell entstandene und untereinander konkurrierende Interpretationsprozesse der dem Gehirn verfügbaren Informationen sind. Was letztlich bedeutet, dass es überhaupt kein erlebendes Ich gibt, das einer Illusion erliegen und durch diese getäuscht werden könnte.
<ul> ~ http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/lis/11142/1.html</ul>
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