- von Herrn Niquet (zum offenen Brief von Herrn Bernecker) - Der letzte Grund, 23.11.2001, 11:23
von Herrn Niquet (zum offenen Brief von Herrn Bernecker)
Sehr geehrter Herr Bernecker,
vielen Dank für den"offenen Brief" in ihrem Internet-Board, der allerdings so weit offen war, dass er mich, der ich, was sicherlich eine große Unterlassungssünde ist, ihr Board nicht verfolgt, erst als Flaschenpost über die"offene See" erreichte.
Der Grund weshalb ich mich mit den Dreißiger Jahren beschäftige, betrifft zwei Faktoren: Erstens die Korrektur überzogener Erwartungen, wie Sie das ja auch stets beschrieben haben. Und zweitens der Abschied aus dem inflationären Zeitalter und die Rückkehr zu einem temporär preisstabilen bis deflationären Szenario. Hierbei ist die Konsumnachfrage tendenziell schwächer und es gibt einen Druck auf die Unternehmensgewinne. Überspitzt formuliert, könnte man damit sagen: die Rückkehr des Marxschen Szenarios des tendenziellen Falls der Profitrate.
Entscheidender Punkt ist nun für mich: Jede Investitionsentscheidung - sowohl die eines Anlegers beim Investment in Aktien als auch die des Unternehmens bei einer Realinvestition - misst sich an zwei Parametern: an den Zinsen und an den Ertragserwartungen. Sind nun jedoch die Ertragserwartungen aufgrund vergangener Übertreibungen, hoher Kapazitäten, niedriger Konsumnachfrage und tendenziell abbröckelnden Preisen negativ, dann wird auch die expansivste Geldpolitik wirkungslos. Dann gibt es zwar einen kurzfristigen Boom auf den Finanzmärkten, jedoch keinen Wirtschaftsaufschwung. Hierzu müssen die Ertragserwartungen erst einmal so weit nach unten korrigiert werden, dass sie schließlich nur noch steigen können.
Dieser Prozess ist aus meiner Sicht jedoch mitnichten zu Ende. Der gegenwärtige Börsenaufschwung ist daher für mich auch nur eine gefährliche Bärmarktrallye, der ein weiterer Abschwung fast zwangsläufig folgen muss. Deswegen können wir aus dem Vergleich mit den Dreißiger Jahren derzeit lernen. Wobei ich niemals behaupten würde, dass uns eine derartige Krise jetzt bevorsteht. Es ist nur das Muster, welches übertragbar ist.
Sehr geehrter Herr Bernecker, gerne nehme ich ihre Einladung zu einem persönlichen Gespräch an. Sollten Sie demnächst in Berlin sein, würde ich mich sehr über eine Nachricht freuen. Gleiches werde ich hinsichtlich von Düsseldorf und Zürich tun. Gerade habe ich nachgeschaut: Es war der 3. September 1999, als wir uns in Berlin getroffen hatten: Ein Buch über den Neuen Markt wäre in den Folgemonaten zeitlich optimal"getimed" gewesen. Doch ich möchte keine Kassandra sein und habe deswegen diese Zeit zwar kritisch, aber dennoch humorvoll in meinem Buch"1000 Prozent Gewinn - Euphorie und Crash der Hightech-Aktien im Spiegel des Zeitgeistes", welches im Herbst des letzten Jahres erschienen ist, verarbeitet. Vielleicht mag das ja für Sie wie für die Leser dieses Boards ein Anlass sein, dort einmal einen Blick hinein zu werfen.
Mit den besten Grüßen
Bernd Niquet
Sehr geehrter Herr Niquet,
herzlichen Dank für Ihr Posting. Das von Ihnen berührte Thema ist fraglos hochaktuell und Sie liegen darin keineswegs falsch. Allerdings bedarf es eines etwas näheren Studiums des gesamten Sachverhaltes. Ich erinnere mich noch an unser letztes Gespräch in Berlin zum Thema Neuer Markt. Hätten wir dies damals sofort angefaßt, wäre es das Buch des Jahres geworden. Das von Ihnen berührte Thema hat die gleiche Aktualität. Insofern ist dies ein öffentlicher Brief an Sie und erscheint auf dem Board.
Märkte befinden sich dann in einem Gleichgewicht, wenn sie das Spiegelbild der Güterwirtschaft sind. Dann läßt sich eine Korrelation zwischen Geld und Kreditpolitik bzw. Liquiditätsversorgung einerseits und dem güterwirtschaftlichen Bereich andererseits sowohl in der Theorie als auch in der Praxis nachvollziehen. Hierfür gibt es auch eine ganze Reihe guter Literatur.
Seit Anfang der 80 er Jahre eskaliert jedoch der Sektor synthetischen Produkte. Sie bedeuten, daß das genannte Gleichgewicht zeitweise oder grundsätzlich unterlaufen wird. Es begann mit den gedeckten Optionsscheinen, dann den ungedeckten, schließlich mit den verschiedenen Variationen bis zur Praxis der Hedge Funds, denen eines gemeinsam ist: Sie haben kein Gegengewicht in der Güterwirtschaft.
An diesem Thema haben sich Nobelpreisträger u.a. ausgetobt. Alle basieren entweder auf der Spieltheorie, oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Sie sind äußerst intelligent angelegt, haben ihren Grund aber eben nicht in der Güterwirtschaft. Daran scheiterte der berühmte LTC-Fonds inkl. Beratung des Nobelpreisträgers und daran werden noch eine ganze Reihe anderer Konstruktionen scheitern.
Das Plädoyer der Banken und anderer Finanzdienstleister hört und liest sich natürlich ganz anders. Dies ist eine eigenständige Meinung, denn alle verdienen daran. Es ist also eine Art selbsttätiger Markt ohne realen Bezug zur Güterwirtschaft. Allein darin liegt eine imense Gefahr. So haben Sie völlig Recht:
Die Märkte waren und sind teilweise von den Realitäten abgehoben. Wozu das führt, haben wir in den letzten 20 Monaten erlebt. Die Psychologie des Marktes, womit Sie sich sehr eingehend beschäftigt haben, ist ein sehr wichtiger Teil davon.
Ich freue mich, daß Sie sich auf diesem Gebiet forschend betätigen und rege an, daß wir uns beide bei nächster Gelegenheit zu einem intensiveren Gespräch treffen.
Herzlichst Ihr
HAB"
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