- Wenn einer allein Güter nicht 'gerecht' verteilen kann, können es dann mehrere? - Galiani, 04.12.2001, 19:22
- Re: Wenn einer allein Güter nicht 'gerecht' verteilen kann - Galiani - nereus, 05.12.2001, 13:05
- @nereus Re: »Gerechte« Verteilung der Güter - Meine Antwort - Galiani, 05.12.2001, 16:31
- Re: Re: »Gerechte« Verteilung der Güter - Galiani! und Schluß:-) - nereus, 05.12.2001, 21:01
- @nereus - Doch noch was: nämlich Zustimmung auf der ganzen Linie! - Galiani, 05.12.2001, 22:19
- Re: Re: »Gerechte« Verteilung der Güter - Galiani! und Schluß:-) - nereus, 05.12.2001, 21:01
- @nereus Re: »Gerechte« Verteilung der Güter - Meine Antwort - Galiani, 05.12.2001, 16:31
- Re: Wenn einer allein Güter nicht 'gerecht' verteilen kann - Galiani - nereus, 05.12.2001, 13:05
Wenn einer allein Güter nicht 'gerecht' verteilen kann, können es dann mehrere?
Hallo nereus
Zu Deiner hochinteressanten Bemerkung! Du führst in Deinem an mich gerichteten Posting aus:
«... Du behauptest immer, daß der Einzelne niemals entscheiden/bestimmen kann was... gerecht für die Gesellschaft ist.
Wenn dies der Einzelne nicht kann, und das muß ja dann für jedes Individuum gelten, können es zwei, drei, ein Dutzend oder tausend Leute zusammen auch nicht unbedingt....»
Doch, lieber nereus! Du berührst da einen sehr wichtigen Punkt! Sie können das sehr wohl!
Die Sache beginnt schon damit, daß es möglichst viele Individuen braucht, damit überhaupt so was wie ein Markt entsteht. Der unerhört gescheite Ferdinando Galiani hat das einmal wie folgt ausgedrückt: «Wo... wenige Verkäufer wenigen Käufern gegenüberstehen, hat es die freie Preisgestaltung schwer.» [Dove vi sono pochi venditori, o pochi compratori, difficilmente v'è libertà ne' prezzi.] (Tabarelli W.,"Ferdinando Galiani - Über das Geld", Düsseldorf 1999; S. 328) Der Einzelne wird a priori niemals einen"gerechten" Marktpreis bestimmen können, hundert oder gar tausend Menschen, die miteinander - ja! Warum nicht? - "feilschen", gehen am Ende aber durchaus zufrieden auseinander, weil jeder ungefähr das bekommen hat, was er wollte. Das nenne ich Gerechtigkeit! Weit über das Ziel hinaus schießst Du mit Deiner Gleichsetzung von"(Markt-)Gerechtigkeit" mit"Moral". Das verleitet Dich dann zur Frage: «... Führt dies... nicht Begriffe wie Gerechtigkeit oder Moral ad absurdum...» und mündet in die unsinnige Schlußfolgerung: «... Dann würde eine moralisch einwandfreie Gesellschaft... immer die optimalen Entscheidungen fällen im ethischen Sinne....» Das ist ein sehr abschüssiger Irrweg, auf den Du Dich da begibst. Moralisch kann immer nur ein Mensch sein, niemals eine Gruppe von Menschen als Kollektiv. Aber ich möchte bei Deiner Anfangsfrage bleiben. Das andere wäre ein (sehr umfangreiches) Thema für sich...!
Deine Frage, ob mehrere besser entscheiden können als ein einzelner, trifft nämlich noch einen weiteren Punkt, der unerhört wichtig ist und auch Ferdinando Galiani wichtig war. Ich spreche von dem, was ich in meiner Übersetzung und Kommentierung des Meisterwerkes dieses Italieners mehrfach als die"Weisheit der Vielen" bezeichnet habe. In meiner Kommentierung des Galiani'schen Textes habe ich diesem Gedanken einen eigenen ziemlich langen Anhang gewidmet. Es ist vielleicht für einen größeren Kreis im Forum von Interesse, diesen Anhang hier zu zitieren, weil der darin entwickelte Gedanke nicht nur eminente ökonomische Konsequenzen hat, sondern auch Aussagen über Prognosemodelle enthält, von denen die Elliott-Wellen Theorie eine sehr schönes Beispiel ist:
<ul>(Auszug aus dem genannten Werk, S. 412ff):
Anhang 1:
DIE IDEE VON DER
»WEISHEIT DER VIELEN«
Galiani beleuchtet im zweiten und dritten Kapitel des Ersten Buches unter anderem die Frage, wie und von wem »der Wert« bestimmt werde: dem einzelnen und a priori sei das, abgesehen von den methodischen Schwierigkeiten (pag.47 f), auch deshalb nicht möglich, sagt der Autor in diesem Zusammenhang, weil es viel zu viele Einflußfaktoren gebe, deren relatives Gewicht niemand analytisch ermitteln könne. Wozu indes der einzelne nicht in der Lage ist, das sei »einer Vielzahl von Menschen, die untereinander im Wettstreit um ihren jeweiligen Vorteil liegen« (»la moltitudine...che vi hanno interesse«), sehr wohl möglich. Denn was den eigenen Interessen entspreche, wisse eine Vielzahl Unwissender besser als ein Weiser allein.
Der Autor bezieht sich hier nicht auf das versicherungsmathematische Gesetz der großen Zahl. Denn bei einer »Vielzahl von Menschen, die im Wettstreit, jeder für sich, ihre eigenen Interessen verfolgen«, also bei Rückkopplungsprozessen, gilt dieses Gesetz natürlich nicht: Ob und wie viele Tore bei einem Fußballspiel fallen und für wen, ist keine Frage des statistischen Fehlerausgleichs, sondern »des Trachtens der Spieler«. Galiani wiederholt hier vielmehr seine Überzeugung, daß es zur Bestimmung eines Wertes immer des »mondo civile« (Vico), somit stets mehrerer Menschen bedürfe - mindestens zweier (pag. 28), besser jedoch sehr vieler (pag. 44; 54; 102; 104; 172; 280) -, und daß ein »gerecht« festgesetzter Wert, d.h. ein Gleichgewichtspreis, jedenfalls niemals nur der Laune eines einzelnen entspringe (pag. 26f; 45; 53). Viele Menschen zusammengenommen seien (sofern jeder einzelne nur ein Körnchen Wissen über die Sache besitzt; pag. 187) im Vorteil. Sie sind, indem sie nichts anderes tun, als nur ihre ureigensten Interessen zu verfolgen, durchaus in der Lage, die maßgeblichen Daten zu ermitteln und zu verarbeiten; denn ein »falsch« bestimmter Wert würde ja sofort für irgend jemanden zum Nachteil, zu Ungleichgewichten und damit zum Ausgleich führen. Ein außenstehender Beobachter indes wäre damit überfordert.
Es ist dies ein Gedanke, der an die methodologischen Fundamente der ökonomischen Wissenschaft schlechthin rührt. Denn es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob es prinzipiell irgendeine »bessere« Einschätzung und damit Verteilung der Werte, also des Wohlstandes auf der Welt, geben könne als die, die der freie Wettbewerb vieler herbeiführt, also ein freier Markt. Der zweiundzwanzigjährige Galiani im Jahr 1751: das sei fundamental unmöglich!
Die mittlerweile auch durch gruppendynamische Befunde bestätigte These (Fußnote 1) läßt sich dogmengeschichtlich bis zu Aristoteles zurückverfolgen: »Wenn auch der einzelne kein tüchtiger Mann sein mag, so scheint doch die Menge in ihrer Gesamtheit besser sein zu können... Zusammengenommen wird die Menge wie ein einziger Mensch, der viele Füße, Hände und Sinnesorgane hat; desgleichen, was den Charakter und das Denken betrifft. So beurteilt auch die Menge die Werke der Musik und der Dichter besser...« (Fußnote 2) Ähnlich Machiavelli im ersten Buch seiner Discorsi: »...so behaupte ich, daß das Volk klüger und beständiger ist und ein richtigeres Urteil hat... Nicht ohne Grund vergleicht man die Stimme des Volkes mit der Stimme Gottes...« (Fußnote 3)
Karl Marx verwechselt zwar Arbeitszeit und Wert, sieht aber sehr deutlich, daß der Wert im Grunde von der Gesellschaft, nämlich »durch einen gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt« wird. (Fußnote 4) Auch Pareto ist von der überlegenen »Weisheit der Vielen« überzeugt. Er fordert, der Wirtschaftswissenschaftler müsse »...die in großer Zahl wiederholten, logischen Handlungen studieren, die die Menschen ausführen, um sich jene Sachen zu besorgen, die ihren Geschmack befriedigen«. (Fußnote 5) Für Fritz Machlup ist das Verhalten der Vielen, das eben dadurch der Realität in höherem Maße angemessen ist, auch besser vorhersehbar: »Wie sich ein, zwei oder drei Federal-Reserve-Direktoren entscheiden werden, ist ungewiß. Die Tendenz der Entscheidungen von tausend und abertausend Weizenproduzenten ist bei weitem nicht so ungewiß.« (Fußnote 6) Sehr klar schließlich F.A. von Hayek: »[In] die Bestimmung des relativen Preis- und Lohnsystems...wie es sich auf einem gut funktionierenden Markt von selbst herausbilden wird... wird der Einfluß individueller Informationen, über die jeder der Teilnehmer am Marktprozeß verfügt, mit einfließen - eine Summe von Fakten, die in ihrer Gesamtheit weder dem wissenschaftlichen Beobachter noch irgendeinem anderen Kopf bekannt sein kann. Gewiß liegt hier der Ursprung für die Überlegenheit der marktwirtschaftlichen Ordnung.« (Fußnote 7)
Fußnoten:
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1 Die experimentalpsychologische Ausleuchtung der Frage begann erst in unserem Jahrhundert (Münsterberg, 1912). Schon 1897 hatte Triplett allerdings angesichts der Diskrepanzen zwischen der Leistung des auf sich gestellten Einzelnen und der des Individuums im Wettbewerb mit anderen formuliert, daß »...die körperliche Gegenwart von Konkurrenten latente Energien frei werden läßt, die ansonsten nicht zur Verfügung stehen.« (Triplett; zitiert nach der glänzenden Darstellung des Themas durch Hofstätter, l.c. S.47.) Zur Informationsverarbeitung durch den Menschen in der Gesellschaft, auch ohne explizit auf das Konkurrenzelement einzugehen, indes schon Jevons (1871, S.10f): Es ist »...die Größe unserer Gefühle, welche uns fortwährend antreibt, zu verkaufen und zu kaufen, zu borgen und zu leihen, zu arbeiten und zu ruhen, zu erzeugen und zu verbrauchen...« Ein ganz ähnliches Systemgeschehen, das noch weit davon entfernt ist, theoretisch verstanden zu werden, zeigt sich neuerdings übrigens bei der Beschäftigung mit Neuronalen Netzwerken (vgl. z.B. Martin and Biggs, l.c.).
2 Aristoteles, Pol., iii/1281a40-1281b9
3 Machiavelli, Discorsi I/58; l.c. S.78.
4 1867, l.c. S.11.
5 Pareto, l.c., iii, 1; S.142; Pareto hat (nach Hofstätter, S. 26) auch an anderer Stelle auf die Bedeutung von Rückkopplungsprozessen im sozialen Geschehen hingewiesen
6 l.c., S. 42ff
7 F. A. v. Hayek 1978; zitiert nach dem deutschen Text: Bd. i, S. 389
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Grüße
G.
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<HR>
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