- NZZ: Wenn sich Physiker und Ã-konomen treffen [sehr lesenswert!] - Ecki1, 29.12.2001, 18:40
- Re: NZZ: Wenn sich Physiker und Ã-konomen treffen [sehr lesenswert!] - JÜKÜ, 29.12.2001, 18:48
- Re: NZZ: Wenn sich Physiker und Ã-konomen / Korrektur: von Sept. 1999 oT - JÜKÜ, 29.12.2001, 18:49
- Re: NZZ: Wenn sich Physiker und Ã-konomen treffen [sehr lesenswert!] - JÜKÜ, 29.12.2001, 18:48
NZZ: Wenn sich Physiker und Ã-konomen treffen [sehr lesenswert!]
Interdisziplinäre Ansätze zur Deutung der Finanzmärkte
Immer häufiger suchen Naturwissenschafter und Wirtschaftsexperten das gegenseitige Gespräch. Wie es sich an einer FAchtagung kürzich erneut gezeigt hat, werden Methoden und Modelle aus der Physik zunehmend auc hin der Finance-Theorie zur Erklärung von Vorgängen an den Finanzmärkten angewendet.
gsz. London, im Dezember
Der zunehmend interdisziplinäre Charakter der Forschung in zahlreichen Wissenszweigen hat es mit sich gebracht, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Spezialisten aus den Naturwissenschaften der Ã-konomie zugewandt haben. Mathematiker, Physiker, Biologen, Psychologen, Geologen oder Neurowissenschafter bringen zunehmend ihr Fachwissen zur Anwendung, um Märkte, Preise und das Verhalten von Anlegern besser zu verstehen (vgl. auch den Text in"Themen und Thesen der Wirtschaft" von Prof. Thorsten Hens, NZZ vom 24.11.01). Die Mathematisierung der Ã-konomie hat besonders Vertretern der exakten Wissenschaften Möglichkeiten eröffnet, in die sogenaante weiche Sozialwissenschaft"einzudringen".
Mathematiker auf Datensuche
Mathematiker tun dies mit quantitativen Modellen schon seit etwa einem Jahrhundert. Zur Untermauerung und Prüfung ihrer Thesen mussten sie sich aber jeweils mit sehr kurzen statistischen Datenreihen begnügen, etwa mit Quartalsdaten aus volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Um aus einer solch geringen Anzahl von Datenpunkten überhaupt etwas Nützliches herauslesen zu können, mussten Ã-konometriker die Methoden verfeinern, mti denen man INformationen aus den beobachteten Datenreihen herauszufiltern versucht.
Dies änderte sich mit dem Aufkommen sogenannter Hochfrequenzdaten. Börseenkurse oder Transaktionsdaten können heute im Sekundenrhythmus beobachtet werden. Experimentalphysiker, für die lange Datenreihen zum täglichen Brot gehören, begannen sich denn auch immer intensiver mit den Finanzmörkten auseinanderzusetzen. Allerdings waren sie primär mit sehr"sauberen" Datenreihen vertraut, da Versuche in der Physik jeweils genau kontrolliert und Apparaturen präzise justiert werden können. Wirtschafts- und Finanzdaten sind aber mit massien Störungen - sogenanntem Rauschen - behaftet; und so kamen dann wieder Ã-konometriker und Ingenieure mit ihren Methoden zur Signalerkennung unter störenden Bedingungen zum Zuge. Aber nicht nur lange Datenreihen erweckten das Interesse der Physiker. Beispielsweise erlaubten auch Ähnlichkeiten, welche die Forscher zwischen Marktteilnehmern und Elementarteilchen erkannten, das Verhalten der einen mit Modellen der anderen zu untersuchen.
Berührungsängste
Eine dreitägige Fachtagung Anfang Dezember in London hat Physikern und Finanzmarkt-Wissenschaftern Gelegenheit gegeben, das gegenseitige espräch zu suchen. Es war die dritte Auflage der APFA-Konferenz (Applications of Physics in Financial Analysis). Wie bei den vorhergehenden Tagungen in Dublin und Louvain waren die Physiker übervertreten. Einige Konferenzteilnehmer bestätigten dem Beobachter, dass sie bei gemeisamen Fachtagungen mit Kollegen aus anderen Disziplinen noch gewisse Berührungsängste verspürten. Diese Art von Distanz manifestiert etwa in den Publikationen der Physiker, welche sich auf das Gebiet der Finance-Wissehnschaft vorwagen: Ihre Forschungsresultate erscheinen vorwiegend in Fachzeitschriften der Physik, während Zeitschriften der Wirtschaftswissenschaften völlig umgangen werden. Dies ist nicht nur deshalb schade, weil dadurch der Verbreitung neuer Ideen unter Fachkollegen aus den Finanz- und Wirtschaftswissenschaften Grenzen gesetzt werden, sondern auch, weil die Veröffentlsichung in einem prominenten Periodikum wie"Econometrica" oder dem"Journal of Finance" eine gewisse Gewähr dafür böte, dass auch Wirtschaftsexperten die Relevanz und Korrektheit der Forschungsresultate anerkannt haben. Beispielsweise befassten sich mehrere Physiker mit der sogenannten technischen Analyse von Märkten, die in der seriösen Finance-Literatur meist als Unsinn eingestuft wird. Eine Darlegung entsprechender Forschungsergebnisse vor ausgewiesenen Finanzexperten würde in diesem Fall Klarheit schaffen.
Prinzipiell existieren drei Möglichkeiten zum besseren Verständnis von Naturphänomenen. Erstens gibt es fundamentale Modelle wie zum Beispiel Keplers Beschreibung der Planetenbewegung. Eigentlich erfand Kepler nämlich gar kein Modell, er entdeckte vielmehr ein Naturgesetz. Als zweite Möglichkeit kommen phänomenologische Modelle zur Anwendung. Sie stützen sich auf Errungenschaften aus anderen Wissenschaftszweigen und beantworten Fragen aus der einen Disziplin in Analogie zu bekannten Phänomenen aus einer anderen. Ein Beispiel ist das Kugelmodell der Atomphysik, in welchem Atome und Moleküle wie starre Körper behandelt und Resultate aus der klassischen Mechanik auf die Kernphysik angewendet werden. Schliesslich gibt es die statistischen Modelle, deren einziger Zweck es ist, variable Grössen quantitativ abzuschätzen, ohne in ihnen schon eine ursächliche Antriebskraft für das untersuchte Phänomen zu sehen.
Umgang mit Hoffnungen und Vorurteilen
Diese drei Modellarten finden auch in der Finance-Theorie und Ã-konomie Anwendung. Dam Ideal einer Theorie kommt die Black-Scholes-Formel zur Bewertung von Optionen als Errungenschaft der Finanzmarkt-Wissenschaft am nächsten. Die Anwendung von Darwins Theorie der natürlichen Selektion auf Fragen nach em Entstehen und Verschwinden von Firmen, Produkten und sogar ganzen Wirtschaftszweigen kann als Beispiel für ein phänomenologisches Modell gelten. Und die numerische Abscätzung makroökonomischer Grössen mit Hilfe der linearen Regression ist als Beispiel eines statistischen Modells jedem Studenten bekannt.
Allerdings unterscheiden sich die Wirtschaftswissenschaften grundsätzlich von der Physik, da ihre Modelle nicht auf unumstösslichen oder konstanten Gegebenheiten der Natur basieren. Bausteine der Finance-Theorie sind auch Hoffnungen, Mutmassungen oder die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer. Und diese Beweggründe sind nicht immer durch eine rationale Beurteilung aller verfügbaren Informationen geprägt, sondern beruhen oft auf Gefühlen, Vorurteilen oder kurzfristigen Erfordernissen der Anleger. So stolz Finance-Theoretiker auc h auf die Black-Scholes-Formel sein können, die Gleichung ist nicht über alle Zweifel erhoben. Dem Modell liegt nämlich die Gauss`sche Glockenkurve zugrunde, in welcher Gewinne und Verluste als normalverteilt angenommen werden. Aber diese Annahme ist in einem wichtigen Detail nicht richtig: Sehr grosse Gewinne und sehr grosse Verluste kommen im Aktienmarkt viel häufiger vor, als es die Normalverteilung erwarten liesse. Dies drückt sich in den"Schwänzen" der Verteilungen aus, die im Vergleich mit der Glockenkurve viel zu"dick" sind.
Diese Abweichung wurde in London im Eröffnungsvortrag vom Physiker Sorin Solomon von der Hebrew University in Jerusalem aufgegriffen: Im Unterschied zu Phänomenen in der Physik, wo meist eine oder mehrer Massen- oder Energieeinheiten gewonnen [werden] oder verloren gehen, gewinnt oder verliert der Marktteilnehmer in einer Zeiteinheit jeweils einen gewissen Prozentsatz seines Kapitals. Wie bei Zineszins-Berechnungen multiplizieren sich Prozentsätze aber, und laut Solomon führen diese Multiplikationen - im Gegensatz zu den Additionen der Physik - zu"dickschwänzigen" Verteilungen. Dieses Phänomen behält seine Charakteristiken über mehrere Grössenordnungen hinweg bei. So sehen zum Beispiel Graphiken von Börsenkursen jeweils ähnlich aus, egal ob die Werte einmal in der Woche, einmal am Tag, jede Stunde oder jede Minute erhoben worden sind. Diese allgegenwärtige Selbstähnlichkeit hat in den sogenannten Fraktalen von Mandelbrot einen prominenten Ausdruck gefunden.
Analogie zwischen Sandhaufen und Bankensektor
Es gibt viele weitere Beispiele für die Befruchtung der Finance-Theorie durch die Physik, und bei der Konferenz in London kamen Physiker aus den verschiedensten Spezialgebieten zum Zuge. Phasenübergänge aus der Festkörperphysik oder die Turbulenz der Thermodynamik dienten zur Beschreibung der Dynamik an der Börse. Erdbeben aus der Geophysik wurden herangezogen, um Bankrotte zu charakterisieren. Der Sandhaufen, der bei einer gewissen Höhe einbricht, wurde mit dem finanziellen Zusammenbruch des Bankensektors in einem Land verglichen. [Anm. Ich wies bereits vor über einem Jahr auf die Ähnlichkeit zwischen Kreditinflationen und verschneiten Lawinenhängen hin.] Der Begriff der Entropie aus der statistischen Mechanik wurde auf den Informationsgehalt von Börsenkursen angewendet; und es wurden Parallelen zwischen der Unsicherheit an den Devisenmärkten und der Unschärfe in der Quantenmechanik aufgezeigt. Weg-Integrale dienten der Options-Bewertung [oha, die Vorgeschichte ist also doch relevant für die weitere Entwicklung]. Übereinstimmende, aber allzu optimistische Prognosen wurden mit dem Herdenverhalten von Beratern erklärt. Und nicht zuletzt wurde - in Analogie zur Annihilation von Atomkernen - mit Methoden der Feldtheorie beschrieben, wie Käufer und Verkäufer nach vollendeter Transaktion aus einem Markt verschwinden.
Kommentar:
Einige praktische Anwendungen der Erkenntnisse dieses Artikels existieren ja bereits. Die Fraktale werden phänomenologisch als Elliott-Wellen beschrieben (vielen Dank an JüKü!), und das Entropie-Prinzip des Informationsgehalts von Börsenkursen dient der Aufspürung von Insider-Machenschaften, obwohl die Aufklärungsquote bislang gering ist. Mit den dickschwänzigen Verteilungen werden wir uns in nächster Zeit noch häufig zu beschäftigen haben, da sich die Grossereignisse wie etwa Pleiten von Grossunternehmen, Staatsbankrotte oder Erdrutsche an den Terminmärkten (Gold / Silber) derzeit konzentrieren. Auch der LTCM war einer solchen Verteilung zum Opfer gefallen.
Ein gutes neues Jahr wünscht Ecki
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