- Krise? welche Krise? - Fontvieille, 29.12.2001, 22:36
Krise? welche Krise?
"Der Spiegel" 22.12.2001
Krise? Welche Krise?
Sinkende Gewinne, steigende Arbeitslosigkeit, verunsicherte Verbraucher - die Daten der US-Wirtschaft sind beunruhigend. Doch etliche Ã-konomen der Wall Street versprechen neue Höhenflüge.
Amerika liebt Erfolgsgeschichten. Das gilt erst recht, wenn der Jahreswechsel naht und der Blick sich in die Zukunft richtet. Was zeigt man also als Wirtschaftsmagazin, wenn die Feiertage in einen Rezessionsmonat fallen? Stillgelegte Fließbänder, leer stehende Büroflächen, traurige Arbeitslose? Ach was.
Man nimmt ein junges Paar mit zwei Kindern, das auf sympathische Weise die amerikanische Durchschnittsfamilie verkörpert, und lässt es glücklich in die Kamera strahlen. Ein Pärchen wie Don Derosby und Kristin Cole aus New York zum Beispiel, das genau weiß, dass 2002, wirtschaftlich gesehen, ein ganz wunderbares Jahr wird.
Die passende Überschrift ergibt sich da wie von selbst:"Zurück auf den Erfolgspfad", verkündet das Anlegerblatt"Money", das die Derosbys in seiner aktuellen Nummer aufs Titelbild hob."Jump Start", zu Deutsch:"Initialzündung", donnert es vom Cover des Hochglanzmagazins"Kiplinger". Die richtige Geldstrategie für den"Aufschwung" verspricht die Redaktion von"Fortune" in ihrer Dezember-Ausgabe - als wäre die nächste Kursrallye an den Börsen bereits ausgemachte Sache.
Pünktlich zu Silvester herrscht Aufbruchstimmung in der amerikanischen Finanzgemeinde. Und es sind längst nicht mehr nur die großen Wirtschaftsblätter des Landes, die der US-Ã-konomie einen baldigen Höhenflug prophezeien. Sie fassen lediglich in griffige Schlagzeilen, was die Investmenthäuser der Wall Street in diesen Tagen an Wirtschaftsprognosen abgeben.
Gerade mal vier Wochen ist es jetzt her, dass die Wissenschaftler vom National Bureau of Economic Research in Washington ganz offiziell verkündeten, dass sich die amerikanische Wirtschaft im Abschwung befinde, dem ersten nach zehn Jahren beinah ungebremsten Wachstums. Noch immer stehen die USA im Krieg; noch immer verzeichnen die Aktienmärkte wilde Kurssprünge nach oben und nach unten, was zeigt, wie nervös die Anleger sind.
Doch für die Wall-Street-Ã-konomen sind das alles schon"old news", Nachrichten von gestern. Den Afghanistan-Feldzug von US-Präsident George Bush, der nun in seine zwölfte Woche geht, haben die Wirtschaftsanalysten bereits als gewonnen abgebucht. Der Kurssturz an den Aktienmärkten, Folge der vielen Gewinnwarnungen aus den Vorstandsetagen und dann der Terrorangriffe vom 11. September - eine vorübergehende Delle, nicht mehr.
Glaubt man den Studien für 2002, dann gleicht die US-Wirtschaft einem Tiger, der nach einem langen Lauf nur kurz innegehalten hat, um Kraft zu schöpfen, alle Muskeln angespannt für den nächsten Sprung. Uneinig sind sich die Experten lediglich über das Tempo der Aufholjagd.
Werden spätestens zum vierten Quartal kommenden Jahres knapp vier Prozent Wachstum erreicht sein, wie es die Strategen von Salomon Smith Barney prophezeien? Oder behalten die Volkswirte der Investmentbank Merrill Lynch Recht, die ein Plus von fünf Prozent vorhersagen, und das bereits fürs dritte Quartal 2002?
Wie hoch der Zuwachs ausfalle, sei natürlich nicht ganz exakt zu bestimmen, sagt Bruce Steinberg, Chefökonom bei Merrill Lynch, doch eines stehe fest:"Die Erholung wird schon bald einsetzen, sie wird sehr stark ausfallen, und der Rest der Welt wird folgen." Krise? Welche Krise?
Sollte es den Amerikanern gelingen, binnen weniger Wochen von Ab- zu Aufschwung zu wechseln - es könnte den erhofften Impuls für die kippelnde Weltwirtschaft bringen. In den vergangenen Jahren war das Bruttoinlandsprodukt der USA für etwa ein Drittel des globalen Wirtschaftswachstums verantwortlich.
Vor allem die Bundesrepublik ist mit der US-Ã-konomie eng verbunden. Gut zehn Prozent der hiesigen Exporte gehen heute in die USA. Hinzu kommt, dass amerikanische Unternehmen in der Vergangenheit in Deutschland so stark investiert haben wie in kaum einem anderen europäischen Land. Jede Sparentscheidung in Übersee trifft damit in der Regel auch deutsche Fabriken.
Kein Wunder, dass Politik und Wirtschaft hier zu Lande die Frohbotschaften aus Amerika nur allzu gern aufgreifen. Gerade erst hat das Weltwirtschaftsinstitut in Kiel seine jüngste Konjunkturvorhersage mit Verweis auf den Stimmungsumschwung jenseits des Atlantiks nach oben korrigiert. Um gut 1,2 Prozent soll nun auch die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr wieder zulegen. Das ist zwar noch immer vergleichsweise bescheiden, klingt jedoch allemal freundlicher als die 0,5 Prozent für dieses Jahr.
An der Verlässlichkeit der Gute-Laune-Prognosen aus Amerika bestehen allerdings Zweifel. Tatsächlich gibt es derzeit zwei Denkschulen, deren Ansichten über die Aussichten der US-Ã-konomie ziemlich weit auseinander laufen.
Dem Lager der Optimisten, dem neben den Wall-Street-Ã-konomen auch Wissenschaftler von großen Universitäten wie Harvard angehören, steht eine ebenso glaubensstarke Gruppe von Pessimisten gegenüber, deren prominenteste Vertreter bei großen europäischen Banken sitzen sowie beim Internationalen Währungsfonds. Dessen Experten trauen der US-Wirtschaft im nächsten Jahr gerade mal einen Zuwachs von 0,7 Prozent zu. Da schneidet sogar die EU besser ab.
Auf den ersten Blick zumindest spricht wenig für die These, dass die US-Ã-konomie kurz vor dem Eintritt in eine neue Boomphase steht. Die Daten, die aus den Forschungsinstituten und Ministerien in Washington kommen, bieten wenig Anlass für besondere Zuversicht.
Die Zahl der Arbeitslosen liegt mittlerweile bei 5,7 Prozent - wenig mehr hat es zuletzt 1996 gegeben. Das Vertrauen der US-Verbraucher ist im November weiter abgerutscht - auf den tiefsten Stand seit 1994. Die Gewinne der Industrie haben sich halbiert - der schlimmste Einbruch innerhalb von 60 Jahren amerikanischer Firmengeschichte.
Wie also kommen die Optimisten an der Wall Street zu ihren Annahmen? Zunächst einmal, so argumentieren Leute wie Merrill-Lynch-Mann Steinberg, geben die schlechten Daten nur bedingt den Zustand der US-Wirtschaft wieder. Die verheerenden Zahlen der US-Konzerne im vierten Quartal beispielsweise erklären die Optimisten mit dem"Bin-Laden-Effekt". Kaum ein Unternehmen habe sich die Chance entgehen lassen, Verluste, wo irgend möglich, in dieses Jahr vorzuziehen, um kritischen Fragen mit Hinweis auf den Terroranschlag begegnen zu können und 2002 dafür umso besser dazustehen.
Auch die steigenden Arbeitslosenzahlen taugen nach Ansicht der Ã-konomen keineswegs als Beleg für eine sich verschärfende Rezession. Erstens, so rechnen sie vor, ist die Zahl derjenigen, die sich auf Job-Suche befinden, im Dezember traditionell hoch. Und zweitens, und das ist das entscheidende Argument, zählt steigende Arbeitslosigkeit in Konjunkturzyklen zu den so genannten nachlaufenden Indikatoren, was übersetzt heißt: Sie zieht immer dann stark an, wenn die Wirtschaft ihren Tiefpunkt schon überwunden hat.
Dieser Logik zufolge ist ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen geradezu Zeichen einer baldigen Genesung der Wirtschaft. Die Konzerne haben ihre Produktion gestrafft und Kosten gesenkt. Sie beginnen damit, ihre Lagerkapazitäten abzubauen und erhöhen ihre Leistungsfähigkeit für den internationalen Wettbewerb. Was jetzt noch fehlt, ist ein kräftiger Schubs, um Nachfrage und damit Investitionsbereitschaft wieder anzukurbeln - und den, so lautet die Schlussfolgerung der Optimisten, liefere nun die amerikanische Geld- und Steuerpolitik.
Elfmal hat der Chef der mächtigen US-Zentralbank, Alan Greenspan, seit Januar die Zinsen gesenkt, auf 1,25 Prozent. Rechnet man die Inflationsrate dagegen, die in den USA bei 2,1 Prozent liegt, ergibt sich die besondere Situation, dass es günstiger ist, sich Geld zu leihen, als es zu horten.
Einen weiteren Schub soll das so genannte Stimulus-Paket bringen, über das der US-Kongress derzeit berät. Zwar streiten Demokraten und Republikaner noch immer über die Details. Am Ende jedoch, das ist schon jetzt klar, wird das Steuerpaket Vergünstigungen im Wert von nahezu 100 Milliarden Dollar umfassen. Das ist selbst angesichts eines Bruttosozialprodukts von über 10 Billionen Dollar pro Jahr eine bemerkenswerte Summe.
Wer mehr Geld zur Verfügung hat, gibt auch mehr aus - so will es jedenfalls die klassische Wirtschaftstheorie. Doch eben hier setzt die Kritik der Pessimisten an: Was ist, so fragen die Skeptiker, wenn die Unternehmen die günstigen Kredite und milliardenschweren Subventionen einfach nutzen, um ihre Bilanzen aufzubessern, anstatt das Geld in den Kauf neuer Computer, Software und Maschinen zu stecken?
Bislang jedenfalls gibt es keine Hinweise, dass die Unternehmen daran denken, wieder vermehrt zu investieren. Im Gegenteil: Obwohl die Zentralbank unter Greenspan schon Anfang des Jahres damit begann, die Zinsen zu drosseln, fällt die Industrieproduktion weiter ab.
Bleibt die wichtige Frage, wie der andere Adressat der lockeren Geldpolitik, der Verbraucher, auf die Konjunkturprogramme aus Washington reagiert. Die Vernunft würde auch hier nahe legen, erst einmal bereits gezeichnete Kredite zu tilgen und Steuerrückzahlungen für schlechte Zeiten beiseite zu legen. Der Schuldenstand der US-Privathaushalte hat einen Höchststand erreicht. Ob Auto, Wintermantel oder Kochgeschirr: Nahezu jedes Gut lässt sich in den USA auf Pump kaufen, und die US-Bürger haben von dieser Möglichkeit in der Vergangenheit reichlich Gebrauch gemacht und so einen Schuldenberg von über 1,6 Billionen Dollar angehäuft.
Dass eine Politik des billigen Geldes nicht automatisch zu mehr Konsum führt, ist in der Wirtschaftswissenschaft wohl bekannt. Ã-konomen sprechen von der"Liquiditätsfalle", und es ist ausgerechnet der bei den Politikern in Washington derzeit wieder so hoch im Ansehen stehende John Maynard Keynes, der ausführlich das Phänomen einer Wirtschaft beschrieb, die trotz laufender Zinssenkungen immer weiter in die Depression abgleitet."Das Pferd wird zur Tränke geführt, aber man kann es nicht zum Trinken bringen", beschrieb Keynes diesen Alptraum jedes Ã-konomen, für den die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre das historische Vorbild lieferte.
Keynes' Idee war entsprechend radikal. Die Regierung, so schlug der britische Ã-konom vor, solle am besten Banknoten in stillgelegten Minen verbuddeln. Die Unternehmen könnten dann Leute beschäftigen, um das Geld wieder auszugraben. JAN FLEISCHHAUER
Schrecklicher Gedanke: all die tollen Goldminen fördern demnächst nur noch Banknoten......
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