- Bassam Tibi: Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben? - Dimi, 30.12.2001, 11:22
- Re: Bassam Tibi: Warum zurückgeblieben?... Nur eine Idee - Galiani, 30.12.2001, 15:52
- Re: Bassam Tibi: Warum zurückgeblieben?... Nur eine Idee - Dimi, 30.12.2001, 18:47
- @dimi: Das mit 'Indien und China' ist ein Argument! Gruß G. (owT) - Galiani, 30.12.2001, 22:36
- Re: Bassam Tibi: Warum zurückgeblieben?... Nur eine Idee - Dimi, 30.12.2001, 18:47
- Re: Bassam Tibi: Warum zurückgeblieben?... Nur eine Idee - Galiani, 30.12.2001, 15:52
Bassam Tibi: Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben?
Wer sich auf die Logik einlässt, wird ein Häretiker ;-)
Gruß, Dimi
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SZ
WIRTSCHAFT
Montag, 24. Dezember 2001
Bayern Seite 27 / Deutschland Seite 27 / München Seite 27
Wirtschaft und Kultur im Islam
Warum sind die Muslime ökonomisch zurückgeblieben?
Die militärische Revolution des Westens und der Erfolg der Orthodoxie im Kampf
gegen Rationalität und Berechenbarkeit
Von Bassam Tibi
Die Welt des Islam umfasst heute 1,5 Milliarden Muslime. 56 Staaten mit muslimischer
Bevölkerungsmehrheit gehören der Organisation der islamischen Konferenz an. In der Weltwirtschaft
aber stehen die Muslime trotz ihres demographischen und politischen Gewichts am Rande. Unter den
56 islamischen Staaten exportiert allein Malaysia Industriegüter, alle anderen sind wirtschaftlich
unterentwickelt.
Warum ist das so? Auf die Frage gibt es zwei entgegengesetzte Antworten. Während die verbreitete
Meinung im Westen Islam und Rückständigkeit aufeinander bezieht, erklären sich die Muslime ihr
wirtschaftliches Elend alleine mit der Dominanz des Westens. Wer hat Recht in der Debatte?
Richtig ist, dass eine allgemeine Deutung des historischen Befundes möglich ist, aber auch ihre
Grenzen hat. Die Welt des Islam zeichnen Einheit und Vielfalt aus. Richtig ist auch, dass die
islamische Zivilisation bessere Tage hat, weshalb es schlicht falsch ist, die Rückständigkeit der
Muslime auf den Islam zurückzuführen. Für Europa bedeutete das Mittelalter Rückständigkeit,
Ignoranz und Dunkelheit. Die islamische Zivilisation rangierte damals an erster Stelle; sie hatte eine
prosperierende Wirtschaft, die weite Teile Asiens und Afrikas bis hin nach Spanien umfasste,
wenngleich es damals noch keine Weltwirtschaft gab. Der angesehenste Historiker der islamischen
Zivilisation, Marshal Hodgson, schreibt in seiner Islamgeschichte: „Ein Besucher vom Mars könnte im
16. Jahrhundert unserer Zeit beim Besuch der Erde durchaus angenommen haben, dass die
Menschheit im Begriff war, muslimisch zu werden. Diesem Urteil hätte er nicht nur die Tatsache der
strategischen und politischen Überlegenheit der Muslime zugrunde gelegt, sondern auch die Vitalität
ihrer Kultur im allgemeinen.“
Die Djihad-Expansion
Trotzdem besteht in der westlichen, und besonders in der deutschen Geschichtsschreibung die
Neigung, die Europäer höher als die nicht- westlichen Völker einzustufen. Diese Sicht gilt es zu
revidieren, denn die islamische Zivilisation war vom 9. und bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts die
entwickeltste der Welt: Auf die Religionsstiftung im 7. Jahrhundert folgte das islamische
Welteroberungsprojekt, aus dem die islamische Zivilisation hervorgegangen ist. Vom 9. Jahrhundert an
wendeten sich die Muslime von der Djihad-Expansion ab und der inneren Entfaltung ihrer Zivilisation
zu. Die Hellenisierung des Islam und das Aufblühen von Wirtschaft und Handel, trugen zur Entstehung
eines islamischen Rationalismus bei. Eine islamische Aufklärung entwickelte sich.
Diese gute Zeit ging spätestens mit dem 17. Jahrhundert zu Ende. Warum dieser Bruch? Zunächst gibt
es unzweifelhaft eine zeitliche Parallelität zwischen dem Aufstieg des Westens und dem Niedergang
der islamischen Zivilisation. Bedeutet dies, dass beides auch kausal zusammenhängt? Muslime
unterstellen dies. Wir wissen aus der Arbeit westlicher Historiker, vor allem von Geoffrey Parker,
dass die Entstehung des Westens als neue Zivilisation in die Zeit zwischen 1500 und 1800 fiel. Hierzu
gehörte die „militärische Revolution“ auf der Basis neuer Waffen, die Parker mit der Entstehung des
Westens gleichsetzt. In diese Zeit fällt die Expansion Europas, die wir heute Globalisierung nennen.
Auch die islamische Zivilisation strebte eine Globalisierung an. Es war die Vision des Islam, als
Religion und Zivilisation das eigene Gebiet, das Dar al-Islam (Haus des Islam) auf die gesamte Welt
zu erweitern. Diese Vision leitete die Handlungen der Muslime seit dem 7. Jahrhundert. Doch mussten
sie diesen Platz seit Ende des 16. Jahrhunderts verstärkt für den Westen räumen, der ein
technisch-wissenschaftlich überlegenes Globalisierungsprojekt in Gang setzte. Dies bleibt eine Wunde
in der muslimischen Kollektiv-Seele.
Muslime argumentieren noch heute, der Westen habe ihnen ihren Platz an der Sonne mit Gewalt
weggenommen; hierauf geht die anti-westliche Orientierung in der islamischen Welt zurück. Selbst vor
den Toren des Dar al-Islam hat die europäische Expansion keinen Halt gemacht, ja sie hat diese Welt
in die Domäne ihrer Kolonialdominanz mit
einbezogen. Aber ist dies auch die Ursache dafür, dass Muslime heute ökonomisch rückständig sind?
In der Zeit von Karl dem Großen bis zur Renaissance hat der Islam besser abgeschnitten als das
Abendland. Trotzdem gelang dem Islam mit seiner damals überlegenen Wirtschaft nicht der Sprung
zur Globalisierung. Die Frage nach den Ursachen ist noch immer nicht beantwortet; besonders durch
die Ereignisse um den 11. September ist sie wieder brennend aktuell. Es gilt die Deutung, dass die vom
Westen ausgehende Globalisierung der Hintergrund des Terrorakts sei. Als rational denkender
Reform-Muslim, der in der Spannung zwischen westlicher und islamischer Zivilisation lebt, bin ich fest
davon überzeugt, dass die hier angeführte zivilisationshistorische Dimension uns hilft, den Anschlag
vom 11. September besser zu verstehen. Dieser war mehr als nur Terrorismus.
Schon nach der Auflösung der islamischen Ordnung mit dem Ende des Osmanischen Reiches 1924 hat
in den dreißiger Jahren der islamische Erneuerer Schakib Arslan sich die Frage im Titel eines Buches
gestellt: Warum sind die Muslime heute rückständig, während andere sich vorwärts bewegt haben?
Arslans Antwort ähnelt jener, die sich viele Muslime nach der erschütternden Niederlage im
Sechs-Tage-Krieg 1967 gaben: „Weil wir uns vom Islam wegbewegt haben“. Demnach heißt das
Allheilmittel: Al-Islam huwa al-Hall (Der Islam ist die Lösung). Damit kann man allerdings ebenso
wenig die Wirtschaftsentwicklung erklären wie mit dem anderen Extrem, dem Hinweis auf die
Überlegenheit des Westens.
In der Schule in Damaskus lernte ich - wie meine Generation - einen weiteren Erklärungsversuch:
Die Kreuzzüge seien schuld am Niedergang der islamischen Zivilisation. Seither habe der Westen
versucht, die Muslime unten zu halten - so denken viele Muslime. Diese kreuzzüglerische Strategie
reiche von der Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 bis zum „8. Kreuzzug gegen den Irak" im Jahr
1991 - so heißt ein Bestseller des ägyptischen Generals und Helden aus dem Oktoberkrieg von 1973,
Saalduldin al-Schadli. Der neue Krieg gegen Bin Laden wird ebenfalls hier eingeordnet. Es war ein
grober Fehler von Präsident George W. Bush, ohne Kenntnis der christlich-islamischen Geschichte
von einem „Kreuzzug“ gegen Bin Laden zu sprechen. Am nächsten Tag war dies die Schlagzeile der
islamischen Presse und ist unauslöschbar in das islamische Kollektivgedächtnis eingegangen. Die von
Präsident Bush beabsichtigte Korrektur durch den respektvollen Besuch der Großmoschee in
Washington am nächsten Tag und sein Lob des Islam als great faith haben viele Muslime gar nicht
mehr zur Kenntnis genommen. Haften blieb die Androhung des Kreuzzugs.
Wie auch immer, die Erklärung der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Muslime mit den Kreuzzügen
ist historisch falsch. In jener Zeit gab es weder eine westliche Zivilisation noch eine Globalisierung.
Die religiösen Eiferer wollten Jerusalem erobern und hatten keine Vision von einer globalisierten Welt,
wie sie die Muslime seit dem 7. Jahrhundert betrieben. Der Wettstreit findet nicht zwischen den
Religionen Islam und Christentum, sondern zwischen dem Westen und der islamischen Zivilisation
statt, zwischen zwei rivalisierenden Globalisierungsprojekten.
Das Zinsverbot
Ich korrigiere hier falsche Deutungen, aber ich maße mir nicht an, die gestellte Frage autoritativ zu
beantworten. Der große jüdisch- französische Islamologe Maxime Rodinson hat sich die hier
formulierten Fragen in seinem großen Werk Islam und Kapitalismus gestellt. Er sieht eine Erklärung in
der Unfähigkeit der islamischen Zivilisation, ihr Wirtschaftssystem vom Handel, also der
Merkantilwirtschaft zur Manufaktur weiterzuentwickeln. Doch gleich fügt er hinzu, dass es falsch sei,
diese Unfähigkeit dem Islam selbst zuzuschieben.
Oft wird behauptet, der Islam lasse keine modernen Wirtschaftsformen zu; als Beispiel wird das
Zinsverbot im Islam angeführt. Rodinson zeigt, dass die islamische Weltanschauung viele
wirtschaftsfeindliche Verbote kenne, zugleich aber Wege zu deren legaler Umgehung. So wurde in der
islamischen Wirtschaftsgeschichte der religiös strikt verbotene Zins auf Umwegen doch erhoben.
Rodinson spricht vom Islam daher als einer „ideologischen Gesellschaft“. Damit meint er die Praxis,
durch die Hintertür das zu erlauben, was die religiöse Doktrin verbietet. So erlaubte die klassische
islamische Wirtschaft Riba (Zins) unter anderem Namen und mit anderen Methoden zu erheben.
Obwohl ich zu Rodinsons Interpretation des Verhältnisses von Religion, Kultur und Wirtschaft neige,
bin ich mir der Grenzen seiner Deutung bewusst. Einerseits lehne ich das Junktim okzidental und
rational ab. Im Islam hat es zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert eine rationalistische Philosophie
gegeben. Andererseits kann ich einen Zusammenhang zwischen moderner Wirtschaft, Rationalität und
Berechenbarkeit nicht verleugnen. Ich meine lediglich, dass Rationalismus kein Monopol des Westens
ist.
Es gab den Rationalismus der islamischen Aufklärung von al-Farabi im 9. Jahrhundert bis Ibn Ruschd
(Averroës) im 12. Jahrhundert. Doch war diese Strömung der islamischen Orthodoxie nie willkommen.
Beim inner-islamischen Wettkampf zwischen Fiqh-Orthodoxie und den islamischen Hellenisten des
Mittelalters galt die Maxime: Man tamantaqa tazandaqa („Wer sich auf die Logik einlässt, wird ein
Häretiker“). Schließlich siegte die Orthodoxie über die Rationalisten. Der Bildungshistoriker George
Makdisi hat gezeigt, wie die Orthodoxie mit allen Mitteln die Aufnahme der rationalen Wissenschaften
in das Curriculum der islamischen Medressen (Hochschulen) blockiert hat. Dies hat entscheidend
verhindert, dass Rationalität und Berechenbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft institutionalisiert
wurden.
Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat bisher kaum islamische Historiker angezogen. Die meisten
Wirtschaftshistoriker, die sich mit dem Islam befassen, sind jüdische Gelehrte; sie haben fast nur
Positives über das Thema zu berichten. Der israelische Politikwissenschaftler und Philosoph Schlomo
Avineri fragte einmal, ob die weitgehend positive Darstellung von Wirtschaft und Gesellschaft im
Islam durch jüdische Gelehrte nicht doch der eigenen Aufwertung in einer vorwiegend antisemitischen
europäischen Umwelt gedient habe. Der Islam bot den Juden seine Toleranz. Tatsache ist: Die
wichtigsten wirtschafts- und sozialhistorischen Forschungen über die islamische Zivilisation stammen
aus der Feder jüdischer Gelehrter. Der Historiker Martin Kramer von der Universität Tel Aviv spricht
von der „jüdischen Entdeckung des Islam“. Aber auch diese Historiker geben keine befriedigende
Antwort.
Warten auf den Imam
Gewiss waren es weder die Kreuzzüge noch die Religion, die die islamische Zivilisation an der
Entwicklung eines modernen Wirtschaftssystems gehindert haben. Der Aufstieg des Westens mit
seiner modernen Wissenschaft und Technologie hat eine Rolle beim Niedergang der islamischen
Zivilisation gespielt; dies darf aber nicht von den innerislamischen Ursachen ablenken. Dazu gehören
innere Kämpfe und Fragmentation, die die islamische Zivilisation zum Stillstand, dann zum Niedergang
brachten. Der Islam lehrt, dass die Umma-Gemeinde nur einen Imam haben darf, und dieser heißt
Kalif oder besser Amir al-Muminin (Oberhaupt der Gläubigen). Im 10. Jahrhundert hatten die Muslime
drei einander bekämpfende Kalifen, einen in Bagdad, einen in Kairo und schließlich einen dritten in
Cordoba. Der einzige Muslim, der heute den Kalifentitel beansprucht, Metin Kaplan, sitzt wegen
Aufrufs zum Mord im Gefängnis in Köln. Der andere Muslim, der sich Oberhaupt der Gläubigen
nennt, Muhammed Omar, ist zusammen mit den Taliban untergegangen. Und wieder war es der
Westen, der daran schuld ist! Nein, wir benötigen andere Deutungen für die islamische
Wirtschaftsgeschichte, die über antiwestliche Schuldzuweisungen hinausgehen - sie fehlen uns noch.
Bassam Tibi ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und Autor
zahlreicher Bücher über den Islam, darunter: „Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche
Welt“ und „Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart“.
<ul> ~ http://szarchiv.diz-muenchen.de/REGIS_A13589368;internal&action=hili.action&Para</ul>
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