- Seid bescheiden, Börsianer! guter Artikel Aus"Die Zeit" - Rebell, 05.01.2002, 14:33
Seid bescheiden, Börsianer! guter Artikel Aus"Die Zeit"
B Ã- R S E
Seid bescheiden, Börsianer!
20 bis 30 Prozent Gewinn in einem Jahr? Diese Zeiten sind vorbei
Von Marc Brost und Robert von Heusinger
© Fotomontage DIE ZEIT; www.bull-bear.de
Die erfolgreichsten Anleger 2002 werden weiblich sein. Frauen, behauptet die Fernsehmoderatorin Carola Ferstl, erkennen"die emotionalen Stolperfallen der Börse", sie"informieren sich besser, bevor sie eine Entscheidung treffen", und vermeiden"unüberlegte Schnellschüsse". So viel weibliche Cleverness -"übrigens immer wieder in Studien nachgewiesen" - lässt sich laut Ferstl sogar in Zahlen messen. Frauen machen mit Aktien mehr Geld als Männer: jedes Jahr zwischen 1,4 und 5 Prozent.
Nach 18 Monaten Baisse und einem kurzen, heftigen Aufschwung, den viele verpasst haben, suchen die Anleger verzweifelt Rat. Wer kennt die richtige Aktienstrategie, wenn die Indizes weltweit fallen - der Dax innerhalb der vergangenen zwölf Monate um knapp 20 Prozent und der Nemax 50 um 60 Prozent? Wer weiß, auf welche Werte man setzen muss, um den Aufschwung nicht zu verpassen? Und wie entwickelt sich die Börse im neuen Jahr? Einige hoffen auf weibliche Intuition, andere setzen darauf, dass sich wenigstens die Geschichte wiederholt: Drei schlechte Jahre hintereinander habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben, machen sich selbst professionelle Investoren Mut. Zwei aufeinander folgende Jahre im Minus schloss der Dax zuletzt 1965 und 1966. Allein deshalb müsse das neue Börsenjahr im Plus enden.
Doch so einfach funktionieren die Finanzmärkte nicht. Viel spricht dafür, dass 2002 erneut turbulent wird."Der ganze Markt ist aus den Fugen geraten", sagt Hans-Jörg Schreiweis, der bei der DZ Bank das Geschäft mit Firmenkunden leitet. An der Börse ist nichts mehr, wie es früher einmal war.
Selbst die großen amerikanischen Investmentbanken, in der Vergangenheit notorisch optimistisch, erwarten bestenfalls eine einstellige Rendite. Mehr als fünf bis sieben Prozent Kursgewinn einschließlich Dividende seien für den amerikanischen Aktienmarkt nicht drin, meint Barton Biggs, Aktienstratege von Morgan Stanley - und das für die kommenden fünf Jahre. Richard Bernstein, Chefstratege bei Merrill Lynch, sagt auf Jahressicht sogar unveränderte Kurse voraus. Der Pessimist symbolisiert den Stimmungsumschwung an der Wall Street. Anfang November löste er die daueroptimistische Christine Callies als Chefprognostiker des führenden Brokerhauses ab; damit distanzierte sich Merrill auch vom alten Leitspruch Be bullish - Sei optimistisch -, wenn's um Aktien geht.
Die neue Bescheidenheit kommt nicht von ungefähr: Pleiten, Entlassungen und horrende Verluste haben die Verheißungen der New Economy - unendliches Wachstum und unglaubliche Gewinne - entzaubert. Die Rückkehr zur Normalität zeigt sich in den Prognosen der Banken."Was ist eigentlich die normale Aktienrendite?", lautet die häufigste Frage.
Höchstens einstellige Renditen
Auf alle Fälle nicht zehn Prozent plus x, wie die Erfahrung der vergangenen 20 Jahre nahe legen könnte. Die Unternehmensgewinne wachsen langfristig nicht stärker als die Volkswirtschaft insgesamt, also das Bruttoinlandsprodukt. So steht es in einer Studie der Deutschen Asset Management, einer Tochter der Deutschen Bank. Und der Aktienkurs ist nun mal nichts anderes als die abdiskontierte Summe künftiger Unternehmensgewinne. Um 4,7 Prozent, erwartet der US-Finanzkonzern Citigroup, werden die Gewinne je Aktie der amerikanischen Unternehmen in diesem Jahr steigen, die Gewinne europäischer Unternehmen um 8,6 Prozent. Kein Wunder, dass auch die meisten Manager großer Investmentfonds, von Merrill Lynch zu ihren Erwartungen für 2002 befragt, bestenfalls einstellige Aktienrenditen vorhersagen.
Analysten und Fondsmanager erkennen, dass die vergangenen 20 Jahre exorbitanter Kursgewinne mit dem Hoch im März 2000 die Ausnahme waren. Heute können sich die Börsianer nicht mehr darauf verlassen, dass weiter sinkende Zinsen die Aktienkurse nach oben treiben. Niedrigere Zinsen lassen eine höhere Aktienbewertung zu, weil sie die erwarteten Unternehmensgewinne relativ gesehen besser erscheinen lassen. Da weltweit die Inflationsraten niedrig sind, haben die Zinsen aber kaum Spielraum nach unten."Der Zinseffekt läuft aus", sagt Bernd Meyer, Aktienstratege für Europa bei der Deutschen Bank. Jetzt müssen allein steigende Unternehmensgewinne die Kurse heben.
Das Problem: Bereits heute spiegeln die Aktienkurse die erhoffte konjunkturelle Erholung zur Jahresmitte wider. Und wenn sie nicht kommt? Technologieaktien haben längst wieder Bewertungsniveaus erreicht, die an die Hochphase des Frühjahrs 2000 erinnern. Und das historische Kurs-Gewinn-Verhältnis des amerikanischen Index S&P 500 ist nach Berechnungen von Merrill-Lynch-Stratege Bernstein sogar das höchste je gemessene. So stark, wie die Börsianer hoffen, werden die Unternehmensgewinne aber kaum wachsen können. Immerhin die Hälfte der von Merrill Lynch befragten Fondsmanager will sich daher von einem Teil ihrer Aktien trennen, wenn die Kurse um weitere zehn Prozent gestiegen sind. Ein Minicrash mit Ansage.
Selbst wenn der Aktienmarkt insgesamt im einstelligen Bereich wachsen sollte: Es wird in diesem Jahr viele kleine Crashs geben. Allerdings auch viele kleine Kursfeuerwerke, denn Aktienkurse schwanken heute so stark wie nie zuvor. Das macht selbst Finanzprofis nervös. Langsam verabschiedet sich die Anlegergemeinde deswegen auch von einem bislang unerschütterlichen Glaubenssatz: der langfristigen Überlegenheit der Aktie.
Ausgerechnet in England, im Mutterland der Aktie, schockierte unlängst der 3,7 Milliarden Euro schwere Pensionsfonds der Drogeriekette Boots mit der Meldung, er habe den kompletten Aktienbestand verkauft und das Geld in Anleihen investiert. Seither denken immer mehr Pensionsfondschefs über ähnliche Schritte nach. Denn anders als die Statistik weismachen will, bringen Aktien keineswegs immer eine höhere Rendite als Anleihen - selbst dann nicht, wenn das Geld wie bei einem Pensionsfonds über 20 Jahre oder länger angelegt wird. Troy Bowler von der Deutschen Bank in London hat das anhand eines Modells, das auch die unterschiedlichen Risiken berücksichtigt, für beliebige Zeithorizonte untersucht. Das Ergebnis: Am britischen Markt schneiden Aktien nur in sechs von zehn Fällen besser ab als Anleihen. Tatsächlich schwankten den Managern von Boots die Aktienkurse zu stark. Je größer das Auf und Ab der Kurse, desto höher ist auch das Risiko der Aktienanlage. Das Dilemma der britischen Pensionsfonds: Sie garantieren im Gegensatz zu deutschen oder US-Pensionsfonds eine bestimmte Auszahlung. Und diese sichere Rendite trauen die Briten der Aktie nicht mehr zu.
Es ist vor allem das Herdenverhalten der Fondsmanager, das die Kurse wild bewegt. Noch vor fünf Jahren war es eine Sensation, wenn ein Dax-Titel binnen Tagesfrist um fünf Prozent stieg oder fiel. Heute ist ein Zuwachs von zehn Prozent so normal wie ein Kursrutsch von acht, vor allem bei Technologiewerten wie Infineon oder SAP."Das hat viel mit relativer Performance unter den Fondsmanagern zu tun", sagt Mark Wahrenburg, Professor für Bankbetriebslehre an der Universität Frankfurt. Die Leistung des Einzelnen wird am Erfolg der Kollegen gemessen."Die Fondsgesellschaften können dreimal erzählen, dass sie sich am Dax orientieren. In Wirklichkeit versuchen sie nur, die Anlagestrategie der anderen Fonds zu imitieren." Wer nicht mitspielt, riskiert, in den Vergleichstabellen unten zu landen - und seinen Job zu verlieren.
Lebensversicherer zocken mit
Früher waren wenigstens die Lebensversicherer verlässliche Anleger: Sie kauften und ließen die Aktien über Jahre liegen."Diese Strategie ist aus der Mode gekommen", sagt Gerhard Schwarz, der die Portfoliostrategie der HypoVereinsbank bestimmt. Heute schichten große Anleger ihr Depot mindestens einmal jährlich komplett um. Noch hektischer agieren Hedgefonds (siehe Seite 17). Sie drehen ihr Depot bis zu 100-mal im Jahr. Das sorgt für steigende Umsätze an den Börsen, doch mehr Umsatz, warnt Kapitalmarktforscher Wahrenburg, bedeutet mehr Volatilität.
Außerdem löst sich die Kursentwicklung der einzelnen Dax-Titel immer mehr vom Verlauf des Index. Wenn der Dax über mehrere Tage steigt, bedeutet das noch lange nicht, dass alle Dax-Werte steigen. Ein Tagesgewinner wie Siemens oder SAP kann 24 Stunden später bereits die Verliererliste anführen - und der Dax hat dennoch zugelegt. Selbst für einzelne Branchen lassen sich kaum mehr Trends ausmachen, die länger als ein paar Tage währen. Aus Sicht der technischen Analyse, die lange Zeithorizonte untersucht, ist das die große Trendumkehr."Der Bullenmarkt der vergangenen 20 Jahre läuft aus", prophezeit DZ-Banker Schreiweis.
Im Vergleich zu anderen internationalen Aktienindizes ist der Dax besonders schwankungsanfällig. Das liegt zum einen an seiner Zusammensetzung: Im Dax notieren mehr zyklische Werte als etwa im französischen CAC 40 oder im britischen Footsie. Zykliker sind Unternehmen, deren Gewinnsituation stärker vom Konjunkturverlauf abhängt als die defensiver Titel: vor allem Auto, Stahl und Chemie.
Zum anderen sorgt die Terminbörse Eurex für kräftig schwankende Kurse: Nirgendwo sonst in Europa gebe es einen größeren Markt für Futures, sagt HypoVereinsbank-Stratege Schwarz. In kritischen Marktphasen - wenn es gilt, rasch zu handeln - greifen Europas Aktienhändler gern darauf zurück. Ohne großen Einsatz können sie an der Eurex auf fallende oder steigende Kurse spekulieren. Future und Aktienindex schaukeln sich gegenseitig hoch.
Allzu optimistische Anleger könnten nun auf die Idee kommen, wenigstens an den Kursschwankungen zu verdienen - also Aktien einfach zum richtigen Zeitpunkt zu kaufen, abzuwarten, um dann, kurz bevor der Kurs einbricht, das ganze Paket mit dickem Gewinn wieder abzustoßen. Dumm nur, dass so etwas selten funktioniert. Overconfidence nennen Börsenpsychologen den trügerischen Glauben vieler Aktionäre, besser zu sein als der große Rest."Sie werden übermütig und verpassen den richtigen Zeitpunkt zum Aussteigen", sagt Martin Weber, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Mannheim. Das gilt für Kleinanleger genauso wie für die Manager großer Investmentfonds.
Das Jahr 2001 hatte sein Gutes. Es machte erst einmal Schluss mit der überschäumenden Euphorie an der Börse."Die Aktie ist wieder das, was sie eigentlich sein sollte", sagt Martin Weber."Eine von vielen Anlageformen."
Das meint auch der Rebell
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