- Gründerjahre und Gründerkrach von 1866 - 1885 in Deutschland (va. Sachsen) - monopoly, 31.01.2003, 15:56
- Re: Gründerjahre und Gründerkrach von 1866 - 1885 in Deutschland (va. Sachsen) - Dionysos, 31.01.2003, 17:51
Gründerjahre und Gründerkrach von 1866 - 1885 in Deutschland (va. Sachsen)
-->Die Gründerjahre von 1866 - 1873 in Pirna
5.1. Erste Phase: 1866 - 1870
Die vielfach auf den „Milliardensegen“ seit 1871 fließender französischer Kriegskontributionen zurückgeführten „Gründerjahre“ setzten schon 1866 ein. Nach dem preußisch-österreichischen Krieg war der Norddeutsche Bund entstanden, dem auch Sachsen angehörte. Von daher gingen kräftige Impulse für einen Wirtschaftsaufschwung aus. Zwischen 1867 und 1873 wurden in Deutschland 8060 km Eisenbahnstrecke neu gebaut. Die Roheisenproduktion wuchs von 1,39 auf 2,22 Mill. T (um 62 %), der Stahlausstoß von 1,04 auf 1,58 Mill. t (um mehr als 50 %) und die Steinkohlenförderung von 26,4 auf 36,4 Mill. t (um 38 %). Hinter diesen Steigerungsraten verbergen sich riesige Investitionsströme und Güterbewegungen. Kräftig stiegen die Aktienkurse an. Zwischen 1971 und 1873 schütteten die Banken bis zu 25 % Dividende aus. Aber auch die Großhandelspreise kletterten um 30,4 %, die Lebenshaltungskosten erhöhten sich um 25 %, schmerzhaft für die Konsumenten.
Wenn Sachsens Anteil an den genannten Führungssektoren der Industrieentwicklung auch relativ bescheiden war, so nahm es doch indirekt an ihrem Aufschwung teil. Vor allem erhielt sein Maschinenbau dadurch einen kräftigen Anstoß.
Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 mündete die Konjunktur in ein geradezu rasantes „Gründungsfieber“, eine Wirtschaftseuphorie, die auf die Reichsgründung folgte.
Dieser „Gründer“- Boom erfaßt auch Pirna, und nun entstehen eine Reihe Unternehmen, die sich vielfach jahrzehntelang hielten, teilweise bis in unsere Zeit. Sie prägten die Industriestruktur bis ins 1. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts und teilweise bis in die jüngere Vergangenheit.
Im konjunkturell unruhigen Jahr 1866 entsteht die Buch- und Steindruckerei Eberlein, jener Zeitungsverlag, der den vorher von Diller herausgegebenen „Pirnaer Anzeiger“ übernahm.
Zwei Zigarrenfabriken, weitgehend versorgt vom einheimischen Tabakanbau und ihn befördernd, werden begründet. Eine kleine Zigarrenfabrik muß bereits vor 1866 bestanden haben: die von Altmann, später, 1873, von Wartner und Held Übernommen. Nun entstehen aber die beiden größten: 1868 die von Hebenstreit und Irmisch an der Klosterstraße (im Gelände der heutigen Stadt- und Kreisbibliothek) und 1869 die Elsholzsche in der Bahnhofstraße, die später an Passek überging und in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts von Max Bitterlich übernommen wurde. Die letztere existierte noch bis Anfang der 50er Jahre. Diese Fabriken waren noch reine Manufakturen, teilweise „verlegte“, weil sie auch Produktion in Heimarbeit vergaben.
1867 begründet der einheimische Lebensmittel- und Kolonialwarenhändler Heinrich Haensel seine Fabrik ätherischer Ã-le und Essenzen, ein Kleinunternehmen, das aber gut florierte und die Errichtung einer Zweigfabrik in Aussig ermöglichte. Es bestand bis in die 40er Jahre unseres Jh.
1868 geht aus der handwerksmäßigen einheimischen Töpferei die Ofen- und Tonwarenfabrik von Hugo Lehmann hervor. Kleinere Vorläufer, die sich auf Kachelöfenproduktion spezialisiert hatten, gab es bereits seit 1738. Seit 1797 befaßte sich auch die Firma Theodor Köhler, später Köhler und Lauschke, damit, seit 1801 R. O. Lehmann. Zeitweise gab es auch noch die Ostermeyersche Tonwarenfabrik. 1870 folgte Julius Lauschke mit Tonwaren und kunsthandwerklichen Gegenständen. Vier dieser Unternehmen bildeten 1924 die Vereinigten Ofenfabriken, abgekürzt Vopag.
Großes Gewicht besaßen die Sandsteinbrüche und die Steinverarbeitung in der näheren Umgebung Pirnas und in seinen Vororten. Für 1873 wird die Zahl der in Brüchen und Verarbeitungsbetrieben beschäftigten Arbeiter der Amtshauptmannschaft Pirna mit 4311 angegeben. Sandstein war damals noch, im Bauboom der Gründerjahre, ein begehrter Baustoff. Neben Bausteinen wurden nach wie vor Mühl- und Holzschleifsteine produziert.
5.2. Das Gründungsfieber 1871-1873
Das heiße Gründungsfieber ab 1871 erfaßte auch Pirna.
Im Februar 1870 kaufte Gruson aus Magdeburg-Buckau das Eisenhüttenwerk in Berggießhübel für 165 000 M und verkauft es bereits 1871 für 1 800 000 an drei Bankhäuser. Diese verkauften schon nach 6 Wochen für 2 700 000 M an den Aktienverein „Sächsische Eisenindustrie-Gesellschaft zu Pirna“, am 27.1.1871 entstanden.
Die verfügte über ein nominelles Aktienkapital von 4 800 000 M und nahm später noch eine Hypothek von
1 200 000 M auf. Anfang Oktober 1873 wurde der erste Hochofen in Betrieb gesetzt, und zwar auf den „Hospitalfeldern am Großsedlitzer Berge“ (an der B 172 - ehemaliges Glaswerksgelände).
An dieser Gesellschaft wird so recht deutlich, wie hochgeschraubt die Gewinnerwartungen von Kapitalanlegern zu dieser Zeit waren. Das Eisenhüttenwerk Berggießhübel brachte Gruson binnen Jahresfrist das mehr als 10fache des Kaufpreises ein, und die Bankhäuser erfreuten sich eines Gewinns von 900 000 M innerhalb von sechs Wochen! Gruson war dann auch der Hauptaktionär der „Sächsischen Eisenindustriegesellschaft“.
Von zwei kleineren Unternehmen, die 1871 ans Licht rückten, haben sich nur Aktennotizen erhalten: So produzierte W. F. I. Wodiczka Metallwaren und Ernst Moritz Böhme Strohhüte, eine Fertigung, die 1873 an Lankow und Staake überging. Beide Unternehmen tauchen in den Unterlagen über Industrieunternehmen später nicht mehr auf.
Am 26.3.1872 erfolgte die Gründung der „Pirnaer Bank“ mit Zweiggeschäften in Meißen, Sebnitz und Großenhain, ein weitgehend spekulatives Unternehmen, wie wir noch sehen werden.
Am 20.4.1872 begründete sich die „Aktiengesellschaft Steinmetzgenossenschaft für Pirna“, von Steinmetzgehilfen ins Leben gerufen. Sie errichtete „beim Produktenbahnhofe einen Werkplatz und verschiedene Gebäude“.
Am 12.12.1872 wurde die Aktiengesellschaft „Sächsische Baugesellschaft“ aus der Taufe gehoben - mit einer Million Taler Aktienkapital - „zum Zwecke der Erzeugung und Verwertung von Baumaterial und Ausführung von Bauten“. Sie hatte ihr Domizil am „Lehmwege“ (Dresdner Straße, später Firma Lein). Am 1.1.1873 eröffnete sie ihre Betriebstätigkeit.
Anfang 1873 wurde durch den „Brauer Maultzsch aus Berlin auf dem Kesselberge“ eine Lagerbierbrauerei erbaut (Brauerei zum Bergschlößchen).
Am 27.1.1873 wurde mit einem Aktienkapital von 150 000 Talern die „Aktiengesellschaft Sächsische Emaillierwerke und Kochgeschirrfabriken“ gegründet. Sie übernahm die seit 1863 bestehende Fabrik emaillierten Geschirrs zur Erweiterung und Fortführung von der Firma Gebr. Gebler.
Anfang Dezember 1874 eröffnete die erste Pirnaer Glasfabrik, die der Gebrüder Hirsch, an der Dresdner Straße ihren Betrieb.
Im Herbst 1875 errichteten die „Gebrüder Lohse in der Firma F. L. Deich Nachf.“ auf dem Grundstück der „Sächsischen Baugesellschaft“ „eine Fabrik für Reibzündhölzchen ohne Schwefel und Phosphor“..
Weitere Gründungen in dieser Zeit waren: 1870 die Strick-, Häkelgarn- u. Bindfadenfabrikfabrik Max Stoß; 1871 die Roßschlächterei und Wurstfabrik Hempel; 1872 das Bauunternehmen Kluge und Ulbricht; 1872 die Fabrik gelochter Bleche mit Kesselschmiede, Breuer u. Co.; 1873 die Mühlenbauerei Herberg, die Brauerei und Mälzerei der Gebr. Schrey und die Pirnaer Malzfabrik.
1876 folgte das Bankhaus Ketzscher und Andrae.
Einzig der Maschinenbaubetrieb Herberg überstand mit Schwierigkeiten und nach zeitweiligen Stillegungen bis heute.
Neu für die siebziger Jahre war die beginnende Erschließung des Gebietes zwischen der Gottleubamündung und der Grenze der Ortsflur im Westen der Stadt für die Industrie. Hier gab es ein größeres zusammenhängendes Flächenangebot mit möglicher Bahnanbindung. [4]
6. Der „Gründerkrach“ und die nachfolgende Depression bis 1885
Gründerkrach in Deutschland.
Der 1873 hereingebrochene „Gründerkrach“, die deutsche Version der 2. großen Weltwirtschaftskrise, mündete in eine bis 1895 anhaltende Depression.
Sie war begleitet vom Zusammenbruch des europäischen Agrarmarktes 1875/76, der zur Dauerkrise der deutschen/westeuropäischen Landwirtschaft bis in unsere Zeit führte (und auch durch die Schutzzölle auf Getreide ab 1880 nur abgemildert, nicht aber überwunden werden konnte) und von der „Großen Deflation“, einem Preisverfall, der vor allem die Führungssektoren traf. Sie reagierten mit Rationalisierungsmaßnahmen, setzten gleichfalls Schutzzölle durch und fingen die Schwäche des Binnenmarktes mit gesteigertem Export ab.
Vom Ausmaß des „Gründerkrachs zeugen:
Die Panik auf dem Kapitalmarkt: Betrug der Kurswert von 444 Aktiengesellschaften Ende 1872 noch 4,53 Mrd. M, so verfiel er bis Ende 1874 auf 2,44 Mrd. M. Über 2 Mrd. Hatten sich in wenigen Monaten in Schall und Rauch aufgelöst. Von 139 Kreditbanken wurden in wenigen Monaten 73 liquidiert!
Ein rapider Preisverfall von Industriewerten setzte ein:
1873
1874
Kohle
18 M/t
4,6 M/t
Koks
54 M/t
9 M/t
Stahlschienen
408 M/t
252 M/t
Manchmal rutschten die Preise unter die Produktionskosten. Der Zinsfuß sank auf den tiefsten Stand des 19.Jh. Der über die Marktbedürfnisse hinausgeschossene Produktionsausstoß führte zu enormem Druck auf das Preisgefüge. Die deflationäre Preisentwicklung führte aber zu anhaltendem Produktivitätsgewinn.
Das Wachstum hielt im ganzen weiter an. Stagnation und absoluten Produktionsrückgang gab es nur für relativ kurze Zeit und in einigen wenigen Branchen.
Der „Gründerkrach“ in Pirna.
Die „Sächsische Eisenindustrie-Gesellschaft zu Pirna“ stellte am 12.12.1875 ihren Betrieb wieder ein. Der Hochofen wurde ausgeblasen. Am 18. Oktober 1881 beschloß der Aufsichtsrat die endgültige Auflösung der Gesellschaft. Der Betrieb der Grube „Mutter Gottes“ in Berggießhübel war bereits am 30.4.1876 erloschen. Der Versuch, ein Montanunternehmen in unserem Gebiet zu errichten, knüpfte zwar an den einstigen Eisenerzbergbau im Osterzgebirge an, platzte aber sehr rasch wie eine Seifenblase.
Die „Pirnaer Bank“ „fallierte“ am 16.10.1873. „Aktien, Depositen und Spareinlagen waren im Gefolge der gewissenlosen Geschäftsdirektoren, der Gebrüder März, völlig verloren“, wie es in einem Bericht heißt.
Auch die „Aktiengesellschaft Steinmetzgenossenschaft für Pirna“ war bald am Ende. Nach schweren Einbrüchen fand die Konkurseröffnung zum Vermögen am 26.7.1877 statt
Die „Sächsische Baugesellschaft“ ging nach nur viermonatiger Betriebstätigkeit am 30.4.1873 „wegen unbefriedigenden Ergebnissen des bisherigen Geschäfts“ in Liquidation. Das Konkursverfahren wurde am 28.10.1874 eröffnet.
Die „Aktiengesellschaft Sächsische Emaillierwerke und Kochgeschirrfabriken“ beschloß am 10.3.1876 Verkauf und Liquidation. Käufer waren die Gebrüder Gebler, die hier den Versuch aufgaben, mit zusätzlichem Kapital ihren Betrieb auszubauen und sich als Heereslieferanten zu etabilieren
Das Unternehmen der „Gebr. Lohse in der Firma F. L. Deich Nachf.“ erfreute sich auch keines langen Bestandes. Es erscheint noch 1883 in der Fabrikarbeiterzählung, in den darauffolgenden Jahren aber nicht mehr, ist also 1883/84 eingegangen.
Von den größeren Gründungen überstanden also nur die Bierbrauerei auf dem Kesselberge (gegenüber dem Kreis-krankenhaus), die Glasfabrik der Gebrüder Hirsch und die Geblersche Emaillierfabrik (nach Schrumpfung ihres Kapitalstocks) den Gründerkrach. - Auch diese Betriebe existieren heute nicht mehr.
Die Stagnationsperiode zwischen 1875 und 1885 in Pirna.
Seit der Mitte der siebziger Jahre stagnierte die ökonomische Entwicklung Pirnas. Das ist auch einer chronistischen Notiz aus dem Jahre 1886 zu entnehmen. Dort heißt es: „Nach mehrjährigem vollständigen Stillstand der Bautätigkeit (sind) in diesem Jahr erste erfreuliche Anfänge einer Besserung“ zu verzeichnen. Verschiedene Wohnhäuser und Industriegebäude wären entstanden.
Vor allem aber wurde 1887 und 1888 an umfangreichen Kasernenbauten gearbeitet - für die Unterbringung eines ganzen Artillerieregiments. Beteiligt waren daran alle Pirnaer Baufirmen.
In dem Jahrzehnt zwischen 1875 und 1885 gab es in der Tat keinerlei Zugänge an neuen Betrieben, und auch die vorhandenen erfuhren kaum eine merkliche Erweiterung.
Der Bevölkerungszuwachs Pirnas flachte auch ab, wie das folgende Zahlen belegen: 1870 - 8782 Einwohner, 1875 - 10581, 1880 - 11680, 1885 - 11720.[5]
http://hjensch.bei.t-online.de/Industr.-bis1885.htm

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