- Amerikas Gouverneure greifen zur Axt - - Elli -, 09.06.2003, 11:50
- Re: Sehr instruktiv - es geht dahin... Danke für die Texte! (owT) - dottore, 09.06.2003, 15:09
Amerikas Gouverneure greifen zur Axt
-->http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,251942,00.html
US-Finanzkrise
Amerikas Gouverneure greifen zur Axt
Von Marc Pitzke, New York
In den Haushalten der US-Bundesstaaten klaffen Milliardenlöcher in Rekordgröße, nun beginnt eine Orgie hektischen Streichens, Kürzens und Sparens, das deutschen Regierungen, Parlamentariern und Verwaltungen wie wohlfahrtspolitisches Höllenwerk erscheinen muss. Von den Einschnitten sind vor allem Minderheiten und Mittellose betroffen.
New York - Selbst im Knast wird gespart. Zum Beispiel im Gefängnis von Newton im US-Bundesstaat Iowa: Da kriegen die Häftlinge nur noch einen Nachtisch am Tag statt zwei; anstelle echten Orangensafts gibt es ein Kaltgetränk mit Kunstgeschmack. Kulinarische Abstriche drohen den Rechtsbrechern auch in Minnesota, das Frühstück und Mittagessen wird zum Billig-Brunch kombiniert."Mörder", sagt Marty Seifert, Republikaner im Regionalparlament,"müssen die gleichen Opfer bringen wie wir."
AP
Staatskapitol in Idaho: Sackhüpfen gegen die Zeit, in nahezu allen Bundesstaaten
Stullen statt Steak, Nachschlag verboten: Die historische Finanzkrise, die von Anchorage in Alaska bis Augusta in Maine alle 50 US-Bundesstaaten erfasst hat, ist so eskaliert, dass sie inzwischen gar jene erreicht, die gar keine Steuern zahlen - diejenigen hinter Gittern. Nicht immer geht der Geiz zu Lasten der Knackis: Um Geld zu sparen, lassen Staaten wie Michigan und Montana viele Kriminelle vorzeitig frei.
"Kritischste Herausforderung seit Jahrzehnten"
Dabei sind dies nicht mal die kuriosesten Maßnahmen im Katalog der Kürzungen, den die US-Staatsregierungen fürs neue Etatjahr avisieren, das am 1. Juli beginnt. Die Hektik ist groß in den Landeshauptstädten: In wenigen Wochen sind die Gesetzgeber gezwungen, regionale Haushaltslöcher von insgesamt 100 Milliarden Dollar zu stopfen. Bis dahin, klagt William Pound, Direktor der National Conference of State Legislatures (NCSL), stehen die Staaten vor"der kritischsten Herausforderung seit Jahrzehnten".
AP
Rentnerproteste in Oregon:"Es gibt keine schmerzlosen Optionen"
Es ist ein Sackhüpfen gegen die Zeit. Die Staatsdefizite - akkumuliert durch Rezession, Steuerverluste und Zusatzkosten für Terrorschutz - sind über fünfmal so groß wie im Vorjahr. Bildung, Gesundheitswesen, Verkehr: Nicht ist mehr heilig."Es gibt keine schmerzlosen Optionen mehr", sagt NCSL-Präsidentin Angela Monson, die selbst als Senatorin in Oklahoma unpopuläre Entscheidungen treffen musste - so die Streichung der staatlichen Krankenversicherung für 79.000 Arme, Rentner und Behinderte."Dies wird sich im Alltag vieler schwer bemerkbar machen."
41 Staaten kürzen die Krankenversorgung
Zum Beispiel auch in Massachusetts. Hier hat der Staat 50.000 Arbeitslosen die kostenlose Krankenversorgung über das staatliche Hilfsprogramm Medicaid entzogen."Wir annullieren die Errungenschaften der Vergangenheit", protestiert Rob Restuccia, Exekutivdirektor der Interessenvereinigung Health Care for All.
Massachusetts ist kein Einzelfall. 44 Millionen Amerikaner sind auf Medicaid angewiesen, 41 Bundesstaaten wollen sie nun drastisch kürzen. Ganze Bevölkerungsgruppen werden dann von der Gratis-Krankenkasse ausgesperrt; Arme müssen sich privat versichern, teure Medikamente werden nicht mehr gedeckt, Krankenhäuser verlieren ihre Zuschüsse.
Illinois behilft sich mit einer fixen Idee: Chronisch depressive Patienten müssen das Medikament Zoloft fortan in 100-Milligramm-Doppeldosen kaufen (Tagesdosis ist 50 Milligramm), die Pillen zerbrechen und auf zwei Tage verteilen. Da die großen Tabletten genauso viel kosten wie die kleinen, soll das drei Millionen Medicaid-Dollar sparen.
REUTERS
Gouverneur und Präsidentenbruder Jeb Bush:"Solche Schritte bedrohen unsere Kultur"
Leiden muss auch das Bildungswesen. Die Hälfte aller Staaten nehmen High Schools, Colleges und Universitäten unters Messer. Oregon, South Dakota und Louisiana haben die Schulwoche von fünf auf vier Tage gekürzt. Überall steigen die Studiengebühren. Beispielsweise an der City University in New York, die einen Aufschlag von 25 Prozent erwägt."Uns droht eine Bildungskrise", sagt Travis Reindl von der American Association of State Colleges and Universities."Wir bestrafen die, die Bildung am meisten brauchen: Minderheiten-Studenten mit niedrigem Einkommen."
Jeb Bush, Präsidentenbruder und Gouverneur von Florida, will 5,4 Millionen Dollar sparen, indem er die State Library schließen und das Staatsarchiv"umstrukturieren" lässt. Auf dem Müll landen dann 900.000 Archivstücke - darunter die legendären Lochkarten aus dem Wahldebakel der Präsidentschaftswahl 2000."Solche Schritte", sagt Bush-Gegner Jim Schnur, ein Historiker am Eckerd College in St. Petersburg, Florida,"bedrohen unsere Kultur."
Symbolisches Salär von einem Dollar
In New Jersey hat die Kultur wenig Chancen. Gouverneur James McGreevey, der in ein Fünf-Milliarden-Dollar-Budgetloch starrt, will alle Subventionen für Geschichte und Kunst ersatzlos streichen und die staatliche Historical Commission auflösen.
Die Axt fällt auch im öffentlichen Nahverkehr. Die staatlichen Betriebe haben landesweit allein sechs Milliarden Dollar in den Terrorschutz für Busse, Züge und U-Bahnen stecken müssen, ohne diese mit Zuschüssen decken zu können. Und so sind auf 90 Prozent aller Strecken jetzt die Fahrpreise angestiegen, ganze Verbindungen verschwunden, wichtige Renovierungen entfallen.
Das klappt nicht immer. Die mit täglich sieben Millionen Passagieren größte US-Verkehrsgesellschaft, die New Yorker MTA, versuchte die Kosten für einen Fahrschein jetzt von 1,50 auf 2 Dollar anzuheben. Eine Bürgerinitiative zog dagegen vor Gericht, welches die MTA vorerst zurückpfiff.
Steuern erhöhen nur wenige Staaten
Nur wenige Staaten wagen sich dagegen ans politische Angstthema: Steuern. Sechs Regierungen haben die Tabaksteuer erhöht (in New York kostet ein Päckchen Zigaretten über sieben Dollar), zwei die Biersteuer, andere die Einzelhandelsteuer. Wieder andere haben bereits in Kraft getretene Steuerkürzungen wieder auf Eis gelegt oder neue Telefonsteuern erfunden.
Die originellsten Spareinfälle kommen entweder von höchster Stelle - oder von der untersten. Mitt Romney, der Gouverneur von Massachusetts, will seinen Wählern die nächsten vier Jahre umsonst dienen und sein Jahresgehalt (135.000 Dollar) dem Staat schenken. New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg, vierfacher Milliardär, arbeitet bereits für ein symbolisches Salär von einem Dollar. Der Bürgermeister von York in Pennsylvania hat seine Untertanen gebeten, je 3,32 Dollar in die Stadtkasse zu spenden. (Im letzten Monat kamen dadurch 85.000 Dollar zusammen.)
Kreative Buchführung:"Wie bei Enron"
Im Schussfeld der Dollarzähler finden sich unvermutet auch die Vize-Gouverneure, die sonst meist zeremonielle Aufgaben haben oder sich einfach nur bereithalten, falls der Chef dienstunfähig wird. In Kentucky wollen die Republikaner dem demokratischen Vize-Gouverneur Steve Henry Dienstvilla, Bodyguards, Büro, Limousine und Koch streichen. Einstweilen musste Henry sogar in den Keller des Kapitolsgebäudes umziehen. Wisconsin debattiert, das Amt ganz abzuschaffen."Niemand weiß so richtig, womit der sein Geld verdient", sagt der Demokrat Sheldon Wasserman.
Andere Staaten greifen zu kreativer Buchhaltung: Sie verzögern Steuerrückzahlungen, beschleunigen das Eintreiben von Strafgebühren, verkaufen Immobilien und mieten sie neu an. New Jerseys McGreevey hat eine Schulsubvention von 300 Millionen Dollar vom Juni auf Juli verschoben, also ins nächste Haushaltsjahr. Damit dafür dann Geld in der Kasse ist, wurde die Juni-Zahlung 2004 ebenfalls in die Bilanz für 2005 gehievt."Das ist wie bei Enron", sagt der Finanzprofessor Michael Granof von der Texas University in Anspielung auf den Buchhaltungsskandal bei dem Energieunternehmen."Keiner dieser Tricks ist illegal."
Außerdem beschleunigen sie die Schuldenspirale nur, ohne das Problem zu lösen. In einem Bericht kam die NCSL jetzt zur ernüchternden Einsicht, dass kein Ende der Misere in Sicht ist."Es wird nur noch schlimmer", sagt NCSL-Finanzanalyst Arturo Perez.
Auswege aus dem Dilemma wollen über 1200 Landesabgeordnete, Gewerkschaftler und Interessengruppen im Juli auf ihrem fünftägigen Jahreskongress in San Fransisco suchen. Die Konferenzgebühr für Teilnehmer liegt, je nach Provenienz, zwischen 410 und 760 Dollar, plus 215 Dollar Mindestauslage für Unterkunft. Zahlbar, so das Anmeldungsformular,"mit American Express, Visa, Mastercard oder Diner's Club". Wohl kaum ein Beitrag zur Lösung der Finanzkrise.
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