- Zeitungsartikel:"Mikrokredite statt Almosen" - Diogenes, 01.07.2001, 14:06
- Sehr interessant! Danke für die Heraushebungen (owT) - boso, 01.07.2001, 19:00
Zeitungsartikel:"Mikrokredite statt Almosen"
Aus NZZ, 1.Juli 2001, Hervorhebungen von mir.
"Grameen oder Mikrokredite statt Almosen"
Ein Bericht aus Bangladesh von Christoph Neidhart
Geld, Geld: Zu kleinen Päckchen gebündelt, liegen 350 000 Taka auf dem Holztisch. Zwei Männer hatten das Geld in einer Plastictüte mit dem Motorrad aus dem Bezirkshauptort Gazipur gebracht. Während über einer Stunde zählten sie die Schmuddelscheine nach, bündelten sie. Die Frauen draussen warteten, von Zeit zu Zeit trat eine in den Raum, um für zehn Taka ein Kontoheft zu kaufen. Jetzt ist es so weit: Abdus Shabir nimmt Platz, die über dreissig Frauen drängeln sich um die offene Tür. Er lässt sich die Liste geben, ruft die erste herein: Name, Vorname?
Das schlichte Haus an der Strasse bei Basan Gazipur, zwei offene Räume, ein vernachlässigter Garten, ist eine von über 1100 Filialen von Grameen, der Bank für die Armen. Keine Schalter, kein Tresorraum, offene Fenster und an der Wand die Regeln und Slogans der Bank. 1979 gegründet, ist die Bank heute die wohl bekannteste Firma von Bangladesh, jedenfalls im Ausland. Der Uno- Generalsekretär pries sie in einem Bericht, Bill Clinton machte seine Aufwartung. Ihr Konzept kommt mittlerweile in über vierzig Ländern zur Anwendung und wird auch in Bangladesh von einer Reihe anderer Organisationen kopiert. Mikrokredite statt Almosen, Hilfe zur Selbsthilfe: Aus der Idee des Grameen-Gründers Muhammad Yunus ist inzwischen eine Bewegung entstanden - und ein kleines Imperium.
Name, Vorname? Schüchtern nimmt die nächste junge Frau vor Abdus Shabir Aufstellung. Sein Ton ist barsch; er sitzt, sie steht. Wofür hat sie den Kredit beantragt? Das steht in der Akte, die vor ihm liegt. Aber sie muss es wiederholen, auch für sich selbst: für eine Milchkuh. Gut! Noch Fragen? Er ermahnt sie, nickt und händigt ihr das Notenbündel von 4000 Taka (etwa 130 Franken) aus. Die Nächste.
Typischerweise borgen sich die Frauen rund 200 Franken auf ein Jahr, für jede denkbare Kleininvestition, von der Ackerpacht über die Nähmaschine bis zum Mobiltelefon, rückzahlbar in wöchentlichen Raten zu einem Jahreszins von zwanzig Prozent (acht Prozent mit drei Jahren Laufzeit, wenn es sich um eine Hypothek für den Bau eines Hauses handelt). Das Besondere an den Mikrokrediten ist freilich, dass Grameen keine Sicherheiten verlangt, jedenfalls nicht im traditionellen Sinn: keine Vermögenswerte als Bürgschaft. Überdies sind die Kredite den Ärmsten vorbehalten; wer für eine normale Bank kreditwürdig ist, soll dorthingehen. Über 90 Prozent der Grameen-Kunden - «Mitglieder» werden sie genannt - sind Frauen: Sie haben sich als die disziplinierteren Rückzahler erwiesen. Zudem finden viele Männer im muslimischen Bangladesh bis heute, Geld gehöre nicht in Frauenhände. Dem widersetzt Grameen sich ganz bewusst.
Alle Banker hätten ihn gewarnt, sagt Mohammad Yunus, als er 1976 einer bettelarmen Frau, die Bambushocker zimmerte, Geld zu vermitteln suchte. Er wollte ihr helfen, damit sie ihren Bambus selber kaufen konnte, statt von einem Wucherer abhängig zu sein.Schliesslich gewährte er, damals ein junger Professor der Ã-konomie in Chittagong, ihr und 41 weiteren Leuten Kredite aus der eigenen Tasche; die Gesamtsumme betrug bescheidene 30 Dollar. Ohne Sicherheiten könne man keine Darlehen geben, belehrten ihn die Banker. Damit sperren die Nadelstreifen gerade die Ärmsten, die Kredite am dringendsten brauchen, sozusagen mit banktechnischer Logik aus; wahrscheinlich tut es ihnen sogar leid. Indes straftYunus' Bank sie Lügen; Grameen übertrifft mit einer Rückzahlungsquote von 98 Prozent jede «normale» Bank.
Name? Vorname? Mabia. Wie viel hat sie beantragt? 10 000. Richtig. Wofür? Um einen Scooter zu kaufen. Richtig. Was will sie mit dem Scooter? Sie wird ihn vermieten. Richtig. Abdus behandelt die 22-Jährige wie ein Vormund sein Mündel. Es scheint sie nicht zu stören, dies ist ihr vierter Kredit. Den ersten erhielt sie 1997, als sie 18 war, 5000 Taka für eine Milchkuh; im folgenden Jahr wieder 5000, diesmal, um ein Reis-Paddy zu pachten, dann noch einmal 7000, um den Reisanbau zu erweitern. Jetzt nimmt sie Kapital auf, um es in einen Rikscha-Scooter zu investieren. Ihr Ziel sei, eine Hühnerfarm zu bauen, sagt sie, nachdem sie ihre 10 000 unter ihrem Lunghi verstaut hat, dem langen, kunstvoll um den Körper geschlungenen Kleid.
Die Nächste? Wie grüsst du denn, raunzt der Filialleiter die scheue ältere Frau an. Sie könnte seine Mutter sein. Grüss noch mal! Zögerlich hebt die Frau ihre flache Hand schräg zur Stirn. In Bangladesh grüssen sich alle mit dem Soldatengruss, eigentlich haftet dem nichts Militärisches an. Eigentlich.
Materielle Sicherheiten verlangt die Grameen-Bank keine. Ihre zwei Millionen Mitglieder könnten sie nicht beibringen, schon gar nicht, wenn sie ihren ersten Kredit beziehen. Doch ohne Garantien geht es auch bei Grameen nicht, nur wird die Rückzahlungsmoral mit andern Mitteln gesichert. Der scharfe, erzieherische Ton des Bankers gehört durchaus dazu.
Wie viele Kinder hast du jetzt, fragt der kleine Bankgeneral die nächste Klientin. Drei. Das reicht, nicht noch mehr! Ja. Dann erhält auch sie ihr Bündel.
Geld befreit - aber nur jene, die damit umzugehen wissen. Wer ohne Geld aufgewachsen ist, kann das nicht gelernt haben. Erst recht nicht, wenn einem der Zugang zu dem bisschen Geld, das allenfalls vorhanden war, auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit verwehrt wurde, wie fast allen Bangla-Frauen auf dem Land.
In Bangladesh, wie in den meisten Entwicklungsländern, haben nur wenige der Armen eine Arbeitsstelle, die Mehrheit subsistiert, so gut es eben geht - theoretisch sind sie selbständig, nur erwerben sie nichts, weil ihnen das Grundkapital fehlt. Erst die Mikrokredite machen aus ihnen Kleinstunternehmer, «Jemande aus niemanden», wie Yunus sagt. Armut, glaubt er, hat ihre Wurzeln in den Institutionen, Konzepten und Theorien, die eine Gesellschaft strukturieren; sie ist nicht der Fehler der Armen. Die Wirtschaftswissenschaft dagegen hält Lohnarbeit für den Normalfall, sie will Stellen schaffen.
Entwicklung erweitere den Grad der Freiheit, schreibt Amartya Sen, der aus Westbengalen stammende Nobelpreisträger für Ã-konomie. Grameen zäumt dieses Fazit von hinten auf: Die dank ein paar hundert Franken gewonnene Freiheit erlaubt den Grameen- Mitgliedern, sich (wirtschaftlich) zu entwickeln: eine Kuh, ein Reisfeld, ein Scooter, eine Hühnerfarm... Nach weiteren Zielen gefragt, nennen die Frauen ausnahmslos die Ausbildung ihrer Kinder als Priorität. Sie sollen einmal in die Stadt, studieren gehen.
Kredit ist ein Menschenrecht, postuliert Yunus. In den Schriften, Broschüren und Filmen, mit welchen Grameen sich selber darstellt, geht es immer wieder um verzweifelte Frauen, die von ihren Männern verstossen wurden, in ihre Elternhäuser zurückkehrten, womöglich mit Kindern, dort aber nicht willkommen waren. Sie steckten in der Sackgasse - bis ein Mikrokredit ihr Leben von Grund auf veränderte. Anderen Frauen verwehrten die Ehemänner, Väter und Dorfmullahs das Aufnehmen von Geld, und erst mit Hilfe von Grameen konnten sie sich durchsetzen. In einer Gesellschaft, die es grösstenteils zumindest hinnimmt, dass Männer junge Mädchen mit Säure attackieren, weil sie sich etwa einer arrangierten Verheiratung widersetzen, wären derlei Geschichten nicht verwunderlich. Die Frauen, die von Abdus Shabir Kredite beziehen oder früher bezogen haben, versichern jedoch alle, sie seien in ihrer Ehe zufrieden. Einige sind sogar von ihren Männern zur Bank geschickt worden. Gemäss einer Studie profitieren in einem Drittel der Fälle die Männer vom Mikrokredit, den ihre Frauen aufgenommen haben, ein weiteres Drittel der Kredite nutzen beide gemeinsam, und lediglich ein Drittel bleibt ganz in Frauenhand. Das passt freilich nicht in ein Bild, das Spender im Westen mobilisieren soll.
Grameen verkauft deshalb Yunus' umwälzendes Kreditkonzept mit PR-Mitteln, die im Westen ankommen: Leid, Zuspitzung und Übertreibung. Doch was sich nach aussen mit Philanthropie brüstet, gebärdet sich nach innen als kompromissloses Geschäft, das Unterordnung und eiserne Disziplin erfordert. Die fehlenden Sicherheiten macht die Bank durch Gruppendruck wett. Einzelne Frauen können keinen Kredit beantragen, sie müssen sich zu Fünfergruppen zusammentun - und füreinander bürgen: Sie heissen ihre Gesuche gegenseitig gut, erhalten ihre Darlehen gestaffelt und nur solange die übrigen Mitglieder der Gruppe ihre Schuld brav abstottern. Einmal wöchentlich müssen sie sich zur festgelegten Stunde in der eigens dafür errichteten Hütte treffen, um sich gegenseitig zu informieren und zu beraten. Ein Vertreter der Bank kommt, um die Raten einzuziehen. Die Bank geht zu den Klienten, sagt Yunus, nicht umgekehrt. Einerseits zwingt der wöchentliche Rapport die Frauen in ein Ritual der Disziplin, anderseits schafft die Bank damit einen (Zeit-)Raum, in dem sie sich aussprechen, Verantwortung übernehmen und ausserhalb der Kontrolle ihrer Männer entscheiden können. Die Frauen bemühen sich, 16 Gebote einzuhalten, oder die «16 Entscheidungen», wie sie genannt werden. Dazu gehören die Selbstverpflichtung zu Fleiss, Sauberkeit und Ehrlichkeit, zur Familienplanung, zum Pflanzen von Gemüse und zum Bau von Latrinen, aber beispielsweise auch ein aktives und passives Brautgeldverbot.
Süsslich, faulig, grün und weich: Bangladesh ist ein Land ohne Steine, ohne klare Grenzen, zumal zwischen Wasser und Land. Es ist heiss und feucht, selbst im trockenen Februar. Und unvorstellbar dicht besiedelt. Man fährt einige Meter, kurvt um den nächsten Teich und erreicht, hinter ein paar Palmen, ein anderes Dorf. Offene Lehmhütten, eine Kuh an einer Leine, ein paar Schafe. Kinder. Im Reisfeld arbeiten Leute, jemand steht bis zur Hüfte im Teich, fingert an einem Fischzuchtgitter. Von irgendwoher klingt immer ein Hämmern, Ziegelsteine werden zu Schotterzerschlagen, für Fundamente oder für den Strassenbau. Frauen tragen grosse Packen frisch gebrannter Backsteine auf dem Kopf. Und überall Menschen, Menschen, Menschen.
Weit ist es nicht auf die Dörfer, das rurale Bangladesh beginnt mitten in Dhaka. Doch jede Fahrt durch die Hauptstadt ist mühsam, die Masse von Blech und Rikschas fliesst bestenfalls zäh, meist gar nicht. Man steht in einer Wolke aus Russ, Zweitakteröl und Staub, das Gemisch setzt sich in den Kleidern und auf der Haut fest. Indes liegt es nicht bloss am Verkehr, dass in Bangladesh Welten zwischen Stadt und Land liegen.
Ruhiger ist es in der Stadt nur während des Hartal, einer Art Generalstreik, der zurzeit fast wöchentlich ausgerufen wird. Der Verkehr liegt lahm, wer sein Auto benützt, den attackieren die Aktivisten. Die Demonstrationen arten regelmässig in Gewalt aus. Die Läden bleiben geschlossen. Nur Fahrradrikschas werden toleriert. Sobald der Hartal vorbei ist, überbordet Dhaka erst recht. Die Stadt tost. Hunger und Wohlstand koexistieren, religiöser Fanatismus und englische Kühle, eine enorme Korruption und Dreck, wohin das Auge blickt. Es gibt viele gut gemachte Zeitungen, auch englischsprachige; allenthalben stösst man auf Privatschulen, etwa die Shining Morning School; ausländische Universitäten wie die Victoria University Wellington umwerben mit Transparenten potenzielle Studenten. Bangladesh ist eins der ärmstenLänder der Welt; das heisst freilich nicht, dass alle in dieser Klassengesellschaft arm sind. Ein Drittel der Bewohner von Dhaka beschäftigt Dienstboten. Leute in Bally-Schuhen steigen am Strassenrand über Bettler hinweg. In quasi permanenten Provisorien kampieren Migranten vom Land, Kinder mit Hungerbäuchen, Männer, die nichts tun; hier grassiert die Tuberkulose, und die Jauche rinnt in den Bordstein. Hunde, Krähen und Menschen wühlenim Müll und suchen nach Essbarem. «Wir haben die Fähigkeit verloren, schockiert zu sein», sagt eine junge Frau, die für ein Hilfswerk arbeitet.
Die Elite ignoriert die Armen, ist aber auf sie angewiesen, wie der Schwede Bosse Kramsjö in seinem Buch «Bangladesh» betont. Einerseits profitiert auch (oder gerade) sie ganz direkt von den Bildern des Elends, die immer wieder um die Welt gehen, anderseits schaffen die Armen Arbeitsplätze für die Elite und bezahlen sogar ihre Löhne. Die Mitglieder der Grameen-Bank etwa sind Kreditnehmer und Miteigentümer zugleich und als solche verpflichtet, beider Bank ein Sparkonto zu eröffnen. Ihre Schuldzinsen und Spareinlagen finanzieren, zusammen mit den Spendengeldern, die vergleichsweise generösen Gehälter der rund 12 000 Grameen-Angestellten. Anders ist das vielleicht nicht zu haben. Dennoch mutet essonderbar an, wie klar Grameen die bestehende Klassengesellschaft spiegelt. Die Oberen bleiben die Oberen.
In vielen Dörfern hat der örtliche Grameen-Chef inzwischen mehr Macht als die politischen Behörden oder der Mullah. Als wir an einem Markt vorbeifahren, meint Abdus Shabir, hier gebe es keinen Stand, den die Bank nicht mitfinanziert habe. Die zwei Millionen Grameen-Mitglieder, die sich in Fünfergruppen wöchentlich treffen, seien eine ausgezeichnete Basis für eine Wahlkampagne. Die Bank betont freilich, sie halte sich aus der Politik raus.
Die Elite aber findet man in Villen der Kolonialzeit. Da sitzen gut ausgebildete junge Bengali, trinken Tee und diskutieren über Gott und die Welt, vor allem die Welt. Sie beziehen relativ hohe Löhne und nutzen den unlimitierten Internetanschluss. Ihre Arbeitgeber: die NGOs (Non-Governmental Organizations), wie sich Hilfswerke und andere Entwicklungsinstitutionen heute nennen - auch jene, die eng mit Regierungen verbandelt sind. Dabei fällt auf, wie einheitlich die Sprache dieser jungen Leute ist. Alle betonen, sie wollten keine Programme von oben implementieren, sondern aufs Volk hören, von ihm lernen. Immer wieder verwenden sie Schlagworte wie «sustainable», «nachhaltig», ein Begriff, der seit dem Ã-ko-Gipfel in Rio 1992 Weltkarriere macht. Gewiss, die Welt muss sparsamer mit ihren Ressourcen umgehen. Aber dem Begriff haftet längst der Ruch eines Codewortes an, einer Zauberformel, die Zugang verschafft und Zugehörigkeit verspricht. Von NGO-Angestellten in Dhaka mechanisch wiederholt, hat «sustainable» eine Signalwirkung wie die Elendsfotos: Es schafft Verbindlichkeit.
>b>Wächst mit den über 20 000 NGOs in Bangladesh nicht eine Bürokratie heran, die die Moral auf ihrer Seite weiss, aber nichts zum Gedeihen der realen Wirtschaft beiträgt?[/b] Diese neue Elite sitzt am Geldhahn, verteilt Mittel, bleibt jedoch von Erfolg oder Misserfolg ihrer Entscheidungen seltsam unberührt - wie die Bürokratie einer Planwirtschaft; sie profitiert vom Fortbestehen des Status quo. Gleichwohl haben diese Jungfunktionäre für die korrupten Staatsorgane und die politische Elite nur Verachtung übrig.
Dabei arbeiten viele NGOs eng mit dem Staat zusammen, vor allem die grösseren. Sie müssen wohl, wenn sie, wie das Bangladesh Rural Advancement Committee (Brac), Funktionen übernehmen, die anderswo der Staat trägt, etwa den Aufbau eines Gesundheitssystems. Das Brac betreibt rund 28 000 Grundschulen, deren dreijähriges Programm bereits 1,7 Millionen Kinder durchlaufen haben. Mikrokredite allein genügen nicht, betont Salehuddin Ahmed, der stellvertretende Direktor von Brac, der grössten NGO der Welt.
Auch Grameen ist weit mehr als eine Bank. Im Konglomerat von Firmen und Institutionen, die unter diesem Namen segeln, machen einige Profit, andere weisen stolz auf ihren Non-Profit- Charakter hin.
Bangladesh müsste nicht arm sein. Das Land ist fruchtbar, was zu Boden fällt, gedeiht. Die britischen Kolonisten stiessen auf eine gesunde Landwirtschaft und eine blühende Webereiindustrie. Es gab keine Grossgrundbesitzer und keine landlosen Armen. Die Tiefe der Kluft zwischen den Klassen geht auf das Bodenrecht der Briten zurück. Sie reduzierten das Delta des Padma, wie der Unterlauf des Ganges genannt wird, auf die Juteproduktion. Grameen sucht nun das traditionelle Gewerbe wiederzubeleben. Für die Handweberei hat man die Tochterfirma Grameen Uddog gegründet, für Fischzucht und Fischerei Grameen Motsho.
Mit Grameen Phone, einem Joint Venture mit der norwegischen Firma Telenor, greift das Konglomerat nach der Zukunft. Die Bank für die Armen betreibt ein Mobilfunknetz - und versorgt es auch gleich mit Kunden: den Telefonladys mit ihren «Village Phones».
Die wenigsten der 68 000 Dörfer Bangladeshs verfügen über einen Telefonanschluss, auf tausend Einwohner kommen vier Telefone. Das Land wird so bald auch nicht vernetzt werden. Nur einedrahtlose Telefonie vermag die Dörfer an die Aussenwelt anzuschliessen. 1996 begann Grameen, seinen Mitgliedern Kredite für die Anschaffung eines Handys anzubieten. Seither hat Abdus Shabir, der Banker oder Dorfkönig von Basan Gazipur, 19 Frauen zu einem Mobiltelefon verholfen. Auch er selbst telefoniert die ganze Zeit.
Momotaj Begum im Dorf Chandona ist eine von ihnen. Sie bezog schon mehrere Kredite, den ersten vor acht Jahren für eine Milchkuh. Seit drei Jahren betreibt sie das Dorftelefon. Sie sitzt vor ihrer Hütte, das Nokia liegt auf einem Tischchen, daneben ein Kassenbuch. Bezahlt wird bar und sofort. Die Leute vom Dorf rufenihre Verwandten an, zum Beispiel in Dhaka. Die Eigner der Hühnerfarm nebenan informieren sich über die aktuellen Eierpreise.Zahlreicher sind freilich die ankommenden Gespräche; aus Saudiarabien, Kuwait, Deutschland und Indien, wo die Dorfbewohner eben Verwandte haben.
Seinerzeit als das Angebot kam, wollte keine andere Frau ihrer Gruppe das Telefon übernehmen. Jetzt jedoch, da sie sehen, mit wie wenig Aufwand sie bis zu 5000 Taka im Monat umsetzt, beneiden sie Momotaj. Die beste der mittlerweile etwa 3500 Telefonladys machte im Januar einen Umsatz von 42 000 Taka, das sindgut 1300 Franken, mehr als drei durchschnittliche Jahreseinkommen. Bis Ende nächsten Jahres sollen in 40 000 Dörfern Telefonladys eine Sprechstelle betreiben.
Kommunikation und Geld sind unabdingbar für jede Modernisierung; erst sie ermöglichen einem Dorf den Anschluss an eine integrierte Wirtschaft - nicht bloss an die globalisierte: Selbst ein regionaler Markt ist kaum mehr möglich, wenn sich nicht alle seine Teilnehmer über Preise und Nachfrage informieren können. Und, noch wesentlicher, wenn sie nicht über ein abstraktes Mittel verfügen, um Wert zu speichern, zu investieren, zu transferieren undanonym auszutauschen: Geld. Ohne ein Geld, das diese Eigenschaften erfüllt, kann es keine (mit Verlaub) nachhaltige Entwicklung geben.
Die Mikrokredite monetarisieren das bengalische Dorf. Dank Grameen bekommen die Frauen Geld in die Hand, viele zum ersten Mal. Damit trägt die Bank von Mohammad Yunus mehr zur Entwicklung des Landes bei als mit der direkten Bekämpfung der Armut.
Auf den Dörfern werden immer mehr kleine Läden eröffnet. Harunorrashid, der Mann der Telefonlady von Porabari, betreibt einen Verkaufsstand an der Strasse, ein paar hundert Meter vom schlichten Wohnhaus entfernt. Er bietet Brot und Coca-Cola an, Seife und Zahnpasta, verkauft Zuckerzeug und Kochlöffel, Dinge aus der Stadt, die im geldlosen Tauschhandel schwierig zu bekommen wären. Am Laden hängt ein Schild, das den Weg zum Telefonweist. Den Kredit für den Laden hat seine Frau Hosneara aufgenommen, nach einem ersten Darlehen für eine Milchkuh. Auch dasHaus haben sie mit «ihrem» Geld gebaut. Und fürs Telefon inzwischen eine kleine Zelle mit Tisch. Ferner brauchten sie eine Antenne, die das Signal verstärkt.
Wichtiger sind freilich die unsichtbaren Effekte der Monetarisierung: Sie erweitert das Denken, verhilft den Menschen zu mehrsozialer Mobilität. Wie vermöchten Mütter wie Hosneara zu hoffen, sie könnten ihren Kindern dereinst eine Ausbildung in der Stadt bieten, wenn sie keine Möglichkeit zum Sparen hätten?
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