<h1>Der ganz alltägliche Wahnsinn!</h1>
Abgeschickt von: Aktienclown am 26 Januar 2002 um 03:12
Und auf einmal war er tot
Sie hatten viel getrunken, im Kühlschrank stand nur eine Dose Bohnensuppe. Alltag für sechs Jugendliche in Berlin-Charlottenburg. Am Sonntag erschlugen zwei von ihnen den Nachbarn für eine Packung Tortellini. Für sie hat sich nur eines geändert: Sie stehen im Mittelpunkt.
Jana Simon
Der alte Mann ist tot. Sascha nimmt einen tiefen Zug von dem Joint. Er zieht den Rauch ein, schließt kurz die Augen. Dann küsst er seine Freundin Manon auf den Mund und kichert. Lars hockt neben den beiden auf dem Sofa, die Schultern nach vorn geklappt. So sitzen sie immer hier, jeden Tag, endlos lange Stunden Langeweile, und warten darauf, dass ihr Leben losgeht oder endet. Eigentlich ist es egal. Vor wenigen Tagen wohnten und kifften sie noch zu sechst in dieser Ein-Zimmer-Wohnung in Charlottenburg. Zwei Freunde von ihnen, der 18-jährige Bernd und der 17-jährige Patrick, wurden inzwischen verhaftet. Sie haben den alten Nachbarn ein Stockwerk tiefer umgebracht, totgeschlagen. Ein Mädchen, Sabrina, ist nach Hause zu ihren Eltern gefahren. Jetzt sind sie nur noch zu dritt.
Lars ist 20, hat kurz rasierte Haare, trägt einen Ring in der rechten Augenbraue, und an seinen nackten Füßen stecken weiße Badelatschen. Er presst die Fäuste gegeneinander und schaut nach unten auf das Sofa, dessen Farbe über die Jahre undefinierbar geworden ist - eine Mischung aus Braun, Grau und Ocker. Die verschiedenen Vorbesitzer haben tiefe Kuhlen auf der Sitzfläche hinterlassen. Lars sagt nicht viel, und wenn, dann so leise, dass es fast unmöglich ist, die Wörter voneinander zu unterscheiden.
Rauchen, Trinken, Fernsehen
Dafür redet Sascha neben ihm ohne Pause. Er ist 19 und hat schon"'ne Menge gesehen", wie er sagt. Seine Haare sind dunkel, und wenn er die Lippen öffnet, entblößen sie eine Zahnlücke. Er spricht viel über Jugendstrafanstalten und von einem Job als Geschäftsführer. Diese Zeit scheint vorbei zu sein. Der Joint beginnt zu wirken. Sascha redet immer mehr, immer schneller, auch wenn er eigentlich gar nichts über die Tat weiß. Lars betrachtet ihn skeptisch schweigend von der Seite. Manon grinst. Sie ist blond, 15, auf ihrem T-Shirt steht Zicke. Eigentlich müsste sie wohl in der Schule sein.
Sascha beginnt dann zu erzählen von jenem vergangenen Sonntag, an dem zwei seiner Freunde einen Mann erschlugen. Er, Bernd, Lars, Patrick und Sabrina hatten den ganzen Samstag geraucht, getrunken, ferngesehen und Gespräche geführt, von denen nachher keiner mehr wusste, worum es ging. Sie schliefen bis Sonntagnachmittag durch. Lars, Patrick und Sascha auf der ausgezogenen Couch im Wohnzimmer. Bernd und Sabrina in der kleinen Kammer dahinter. Als sie aufwachten, hatten sie Hunger, aber kein Geld, und der Minimal-Markt an der Ecke war geschlossen. Sonst klauten sie dort manchmal ein paar Kleinigkeiten. Sascha verließ die Wohnung gegen 17 Uhr."Weil sie mich nicht schlafen lassen wollten", sagt er. Manon war bei ihrer Mutter. Lars, Bernd, Patrick und Sabrina blieben zurück. Sie schauten fern.
Gegen 19 Uhr soll Patrick auf die Idee gekommen sein, einen Stock tiefer zu ihrem Nachbarn zu gehen, um zu schauen, ob der was im Kühlschrank habe. Bernd erinnerte sich auch an einen schicken Fernseher in dessen Wohnung. Sie wussten alle, dass der Nachbar, ein älterer Herr, sich nicht mehr gut bewegen konnte, dass er täglich von einer Pflegerin besucht wurde. Er schien ein leichtes Opfer. Die Entscheidung dauerte nur Minuten. Sabrina wollte ihren Freund Bernd noch umstimmen, erinnert sich Lars. Er selbst schwieg wie immer."Ich hatte eine 50-zu-50-Chance, sie aufzuhalten. Im Nachhinein ist es vielleicht ganz gut, dass ich ihnen nicht hinterhergerannt bin, sonst wären meine Schuhabdrücke auch in der Wohnung", sagt er.
Sabrina und Lars blieben oben im Zimmer, warteten, schauten weiter fern. Sie hörten, wie Bernd und Patrick eine Etage tiefer die Tür eintraten. Dann wurde es still. Unten rammte Bernd dem überraschten Frührentner die Faust ins Gesicht. Im Haftbefehl steht, dass Patrick ihn danach mit einer Thermoskanne und dem Eisengestell eines Einkaufswagens schlug. Der Mann war längst bewusstlos. Die beiden nahmen Tortellini und Sauce aus dem Kühlschrank und schleppten den Fernseher nach oben in ihre Wohnung. Lars und Sabrina schwiegen noch immer. Sie machten die Tortellini warm, erinnert sich Lars. Patrick fing an zu essen. Niemand sagte etwas. Sie hatten schon lange aufgehört, miteinander zu reden, verbrachten nur ihre Zeit zusammen. Es herrschte eine merkwürdige Stille zwischen ihnen, als befänden sich alle in einem permanenten Dämmerzustand. Lars hatte ein komisches Gefühl. Plötzlich sagte Patrick:"Ich glaube, ich habe den totgeschlagen." Wieder Schweigen. Lars sagte, sie sollten einen Krankenwagen rufen. Bernd telefonierte schließlich mit dem Notarzt:"Wir haben Geräusche von nebenan gehört."
Alles wie immer
Der Nachbar starb am Sonntag um 23 Uhr 47 im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Er hatte multiple Hämatome am ganzen Körper, Rippenfrakturen, Einrisse in beiden Lungen und der Leber. Die Polizei glaubte die Version von"den Geräuschen" nicht, die Spurensicherung kam vorbei. Sie stellte fest, dass die Schuhsohlen von Bernd und Patrick mit den Abdrücken in der Wohnung des Nachbarn übereinstimmten. Alle vier wurden verhaftet. Bernd und Patrick sitzen jetzt in Untersuchungshaft wegen Raubmordes. Lars und Sabrina warten auf ein Verfahren wegen gemeinschaftlichen Raubes. Sie müssen sich zwei Mal in der Woche bei der Polizei melden.
Zwei von ihnen haben einen Menschen umgebracht. Wenn man Lars fragt, ob sich sein Leben nach jener Nacht verändert habe, antwortet er:"irgendwie schon". Es klingt, als sei er sich nicht ganz sicher. Bis jetzt ist alles wie immer. Der Fernseher läuft, die Freunde sind da, sie rauchen Gras. Der tote Mann scheint nur irgendwie dazwischengekommen zu sein. Am meisten hat Lars Angst davor, dass seine Mutter den Kontakt zu ihm abbricht und die Zahlungen an ihn einstellt, wenn sie von der"Sache" hört. Sie hat ihm auch diese Wohnung besorgt, in der sie jetzt zeitweise zu sechst leben. Lars meldet sich lieber erst mal nicht mehr bei ihr."Die läuft Amok", sagt er. Er lebt von ihrem Kindergeld und seiner Arbeitslosenhilfe. Im Monat sind das 590 Mark. Die anderen haben auch nicht viel mehr.
Draußen wird es langsam dunkel. Es macht keinen Unterschied, die Lampe hinter dem Sofa leuchtet den ganzen Tag über schwach. Im Fernsehen tanzen und singen fröhliche Menschen. MTV. Lars sieht ab und zu hin, zieht dann wieder an dem Joint. Das Leben auf dem Bildschirm passt nicht zu seiner Wirklichkeit. Lars verbrachte Jahre auf einer Förderschule in Sperenberg, ostdeutsche Provinz, nachdem die Lehrer an den anderen Schulen mit diesem merkwürdig stillen Jungen nichts anzufangen wussten. Lars besuchte den Unterricht nur selten, die meiste Zeit saß er beim Hausmeister und trank mit ihm Kaffee. Irgendwann war die Schule vorbei, und er hatte den Abschluss der 10. Klasse. Er begann eine Lehre als Maler, aber er schaffte es nicht, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Der Meister hielt ihn für einen Alkoholiker:"Weil ich ein, zwei Bier getrunken hatte." Schließlich flog Lars raus. Dann lernte er Bernd kennen in Ludwigsfelde, der kam aus einem Heim."Da fing das an mit den kriminellen Sachen - Klauen, Drogen und so", sagt er. Lars erzählt alles seltsam emotionslos, als existiere er hinter einem unsichtbaren Schleier. Seine Stimme bleibt immer gleichbleibend leise. Es wirkt, als habe er absolut keinen Einfluss auf die Dinge, sie scheinen einfach nur zu geschehen.
Wenn man Lars fragt, warum seine Freunde einen alten, hilflosen Mann überfielen und warum er es nicht wenigstens verhinderte, schweigt er. Sascha antwortet wieder für ihn:"Gucken Sie in den Kühlschank, dann wissen Sie es." Darin steht eine geöffnete Dose Bohnensuppe. Sonst nichts. Für eine Erklärung ist eine Dose ein bisschen wenig. Eine andere Begründung haben sie nicht. Auf dem Tisch vor ihnen ist noch eine halbvolle Flasche Sekt. Manon nimmt einen Schluck, die Hälfte spritzt auf den Boden. Dann holen sie die Wasserpfeifen aus der Ecke, die sie vorhin, als Sat1 da war, versteckt hatten. Lars, Sascha und Manon kauern auf dem Sofa, die Aschenbecher sind voll, die Colaflaschen leer. Sie reden nicht miteinander. Stumm schauen sie"Dragon Ball Z", eine Zeichentrickserie, die im Knast Kult ist, wie Sascha sagt. Sie verlassen kaum jemals die Wohnung, kein Geld, keine Lust. Sie sitzen hier und warten, dass die Stunden vergehen, dass etwas passiert. Vielleicht war der Tod ihres Nachbarn so etwas.
Ein Mann von Sat1 klingelt an der Tür. Er hat heute morgen schon gedreht, alle im Bett gefilmt und 100 Euro gezahlt. RTL war auch schon da. Sascha drückt sich aus dem Sofa, Lars verzieht das Gesicht. An der Tür hört er Sascha mit dem Sat-1-Mann verhandeln. Der will unbedingt Sabrina, Bernds Freundin, die Freundin des Mörders, interviewen. Aber Sabrina ist bei ihren Eltern. Sascha verlangt 150 Euro für ein Gespräch mit ihr. Er kommt wieder, setzt sich, trinkt Sekt aus der Flasche, und in seinen Augen liegt der zufriedene Glanz eines Menschen, der gerade seinen Marktwert entdeckt hat. In die Stille hinein sagt er:"Ey, ich bin jetzt Babsis Manager. Wenn die nicht 400 Euro zahlen, sagt sie kein' Ton." Die anderen schweigen. Manon hält eine Schminktasche auf dem Schoß und zieht ihre Lippen nach. Sie will einkaufen.
Hoffen auf die Talkshow
Sascha beginnt zu träumen, und die Preise steigen. Er ist jetzt schon bei 500 Euro."Hört mal, ich bringe die Babsi zu Bärbel Schäfer", sagt er, überlegt kurz und meint dann:"Sie töteten fürs Essen. Mann - das ist fast Andreas-Türck-reif." Sascha springt vom Sofa, hüpft im Zimmer herum und ruft immer wieder:"500 Euro, 500 Euro". Die anderen kichern aufgeregt. Es hat sich nie jemand besonders für sie interessiert, plötzlich stehen sie für einen Augenblick im Mittelpunkt. Und sie genießen es. Der tote Nachbar ist darüber irgendwie in Vergessenheit geraten."Ich kannte ihn nicht. Ich hoffe, es geht ihm jetzt gut", sagt Sascha.
Er hat es nun sehr eilig, nimmt ein Handy und ruft seine jüngere Schwester an:"Pass auf: Du nimmst heute Abend um 18 Uhr30,exklusiv' auf und danach Sat1. Verstehst du mich? Du kriegst auch was dafür. Und sag es bitte nicht Papa. Ich bin im Fernsehen. Freunde von mir haben was gemacht, und ich kannte die. Du kriegst auch 10 Euro. Okay?" Das Gespräch dauert ein paar Minuten. Sascha will ins Fernsehen, aber ein Foto von sich lehnt er ab."Die kennen mich doch alle noch im Knast." Das Loch in der Wohnungstür stammt von der Polizei, als sie Sascha das letzte Mal abholte wegen"Scheckbetrugs über eine halbe Million Mark", wie Manon sagt.
Wenn man die drei nach ihren Freunden fragt, die jetzt in Haft sind, bleiben sie wieder merkwürdig stumm."Zehn Jahre sind die auf alle Fälle weg", sagt Manon. Ob sie im Knast sind oder hier, scheint allerdings keinen großen Unterschied zu machen. Den Patrick mochten sie sowieso alle nicht."Der ist dumm", sagt Sascha. Und der suche sich immer nur Schwächere als Opfer. Wieso waren sie dann immer mit ihm zusammen?"Wir konnten ihn doch nicht auf der Straße pennen lassen bei der Kälte", sagt Sascha. Lars nickt kurz. Es ist eigentlich seine Wohnung. Miete zahlt er momentan nicht, weil der Ofen nicht funktioniert. Den ganzen Tag heizt ein Ã-lradiator.
Sascha steht auf und besprüht seinen Körper mit Parfum. Er will noch mal los, ein neues Handy besorgen für die Geschäfte mit den Journalisten. Manon hat sich fertig geschminkt, ihre Lippen glänzen, die Augenlider haben die Farbe überreifer Birnen angenommen. Nach Hause will sie noch nicht. Ihre Mutter hat eine seltsame Krankheit, von der keiner weiß, was es ist."Drei Jahre hat sie vielleicht noch", sagt Manon. Lars hat sich die ganze Zeit kaum bewegt, er sitzt da, den Körper vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt."Schon krass, was passiert ist", sagt er.
Wie geht es jetzt weiter? Lars möchte vielleicht wieder eine Lehre als Maler anfangen, Manon will vielleicht die Schule beenden und Sascha vielleicht Elektriker werden. Träume haben sie keine, Angst auch nicht. Sie denken nicht weiter darüber nach. Der Fernseher läuft, sie sind bedröhnt, ihre Bewegungen so verlangsamt, als lebten sie in Zeitlupe. Der Tag geht zu Ende. Nichts hat sich verändert. Alles bleibt, wie es ist.
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