<h2>Wer über Polizei-Folter klagt, beleidigt den Staat</h2>
Türkische Regierung ringt um Strafrechtsreformen / Streit belastet Ecevits Dreierkoalition
Von Gerd Höhler (Athen)
Mit der Novellierung zweier Strafrechtsparagrafen will die türkische Regierung die im vergangenen Herbst verabschiedeten Verfassungsänderungen umsetzen und ihre EU-Beitrittskandidatur voranbringen. Die Reform droht ein Rückschritt zu werden.
Seit Tagen wird hinter den Kulissen der Drei-Parteien-Koalition um die Gesetzesänderungen heftig gerungen. Es geht um die Strafrechtsartikel 312 und 159: Volksverhetzung und Beleidigung oder Verunglimpfung des Staates, seiner Organe und der Streitkräfte. In der Vergangenheit wurden diese beiden Paragrafen vor allem herangezogen, um unliebsame Kritik an der Regierung oder der Armee zu ahnden. So ermitteln derzeit die türkischen Staatsanwälte gegen eine Anzahl Gefangener, die angab, von der Polizei gefoltert worden zu sein. Sie sollen wegen"Beleidigung des Staates" nach Artikel 159 angeklagt werden.
Zwar soll die in Artikel 159 angedrohte Höchststrafe von sechs Jahren Haft mit der geplanten Reform halbiert werden; dafür fasst der jetzt dem Parlament zugeleitete Änderungsentwurf den Straftatbestand aber erheblich weiter. So könne in Zukunft bereits wegen"Verunglimpfung des Staates" angeklagt werden, wer eine verschmutzte Toilette in einem Ministerium bemängele, kritisiert ein westlicher Diplomat in Ankara. Und Journalisten, die etwa Unvorteilhaftes über Abgeordnete berichten, könnten sich Ermittlungen wegen"Beleidigung des Parlaments" ausgesetzt sehen, warnt die Turkish Daily News.
Auch Artikel 312 soll wesentlich ausgeweitet werden. Als Volksverhetzung gilt demnach künftig schon, dass eine Äußerung nur"die Möglichkeit einer Störung der öffentlichen Ordnung" heraufbeschwören könnte - ein Gummiparagraf, der den Gerichten fast jede Handhabe gegen missliebige Meinungsäußerungen gibt.
Vergeblich versuchte die mitregierende national-liberale Mutterlandspartei Anap, die Vorlagen zu entschärfen. Mit den Gesetzesänderungen bewege sich die Türkei nicht auf einen Rechtsstaat zu, sondern auf eine"despotische, totalitäre, autoritäre Staatsordnung", kritisiert Anap-Parteivize Erkan Mumcu. Auch in der Demokratischen-Linkspartei (DSP) von Ministerpräsident Bülent Ecevit gibt es erhebliche Bedenken gegen die Gesetzentwürfe.
Doch der dritte Koalitionspartner, die rechtsextremistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) bremst. MHP-Chef Bahceli, der auf den beziehungsreichen Vornamen Devlet (Staat) hört, will jede Liberalisierung verhindern."Für uns gehört das Propagieren von Separatismus und das Anstiften zum Aufruhr nicht zu den Freiheiten einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft", tönt Bahceli.
Mehrere Konferenzen der Koalitions-Spitzen brachten keine Einigung. Am Montagabend scheiterte auch der Versuch, den Streit im Nationalen Sicherheitsrat unter Beteiligung der Militärs beizulegen. EU-Diplomaten signalisieren der Regierung bereits, dass sie sich mit den Gesetzesänderungen in der vorliegenden Form eher von der EU weg als auf sie zu bewege. Premier Ecevit will Anfang der Woche in einem Koalitionsgespräch den Konflikt lösen. Aber MHP-Chef Bahceli bleibt bisher hart: Eine Reform, die die Artikel 312 und 159"praktisch ihres Inhalts entleert", sei mit seiner Partei nicht zu machen.
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