So allmählich breitet sich die Einsicht aus...
Aus der FTD vom 6.2.2002
Kommentar: Die Enronitis kann zur Pest werden
Von Lucas Zeise
Das neue Misstrauen der Anleger schadet dem US-Aktienmarkt mehr als die drohende Pleitewelle.
Enron ist kein Einzelfall - diese Erkenntnis greift um sich, und das Misstrauen der Anleger gegenüber den Unternehmen wächst. Dabei straft der Aktienmarkt die Guten und die Bösen gleichermaßen. Obwohl sich die viel zitierten Silberstreifen bereits am bewölkten Konjunkturhimmel abzeichnen, wackeln die Kurse. Selbst ein Gigant wie General Electric hat im Januar acht Prozent seiner Marktkapitalisierung eingebüßt. Am Montag rutschte sie dann um weitere fünf Prozent ab. Die Schwierigkeiten des amerikanischen Großkonzerns zeigen, dass selbst solche Unternehmen, die früher heilig gesprochen wurden, vom Misstrauen der Anleger nicht verschont bleiben.
Dahinter steckt jedoch mehr als die Erkenntnis der Investoren, dass Amerika eine Pleitewelle noch bevorsteht. Denn gemäß dem üblichen konjunkturellen Verlaufsmuster treten Insolvenzen erst in der Spätphase des Abschwungs auf. Erst wenn die Unternehmen ihre letzten Reserven ausgeschöpft haben, alle Finanzierungsalternativen ausgereizt sind und auch kein anderer Ausweg mehr erkennbar ist, treten sie den schweren Gang zum Konkursrichter an.
Keine Liquiditätsklemme
Den großen Pleiten von Enron, Kmart und Global Crossing werden andere folgen. Die Aktionäre dieser Unternehmen müssen in den meisten Fällen mit einem Totalverlust rechnen. Nicht minder hart wird es die Banken treffen: Sie werden die Kredite, die sie den Unternehmen gewährten, abschreiben müssen. Dabei wirkt das US-amerikanische Bankensystem derzeit sehr robust - was es nicht zuletzt der radikalen Politik der US-Notenbank zu verdanken hat. So können die amerikanischen Banken ihre Gewinne stark aufplustern, indem sie Zentralbankgeld zum Spottpreis von unter zwei Prozent einkaufen. Für die von ihnen vergebenen Kredite erhalten sie ein Vielfaches. Tatsächlich lagen die Bankergebnisse im Jahr 2001 in vielen Fällen über denen des Vorjahres - trotz hoher Abschreibungen und Wertberichtigungen auf nicht bediente Forderungen.
Der Finanzsektor bietet also wenig Grund zur Besorgnis. Er wird die Pleitewelle auch dann aushalten, wenn sie noch höher schwappt. Statt in einer Liquiditätsklemme steckt Amerika vielmehr in einer Vertrauensklemme. Noch heißt die Krankheit erst"Enronitis" und ist nicht mehr als eine leichte Entzündung. Die Krankheit ist aber hoch ansteckend, und zum Schluss könnte sich Enronitis als wahre Pest erweisen, die ganze Unternehmen dahinraffen und dem Aktienmarkt einen Dauerschaden zufügen könnte.
Denn was in der Periode unentwegt steigender Aktienkurse bis März 2000 niemanden störte, wird jetzt nicht mehr hingenommen. Die Anleger haben mittlerweile erkannt, dass in vielen Fällen Gewinne nicht regelwidrig, sondern ganz legal höher und Schulden niedriger gerechnet wurden und werden.
Doch wenn das Vertrauen in das Rechtssystem fehlt, kann der Markt nicht gedeihen. Das gilt für jeden Gemüsemarkt, noch mehr allerdings für Aktienmärkte. Schließlich werden dort keine Gegenstände gehandelt, die man durch Abtasten auf ihre Qualität hin prüfen könnte. Aktien sind Verträge, die lediglich einen Anspruch auf künftige Gewinne und Dividenden in Aussicht stellen. Gerade weil die Garantie über die Erträge der Zukunft fehlt, müssten die Käufer aber erwarten können, dass zumindest die der Vergangenheit richtig dargestellt werden. Müssen sie hingegen befürchten, dass sie systematisch belogen werden, ziehen sie sich zurück.
Alle Institutionen erfasst
Nun gibt es keine Bilanzwahrheit, sondern allenfalls eine Bilanzgestaltung. Gerade deshalb hält sich der Markt Analysten, damit sie die individuell gestalteten Bilanzen interpretieren. Der Fall Enron jedoch hat bewiesen, dass Bilanzgestaltung allzu oft bloße Kosmetik, die wirkliche Lage aber häufig schlechter ist als die dargestellte.
Besonders problematisch ist, dass sich das neue Misstrauen gegen alle Institutionen des US-Aktienmarktes richtet. Schuld daran tragen zum einen die Manager, die durch eine übertriebene Gewinndarstellung das eigene Aktienportefeuille wertvoller machen. Zum anderen sind auch die Investmentbanker nicht unschuldig. Sie basteln den Unternehmen nicht selten steuersparende Tochtergesellschaften, deren Kreditaufnahmen aber in den Bilanzen gar nicht auftauchen und damit unsichtbar werden.
Zu Recht werden derzeit die"allgemein akzeptierten Bilanzierungsregeln" (GAAP) in Frage gestellt, die derartige Bilanzierungstricks erlauben. Mitverantwortlich für das Misstrauen sind aber vor allem auch die von den Unternehmen bezahlten Rating-Agenturen. Oder die Wirtschaftsprüfer, die Bilanzen testieren, die kein Testat verdient haben. Schließlich richtet sich das Misstrauen der Anleger auch gegen die allmächtige US-Börsenaufsicht SEC. Ihr erster Präsident, Joseph Kennedy, Vater des späteren Präsidenten Jack und ein mit allen Wassern gewaschener Spekulant, hatte die SEC zu einer gefürchteten Behörde gemacht. Ihr jetziger Chef, Harvey Pitt, kann mit der Autorität seines Vorgängers nicht mithalten. Er setzt auf Selbstregulierung, wenn rigoroses Handeln gefragt ist.
Ohne eine durchgreifende Reform wird der Aktienmarkt aber nicht wieder auf die Beine kommen. Dann wird die Baisse zur chronischen Krankheit.
© 2002 Financial Times Deutschland
URL des Artikels: http://www.ftd.de/bm/bo/FTDT87P9BXC.html
E-Mail des Autors: zeise.lucas@ftd.de
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