"Wird die USA die Apokalypse treffen? - Im November dieses Jahres wird eine Weltwirtschaftskrise beginnen." So lautete am 24. Juli die aufsehenerregende Überschrift eines Artikels in der Zeitschrift Expert Weekly. Die beiden Autoren Oleg Grigorjew und Michail Chasin waren 1994-98 Wirtschaftsberater der Moskauer Regierung und sind heute unabhängige Berater. Interessanterweise rechnet man die beiden Autoren sowie auch das Magazin Expert dem"liberalen Wirtschaftslager" zu.
Zur sog."neuen Wirtschaft" und ihrer Beziehung zur Industrieproduktion erklären die beiden Autoren, die Wertpapierblase der Neuen Wirtschaft werde ein entscheidender Faktor bei der Auslösung des kommenden Zusammenbruchs werden. Anders als frühere technische Umwälzungen, welche die Produktivität und den Lebensstandard in der Realwirtschaft erhöht hätten, habe der neue Informationssektor bisher keinen bedeutenden Beitrag für die traditionelle Wirtschaft geleistet, wo es keinen deutlichen Anstieg der Arbeitsproduktivität oder der Profitraten gebe. Aber ein solcher Zustand"unterhöhlt die neue Wirtschaft selbst, weil er zu sehr einer Finanzpyramide ähnelt", deren Stabilität großenteils auf rein psychologischen Faktoren beruhe. Und der permanente, stetige Rückgang der Profitrate der alten Realwirtschaft - vor allem der Industrie - werde sich als Auslöser der kommenden Weltwirtschaftskrise erweisen.
Weiter heißt es:"Aber das rechtzeitige Wachstum der neuen Wirtschaft, das die überflüssigen Geldressourcen anzog, machte es möglich, das Phänomen der 20er Jahre - schnelles, praktisch inflationsfreies Wachstum - zu wiederholen und die Überhitzung um mindestens zehn weitere Jahre hinauszuzögern. Aber jetzt ist diese Zeit ebenfalls abgelaufen. Nach dem wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch Asiens 1997-98, so Chasin und Grigorjew weiter,"verblieben als einzige Möglichkeit, die Krise hinauszuschieben, nicht-wirtschaftliche Mechanismen wie die Aggression in Jugoslawien.
"Aus dem gigantischen Wachstum der,Blase' [in den USA] folgte unausweichlich ein beschleunigter Konsumanstieg. Die anhaltende Periode scheinbaren Wachstums und scheinbaren Erfolgs der neuen Wirtschaft führte bei der amerikanischen Bevölkerung zu einem Absinken der Sparrate, da ihre Ausgaben ebenso stiegen wie ihre Schulden. Mit dem Anstieg der Kreditzinsen rief dieser Prozeß unausweichlich Inflation hervor. Die ersten Anzeichen dafür wurden schon 1998 sichtbar, als die USA zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Haushaltsüberschuß erzielten. Aber dieser Prozeß spiegelte sich dank der gründlichen und kompetenten Bemühungen der [US-Notenbank] Federal Reserve lange Zeit nicht in den Warenpreisen. Aber 1999 konnte die Federal Reserve die Inflation nicht mehr eindämmen. Der kritische Punkt wurde im März-April 2000 erreicht. Dann hatte die Inflation in den USA, aufs Jahr gerechnet, das Ausmaß der durchschnittlichen Rentabilität der Industrieproduktion erreicht."
Die"psychologischen Turbulenzen" im Zusammenhang mit dem US-Präsidentschaftswahlkampf würden die Unsicherheit des Systems noch deutlich vergrößern. Es gebe zwei mögliche Szenarien."Zu dem ersten Szenario kommt es, wenn die amerikanische Finanzoligarchie die Kontrolle über die beiden großen Parteien behält. In diesem Fall wird vor den Wahlen nichts geschehen, aber unmittelbar danach wird die Wahrheit über die tatsächlicheLage notwendigerweise Anfang November in den Massenmedien erscheinen, wenn die Bilanzen der letzten beiden Quartale des Geschäftsjahres offengelegt werden; und dies wird wahrscheinlich einen Ausverkauf an Aktien von Industrieunternehmen auslösen. Zum zweiten Szenario käme es, wenn die Führung der Republikanischen Partei der USA relativ unabhängig von der Finanzoligarchie handelt und eine Beschleunigung der Krise provoziert - erstens, um den Sieg ihres Kandidaten sicherzustellen, und zweitens, um die Regierung Clinton zu zwingen, die Verantwortung für die ersten und unpopulärsten [aber unumgänglichen] Maßnahmen übernehmen zu müssen."
Ein Kollaps der US-Aktienmärkte werde dazu führen, daß"schätzungsweise zehn Billionen Dollar an Werten ausgelöscht werden. Die Liquidität, die die Investoren aus den am stärksten betroffenen Teilen der Wirtschaft noch abziehen können, wird man in langfristige Werte aller Art investieren. Dies wird zu einem enormen Preisanstieg bei Gold, anderen Edelmetallen, Immobilien und anderen dauerhaften Werten führen.
Unsere sehr vorläufigen Berechnungen gehen von einem Rückgang des weltweiten Verbrauchs um das eineinhalb- bis dreifache aus." Zur Stützung nationaler Industrien, die unter diesem Zusammenbruch der Investitionen unter Bedingungen des Zusammenbruchs vieler Finanzinstitute leiden, würden, so meinen die Autoren, viele Länder staatliche Kreditprogramme für die Industrie in Gang setzen.
"Wir glauben, daß die Entwicklung der Weltwirtschaft in den ersten Jahren nach der Krise durch die Zusammenarbeit von Schutzmechanismen für nationale Märkte definiert sein wird. Die Krise wird in der globalen wirtschaftlichen Arena bedeutende Veränderungen einführen. Die Schwächung der US-Wirtschaft, der schwerwiegende soziale Unordnung folgen kann, wird die Länder treffen, die einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens aus Verkäufen in die USA beziehen - in erster Linie Japan, China und Südostasien. Eine ernste Stagnation wird es auch in [West-]Europa geben - aber mit Hilfe einer Ausweitung des Euro wird Europa sich ein mächtiges Investitionspotential sichern, das sich zum Teil nach Lateinamerika wenden wird.
Nach der Zerstörung des WTO-Systems und der Wiedereinführung protektionistischer Mechanismen wird die Lage der Weltwirtschaft stark an das Bild der frühen 30er Jahre erinnern. Eine kleine Anzahl sehr großer Monopolkonzerne, ein System einer Vielzahl von Währungen, hohe Arbeitslosigkeit, der Anstieg sozialer Spannungen, Inflation und Stagnation - das sind die Kennzeichen der weltweiten wirtschaftlichen Realität im frühen 21. Jahrhundert."
Abschließend betonen die Autoren, daß für diese Perspektive - wenn die russische Führung sie unter ausreichender Berücksichtigung des Zeitfaktors nutzt - ein wirtschaftlich starker westlicher Partner notwendig sei, und erwähnen in diesem Zusammenhang besonders Deutschland.
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