EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes hat es nicht leicht in diesen Tagen, es der Bundesregierung recht zu machen. Seit dem Gezerre um den blauen Brief für Deutschland fühlt sich Bundeskanzler Gerhard Schröder von Solbes und seinen Kommissarkollegen notorisch gepiesackt.Â
Nun hat der EU-Kommissar seine Experten untersuchen lassen, warum Deutschland bei Wachstum und Beschäftigung im europäischen Vergleich seit Jahren hinterherhinkt. In einer 130-seitigen Expertise - Titel:"Germany's Growth Performance in the 1990s" - kommen die EU-Beamten zu erstaunlichen Ergebnissen.Â
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Danach ist die anhaltende Wachstumsschwäche Deutschlands vor allem auf die Folgen der Wiedervereinigung zurückzuführen. Strukturelle Probleme, wie zum Beispiel der starre Arbeitsmarkt oder ein undurchsichtiges Steuersystem, vor allem von deutschen Wissenschaftlern immer wieder beklagt, fallen weniger ins Gewicht als bisher angenommen.Â
Solbes' Experten haben den Rückstand Deutschlands in den Jahren 1996 bis 2000 detailliert nach seinen Ursachen aufgeschlüsselt und beziffert. So sei ein Drittel des Wachstumsverlusts auf die finanziellen Transfers in den Osten zurückzuführen.Â
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<font color="#0000FF">Eigener Kommentar: Das wäre auch eine gelungene Gelegenheit, auf die ungerechten finanziellen Transfers Deutschlands an die anderen EU-Staaten hinzuweisen! Aber das ist für eine EU-Kommission wohl zu viel verlangt.</font>Â
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Denn drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts, rund 60 Milliarden Euro, lenkt Deutschland jährlich als Aufbauhilfe in die neuen Länder. Ohne diese Aufgaben wären Steuer- und Abgabenbelastung viel niedriger.Â
Die Folge: Die Wirtschaft könnte schneller wachsen, weil die Unternehmen mehr Geld hätten, um zu investieren, und die Verbraucher mehr Geld, um zu konsumieren. Diese Sonderlast habe seit Beginn der neunziger Jahre eine"negative Auswirkung auf das Wachstum von jährlich 0,3 Prozent gehabt", schreiben die Experten des EU-Kommissars.Â
Ein weiteres Drittel der Wachstumslücke führen sie auf die Krise der Bauindustrie zurück, wiederum eine direkte Folge der Wiedervereinigung. Großzügige Abschreibungsmodelle und üppige Subventionen hatten den Bausektor nach der Wiedervereinigung vor allem im Osten künstlich aufgebläht.Â
Seit die Vergünstigungen Ende der neunziger Jahre weggefallen sind, schrumpft die Branche Jahr für Jahr. Ohne die Krise am Bau, so die EU-Expertise, würde das deutsche Wachstum jährlich um mindestens 0,3 Prozent höher ausfallen. Damit stützt die EU-Kommission eine Argumentation, die auch Finanzminister Hans Eichel bei jeder Debatte um Deutschlands Schlusslichtposition stets vorträgt.Â
Für zwei Drittel der deutschen Wachstumsschwäche ist nach Erkenntnissen der EU-Experten also hauptsächlich die Wiedervereinigung verantwortlich. Die Schröder-Regierung treffe dafür keine Schuld, heißt es in der Kommission. Mehr noch: Sie könne kurzfristig auch nichts ändern.Â
Trotz solcher Teilentlastung kommt die Studie Schröder alles andere als gelegen. Die häufig beklagten strukturellen Verwerfungen tragen, so die Solbes-Experten, zu einem - dem letzten - Drittel des Wachstumsausfalls bei. Die Gütermärkte in Deutschland funktionierten zwar vergleichsweise reibungslos, dennoch gebe es auch hier noch genügend zu tun: von der weiteren Liberalisierung auf den Märkten für Telekommunikation, Post und Energie bis hin zur Abschaffung des Ladenschlusses. Auch sollte die Kinderbetreuung besser und preiswerter werden, damit Frauen einfacher einer Arbeit nachgehen könnten.Â
Doch vor allem der deutsche Arbeitsmarkt bereitet den Solbes-Leuten Sorgen. Er zeige im europäischen Vergleich"eine schwache Entwicklung". Ursache dafür sei vor allem, dassÂ
die Löhne schneller gestiegen seien als die Produktivität, besonders im Niedriglohnbereich;Â
Lohnersatzleistungen zu hoch ausfielen und zu lang gezahlt würden, zudem die Belastung mit Steuern und Sozialabgaben schon auf geringe Verdienste zu hoch seien, so dass sich für bestimmte Lohngruppen die Arbeitsaufnahme nicht mehr lohne;Â
dem deutschen Arbeitsmarkt generell Flexibilität und Mobilität fehle.Â
Weil die Regierung die Folgen der Wiedervereinigung nur hinnehmen kann und abwarten muss, bis sich die Lage am Bau wieder normalisiert hat, beschränken die Kommissionsexperten ihre Reformvorschläge darauf, die strukturellen Fehlentwicklungen zu beseitigen.Â
Ihre vordringlichste Mahnung:"Ohne weit reichende Reformen auf dem Arbeitsmarkt könnte der Wachstumsunterschied auf mittlere Sicht signifikant bleiben." Passiere nichts, werde Deutschland in den nächsten fünf Jahren nur um 2 Prozent jährlich wachsen, der Rest der Euro-Zone hingegen um 2,75 Prozent.Â
Genau diese Botschaft fürchtet Schröders Regierungsriege: Nur zu gern will sie vor der Bundestagswahl vermeiden, dass die, vor allem bei den Traditionstruppen der SPD und den Gewerkschaften, umstrittene Debatte um Reformen am Arbeitsmarkt neuen Auftrieb erhält oder die Schlusslichtdebatte wieder aufflackert.Â
Auf die empfindsamen Deutschen will Solbes, wie gewohnt, keine Rücksicht nehmen. Einen Termin für die Veröffentlichung des Berichts hat er noch nicht gefunden. Vielleicht legt er ihn schon im Sommer vor, vielleicht auch erst im Herbst - nach der Bundestagswahl.
<ul> ~ http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,191739,00.html</ul>
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