http://www.multiple-sklerose-e-v.de/klima.htm
Zur Klimatherapie der Multiplen Sklerose
Heinrich Hiltermann
In den letzten zusammenfassenden Abhandlungen über die Encephalomyelitis disseminata oder Multiple Sklerose (MS) wird der Epidemiologie auffallend breiter Raum zugestanden (5, 6). So ergibt z. B. auch die Zusammenfassung der in deutscher Sprache zugänglichen Schrift des Office of Health Economics (6) für 71 Gebiete in 27 Ländern für die nördliche Hemisphäre folgendes Verteilungsmuster:
Schema 1
Krankheitsfälle auf 100000 Einwohner
60 - 65°
Breite
68
50 - 59°
Breite
70
40 - 49°
33
30 - 39°
6
bei 20°
2
bei 18°
2
bei 9°
0
Eine grundsätzlich ähnliche, wenn auch weniger eindrückliche Gesetzmäßigkeit zeigt auch die südliche Hemisphäre.
Diese auffällige geographische Verteilung der Multiplen Sklerose ist eine der auffallendsten und möglicherweise bedeutendsten Momente bei dieser Krankheit (6).
Nun ist es natürlich nicht sinnvoll, obige relative Zahlenwerte direkt auf eine spezielle Region zu übertragen. Einzelne Gebiete für sich genommen, können sogar davon erhebliche Abweichungen zeigen. Denn die geographische Breitenlage allein bestimmt nicht das Klima. Hier spielen die Höhe über NN, die Entfernung vom Meer und die Lagebeziehung zu Höhe und Form umgebender Berge eine entscheidende Rolle. Dazu kommen für biomedizinische Fragen noch die Dichte der Besiedlung und die Bewaldung.
Als zuverlässiger Indikator für das in einem bestimmten Gebiet vorherrschende Klima hat sich die Pflanzenwelt erwiesen. Aus diesem Grunde erfaßte der Hohenheimer Geobotaniker WALTER (8, 9) in 40jähriger Arbeit die Floren-Reiche aller Klimazonen der Welt und stellte sie in etwa 8000 ökologischen Klima-Diagrammen dar. Nachfolgend soll versucht werden, dieses einmalige, von ihm und H. LIETH herausgegebene Kartenwerk den Fragen einer Klima-Beeinflussung der MS zugrunde zu legen. (Ich bin Professor WALTER für Kritik und wichtige Hinweise zu großem Dank verpflichtet.)
Das Klima ist das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener meteorologischer Faktoren. Erst die Integration der meßbaren Daten ermöglicht deren Anwendung für biomedizinische Fragen. H. WALTER fand als günstigste Darstellung ein Diagramm, worin Temperatur und Niederschläge mit gleichen Maßeinheiten in einer einzigen Tabelle graphisch dargestellt werden. So bietet er 20 verschiedene meteorologische Daten an (9), die man seinen Diagrammen entnehmen kann. Diese Zahl läßt sich für bestimmte Fragestellungen noch erweitern.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen scheinen für die MS-Epidemiologie folgende Daten brauchbar zu sein:
1. Die mittlere Jahres-Temperatur
2. Die Zahl der"mäßig warmen Tage", d. h. der Tage mit einer mittleren relativen Tages-Temperatur über 10°C
3. Die Zahl der"warmen Tage", d. h. der Tage mit einer mittleren relativen Tages-Temperatur über 20°C
4. Die Wochenzahl einer relativ regenarmen Zeit, hier vereinfachend benannt als"Dürrezeit" und
5. die Wochenzahl einer relativ"humiden Zeit"
In den als Beispiel in Abb. 1 wiedergegebenen ökologischen Klima-Diagrammen von WALTER und LIETH (8) steht die mittlere Jahres-Temperatur oben rechts. Die Zahl der"mäßig warmen" und"warmen" Tage wird durch die Länge der Linien in Höhe der beiden untersten Maßeinheiten gegeben, das sind
20°C (40 mm)
10°C (20 mm)
Die Länge der relativen"Dürrezeit" (punkfierte Fläche) und der relativen"humiden Zeit" (senkrecht schraffierte Fläche) läßt sich auf der in 12 Monate geteilten Basislinie ablesen. Wenn die mittleren monatlichen Niederschläge 100 mm überschreiten, z. B. bei LERWICK, so werden sie in einem auf 1/10 reduzierten Maßstab auf die schraffierte Fläche aufgesetzt. Die Zahl oben rechts gibt die mittlere jährliche Niederschlagsmenge in Millimetern an. Die dünne, nach oben
ausgebeulte Kurvenlinie stellt die mittleren Monats-Temperaturen dar, wobei ein Skalenteil = 10 'C ist. Die etwas dickere, meist unregelmäßig gezackte Kurvenlinie gibt die mittleren monatlichen Niederschläge wieder (1 Skalenteil = 20 mm Niederschlag). Die schwarzen und die breit gestreiften schmalen Rechtecke unter der Basislinie und die links daneben stehenden Zahlen repräsentieren die Zeiten mit Temperaturen unter O°C.
Unter Benutzung der in den ökologischen Klimadiagrammen von WALTER und LIETH (8) gegebenen Daten wurde Tabelle 1 aufgestellt, die für 20 Städte, für jeden Ort getrennt, 5 Meßdaten angibt.
Krankh.
Jahres-
mittl.Tag.-Temp.
Dürre
humide
Fälle
temp.
>10°C
>20°C
zeit
Zeit
Tage
Tage
Wochen
Wochen
129
Lerwick / Shetlands
7,1°C
96
0
0
52
120
Göteborg / Schweden
7,7°C
141
0
0
52
87
Prag
9,2°C
155
0
0
52
85
Berlin-Dahlem
8,4°C
110
0
0
52
82
Carlisle-Dumfries/ Engl.
8,6°C
140
0
0
52
80
Dublin / Irland
9,4°C
155
0
0
52
74
Köln
10,2°C
162
0
0
52
72
Hvanneyer / Island
2,9°C
36
0
0
52
70
Zürich
7,9°C
158
0
0
52
64
Vestervig / Dänemark
2,5°C
138
0
0
52
Durchschnittszahlen
8,3°C
129
0
0
52
4
Istanbul / Marmara
13,6°C
225
80
46
6
3
Port St. Jones / S.-Afrika
20,0°C
365
210
0
52
2
Fokuoka / Japan
14,9°C
200
110
0
52
2
Mexico City
15,6°C
365
0
47
5
2
Nidge / Anatolien
11,7°C
200
80
18
34
0
Florenz
14,4°C
250
105
8
44
0
Cannes
15,6°C
280
100
10
42
0
Barcelona
16,0°C
350
110
8
44
0
Puerto de Orotava /Ten.
19,7°C
365
180
28
24
0
St. Cruz de Tenerife
20,9°C
365
210
30
22
Durchschnittszahlen
18,2°C
297
119
20
33
Tab. 1
Mittlere Jahres- und Tages-Temperaturen und trockene und feuchte Zeiten von 20 Orten, von denen WALTER & LIETH Klimadiagramme publizierten. Die Zahlen vor den Ortsnamen geben die festgestellten Erkrankungen je 100.000 Einwohner (Office of Health Economics, 1977)
Oben: Orte der häufigsten MS-Erkrankungen
Unten: Orte besonders seltener und fehlender MS-Erkrankungen
Hiernach erweist sich"mäßig warmes" Klima und eine mittlere relative Jahres-Temperatur von 16,2°C mit 297"mäßig warmen" und 119"warmen" Tagen als günstig für Patienten mit einer Multiplen Sklerose.
Die größte Häufigkeit an Krankheitsfällen ist dort gegeben, wo ein extrem ozeanisches kühles Klima herrscht mit einer mittleren Jahres-Temperatur von nur 8,3°C und mittleren Tages-Temperaturen, die unter 20°C liegen.
In vereinfachter Form lassen sich diese Werte für das Auftreten der MS auch wie folgt darstellen:
Mit den derzeitig verfügbaren Unterlagen kann die Höhe der ÄquivalenzTemperatur (1, 2) noch nicht für die hier behandelten Fragen angewandt werden.
Günstiges Klima
ungünstiges Klima
Mittlere Jahres-Temperatur
+/- 16,2°C
+/- 8,3°C
"mäßig warme Tage", d.h. relative mittlere Tages-Temperatur > 10°C
+/- 297 Tage
+/- 129 Tage
"warme Tage", d.h. relative mittlere Tages-Temperatur > 20°C
+/- 119 Tage
fehlen
"Dürrezeit"
+/- 20 Wochen
fehlt
"humide Zeit"
+/- 33 Wochen
ständig
Schema 2
Zusammenstellung der in Tab. 1 gegebenen Durchschnittszahlen
Um 1960 machte der selber an einer Encephalomyelitis disseminata erkrankte schwedische Tierarzt Dr. RYLANDER die Erfahrung, daß sein Leiden durch das Schonklima von Los Cristianos am Südrand von Tenerife positiv beeinflußt wurde, was zur Gründung der Casa sueca und des nachfolgenden MS-Sanatoriums Wintersol mit etwa 50 Betten führte. Seine Erfahrungen sind seither in Los Cristianos von ungezählten Kranken bestätigt worden. Leider liegen von dort bis jetzt kaum meteorologische Beobachtungen vor. Nach HUETZ und LEMPS (3) weicht das dortige Klima erheblich von dem für Tenerife bekanntesten Erholungsgebietes um Puerto ab. Die Bedeutung dieser unterschiedlichen Klima-Regionen zeigen die grundsätzlich verschiedenen Vegetationszonen, die von dem fruchtbaren Orotava-Tal über den Lorbeerwald bis zu der Halbwüste des Südostens der Insel reichen. Einwandfreie Unterlagen hierfür gibt die Pflanzensoziologie und -phänologie, die von Prof. Wolfredo WILDPRET de la TORE an der Universität von La Laguna vertreten wird.
Nach alldem hat nur ein sehr schmaler Küstenstreifen beiderseits von Los Cristianos ein wirklich ausgeglichenes Klima. Die übrigen Gebiete sind den täglichen Passatwinden stärker ausgesetzt, deren Wirkung bei Los Cristianos reduziert und gesteuert wird durch die kleineren Vulkanberge, die den Ort im Westen, Norden und Osten umgeben. Nebelbildungen und Abfall der Temperatur fehlen. Die vom Anaga-Gebirge über den Teide (3718 m) bis zum Teno-Gebirge ziehenden Vulkanberge bilden eine wirksame Wetterscheide. Nur im Süden kann sich der Einfluß des Anti-Passates und trockener, aus Afrika kommender Winde auswirken. Aber auch diese werden hier durch die aufsteigende Meeres-Feuchtigkeit abgeschwächt. Das gilt ebenso für die Sonnenstrahlung, die infolge der niedrigen Breitenlage von 28°N langfristig auf den Organismus einwirkt und nur eine relativ dünne Luftschicht zu durchdringen hat.
Wie E. OBERDORFER (7) zeigen konnte. liegen von vegetationskundlicher Seite aus sichere Unterlagen für die Beurteilung der bioklimatischen Sonderstellung des Gebietes um Los Cristianos vor. Zollikoferia (Launacea) spinosa ist hier die Chara kterpflanze einer Pflanzengesellschaft, begleitet von Zygophylium fontanesii und Su aeda vermiculata. Die Böden dieser"nordafrikanischen Halbwüste" sind überwiegend offen und vegetationslos. Hier in der Zollikoferia-Halbwüste ist zweifellos ein einschneidender Klima-Schwellenwert erreicht, der wüstenhafte Bedingungen auslöst (7)
Zusammenfassend kann man für Multiple Sklerose-Kranke als günstigste klimatische Faktoren bezeichnen:
1. Beständige, wärmere Temperaturen mit geringer Abkühlungsgröße
2. Fehlen von tropischer Hitze und Wärmestau
3. Vermehrte, aber nicht zu intensive Sonnenstrahlung
4. Zurücktreten von kühleren Regenzeiten und wahrscheinlich auch
Fehlen von längeren Frostperioden
Die Wintersonne von Los Cristianos wird von vielen MS-Kranken als wohltuend, ja sogar helfend empfunden. Es könnte sich hierbei um die Hypophysen-Stimulation zur natürlichen Bildung von ACTH und damit der Kortikoide der Nebennierenrinde handeln.
Aus diesem Grunde wäre zu wünschen, die dortigen Möglichkeiten aus neurologisch-biometeorologischer Sicht zu prüfen und ggf. zu nutzen, zumal es sich bei der Encephalomyetis disseminata um ein Leiden handelt, für das kaum geeignete therapeutische Hilfen zur Verfügung stehen.
Literaturverzeichnis
1 - FAUST, V.: Biometeorologie, 2. Auft., Hippokrates Verlag, Stuttgart, 1978
2. HARLFINGER, O.: Vergleichende Untersuchungen der physiologischen Wärmebelastung zwischen Mitteleuropa und den Mittelmeerländem
Arch. Meteorol. Geoph. Bioklimat. 23, H. 1-2
3. HUETZ DE LEMPS, A.: Le climat des Iles Canaries
Publ. Fac. Let. Sc. Hum. Paris - Sorbonne, Ser. Recher. 54
4. LANDSBERG, H. E.: Die Verteilung der Sonnen- und Himmelsstrahlung auf der Erde (in) LANDSBERG et al.: Weltkarten zur Klimakunde, 1963, 5-6 Springer, Heidelberg, 1963
5. Mc ALPINE et al.: Multiple Sklerosis
2. ed., Livingstone, 1972
6. Multipie Sklerose: Hrsg. vom Office of Health Economics
Dt. Übersetzung von Gabriele KEPPLER,1. Aufl., Schattauer, Stuttgart, 1977
7. OBERDORFER, E.: Pflanzensoziologische Studien auf Teneriffa und Gomera (Kanarische Inseln)
Beitr. naturk. Forsch. SW-Deutschlands, 24, 47-104, Karlsruhe, 1965
8. WALTER, H. und LIETH, H.: Klimadiagramm-Weitatlas, Jena,1960-1967
9. WALTER, H.: Vegetationszonen und Klima, 3. Aufl., Univ. Taschenbücher 14, Ulmer, Stuttgart, 1977
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. phil. nat. Heinrich Hiltermann
wiss. Direktor a. D. der Bundesanstalt für Bodenforschung Hannover
apl. Professor der Universität Göttingen
D 49196 Bad Laer
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