Aus dem Profil, für Leser dieses Forums zwar nichts Neues, aber eine schwungvolle Zusammenfassung.
American Blues
Martin Kilian über ein Land, in dem Paranoia herrscht und alles Übrige aus dem Lot geraten ist.
Howard Kurtz, Medienkritiker der"Washington Post", erschrak neulich beim Lesen amerikanischer Zeitungen: Überall im Blätterwald grassierte Schwarzmalerei, düster bis dunkel präsentierte sich die Lage der Nation.
Nicht einmal drei Jahre ist es her, dass Bill Clintons Vereinigte Staaten die Welt zum Staunen brachten: Ein Boom sondergleichen fegte durchs Land, mit Mikrochips für alles und alle. Neidisch blickte Europa auf Amerika, das dem Rest der Welt davonzusausen schien. Auf den Straßen lag vermeintlich Gold, hinter jeder Ecke lugte das Glück hervor, und Washington leistete sich sogar die Boudoir-Komödie um eine Praktikantin als Entertainment-Einlage.
Rock?n? Roll, Baby!, lautete die Parole, und wer am ewigen amerikanischen Wohlbefinden zweifelte, entlarvte sich als sauertöpfischer Spielverderber.
Und nun? Alles futsch. Der Unabhängigkeitstag am 4. Juli, normalerweise ein Fest unangekränkelten Selbstbewusstseins, geriet heuer zum verkrampften Pflichtprogramm, dessen wichtigstes Ziel darin bestand, dass keine Katastrophe passieren durfte. Die Schießerei am Flughafen von Los Angeles bestätigte alle Ängste. Selbstzweifel drücken auf die Stimmung, eine Vertrauenskrise löst die andere ab, Paranoia und Gaga allenthalben.
Dass die lustigen Neunziger des Glamour-Prinzen Bill Clinton implodiert waren, konnte zuerst an amerikanischen Börsen, allen voran dem Technologie-Index Nasdaq, abgelesen werden. Wie missratene Soufflés sackten die Maschinerien schnellen Geldes zusammen und begruben die Reputation von Geldgurus, die Reichtum für alle vorhergesagt hatten.
Dann erschütterten die Massenmorde in New York und Washington den Glauben an die amerikanische Unverletzbarkeit. Und nun singt die"unverzichtbare Nation", so Madeleine Albright über die Vereinigten Staaten, den Blues. Ausgerechnet das liebste amerikanische Vorzeigeobjekt, die Wirtschaft, taumelt von einem Skandal zum nächsten, ein Opfer raffgieriger Manager, blinder Bilanzprüfer und eines Systems, das zunehmend einem Go-go-Kasino ähnelte."Kann der Kapitalismus die Kapitalisten überleben?", fragte bang die"New York Times" angesichts des Debakels.
Obschon die Konjunktur anzieht, bröckeln die Indizes, fällt der einst allmächtige Dollar und staunt die Nation, mit welch krimineller Energie die Nieten in den Vorstandsetagen zulangten. Enron, Worldcom und so weiter: Die Investoren gingen baden, während
Insider den Zaster durch Hintertüren raustrugen. Und obendrein verlor die Nation ihr liebstes Rollenmodell: der Vorstandsvorsitzende als Helfer der Menschheit, ein Ehrenmann, der brav und lauter die Vermögen seiner Aktionäre mehrte und dafür mit stratosphärischem Einkommen belohnt wurde.
Der Zorn
"Ich bin außer mir über das, was ich höre", bejammerte Harvey Pitt, der Chef der Börsenaufsicht, den Niedergang der Sitten. Von weiter oben ließ sich der Präsident vernehmen und drohte den Sündern"Konsequenzen" an. Noch macht die amerikanische Vertrauenskrise vor George W. Bush Halt; explodieren weitere Bilanzen und verliert der Populus noch mehr Geld, wird auch den Präsidenten, der stets auf Wirtschaftsnähe setzte, irgendwann der Zorn der Geprellten treffen.
Versagen allerorten: bei FBI und CIA, die den zahlreichen Hinweisen auf die September-Terrortaten nicht gefolgt waren; in der katholischen Kirche, wo säumige Bischöfe tatenlos zusahen, wie Priester in einem obszönen Päderastensumpf wateten; im Justizministerium, dessen Chef, der fromme John Ashcroft, die Nation mit halbgaren Terrorwarnungen und apokalyptischen Szenarien überschüttete, bis die Gewarnten schließlich mit den Schultern zuckten und das Geschrei als Hintergrundgeräusch der neuen Zeit schlicht überhörten.
Während das Vertrauen in wichtige Institutionen von Woche zu Woche weiter erschüttert wurde, lieferte Washington allerlei Surreales: einen Krieg ohne Ende, gefochten an allen vier Ecken der Welt und notfalls im Alleingang, die Aussicht auf Präventivkriege und Erstschläge, dazu profunde Attacken auf die Bürgerrechte sowie neue Schuldenberge, weil trotz endlosem Krieg und allgemeinem Notstand der Präsident und seine Wasserträger im Kongress auf ihren erstaunlichen Steuersenkungen für das reichste Segment der amerikanischen Gesellschaft beharrten.
Es kam noch schlimmer: Just, da Patriotismus und der liebe Gott in aller Munde waren, wagte es ein Bundesgericht? im liberalen San Francisco selbstverständlich!? Gott und Vaterland gleichermaßen zu beleidigen. Die Worte"unter Gott" als Teil des in
den Schulen aufzusagenden nationalen Gelübdes seien verfassungswidrig und mithin zu streichen, befand eine Richtermehrheit? und löste damit einen nationalen Freak-out der Extraklasse aus."Einfach verrückt" sei der Urteilsspruch, blaffte Tom Daschle, der demokratische Mehrheitsführer im Senat? eine milde Reaktion im Vergleich zum Tsunami der Entrüstung, der von Küste zu Küste rollte.
Eiligst verdammte George W. Bush das Urteil, im Kongress wallten erst recht die Gemüter, und konservative Fundi-Christen hatten es ja schon immer gewusst: Feinde Gottes sprachen Recht! Kaum war der Donnerschlag aus Kalifornien verhallt, begann auf der rechten Flanke der Republikanischen Partei das Geldsammeln: Spenden gegen alles Gottlose, gegen Verfassungspuristen, die ja nur auf der vorgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat beharrten, gegen Querulanten unter dem Banner des"säkularen Humanismus".
Apokalypse
Jenem Viertel der Amerikaner, das laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Nachrichtenmagazins"Time" glaubt, die Offenbarung des Johannes werde sich inklusive Armageddon und Apokalypse bald erfüllen, dürfte der Richterspruch aus San Francisco gehörigen Schub verliehen haben: Der Antichrist naht! In Washington bescherte die Regierung Bush den Endzeitlern, die überzeugt sind, Jesus werde nur wiederkehren, wenn sich das gesamte Heilige Land in jüdischem Besitz befindet, zusätzlich Grund zur Freude: Im 18. Entwurf seiner lang erwarteten Rede zum Nahostkonflikt sprach der Präsident ein Machtwort und stellte den Palästinensern einen"provisorischen" Staat in Aussicht? wenn sie nur bei den Wahlen im Januar den verknöcherten, korrupten und vor allem unbotmäßigen Yassir Arafat abwählten. Damit scheint sicher, dass der Korrupte und Unbotmäßige mittels eines Erdrutschsiegs erneut zur Macht gelangt. Dass Bush, der Meister schwarzweißer Kontraste, schon wieder die Grauzone politischer Realität penibel vermieden hatte, erstaunte allerdings niemanden mehr.
Die Angst
Zu Hause drohte unterdessen ein weiteres Denkmal vom Sockel zu fallen: Martha Stewart, die Haushälterin der Nation, deren Kitsch und Plunder amerikanische Stuben und Küchen, Wohnzimmer und Bäder ziert, geriet in den Verdacht, Insider-Handel mit Aktien betrieben zu haben. Als wäre das Leben dieser Tage nicht beschwerlich genug, war Stewart im Fernsehen ausnahmsweise nicht beim Backen oder Dekorieren zu besichtigen, sondern bei der zögernden Beantwortung kniffliger Fragen zu belangbaren Vorgängen? einmal mehr Beweis, wie sehr die Dinge aus dem Lot geraten waren.
Noch immer sank der Dollar, die staatliche Eisenbahn Amtrak fuhr weiter geradeaus in die Pleite, der wachsenden Schar amerikanischer Superfetter drohten die Fluglinien, fortan zwei Tickets zahlen zu müssen, und in Wimbledon schied der letzte amerikanische Spieler vorzeitig aus. Was Wunder, dass das diffuse Gefühl um sich greift, die Vereinigten Staaten bewegten sich in die falsche Richtung.
"Die einzige Sache, die wir fürchten müssen, ist die Furcht", hatte Franklin Roosevelt seine Landsleute mitten in der großen Depression zu beruhigen versucht. Amerika habe seine"besten Zeiten vor sich", reagierte Ronald Reagan in einer charmanten Endlosschleife auf die Malaise der Carter-Ära.
Man wartet auf eine ähnliche Aufmunterung von George W. Bush. Allein: Statt Zuspruch kommt vor allem Kriegsgeschrei. Niemand, so Bushs Strategie, möchte schließlich 2004 mitten im Krieg den Feldherrn auswechseln.
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