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Artikel 4: Zeit-Fragen Nr. 33 vom 12. 8. 2002
Angriffskrieg als Ordnungsprinzip
Hinter der US-Militärpolitik steht die US-Wirtschaftspolitik
von Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes
Am 2. Juni verlangte Präsident Georg W. Bush in einer programmatischen Rede vor Absolventen der US-Militärakademie West Point, «jederzeit bereit zu sein, um ohne Zeitverlust in jeder dunklen Ecke der Welt zuschlagen zu können. Unsere Sicherheit verlangt von allen Amerikanern, resolut nach vorn zu schauen und bereit für präventive Schläge zu sein, wann immer das notwendig ist, um unsere Freiheit und unser Leben zu verteidigen». «Der Krieg gegen den Terror wird nicht in der Defensive gewonnen», so der US-Präsident, «wir müssen die Schlacht auf dem Boden der Feinde führen, ihre Pläne vereiteln und den schlimmsten Bedrohungen begegnen, bevor sie auftauchen.» Diesen Worten lassen derzeit verschiedene US-Militärstrategen Taten folgen.
Am 17. Juli veröffentlichte die «Los Angeles Times» Auszüge aus den neuesten Richtlinien zur Verteidigungsplanung (Defense Plannig Guidance) für die Jahre 2004-2009. Bisher gingen die US-Militärplanungen davon aus, zwei grosse Kriege an unterschiedlichen Orten gleichzeitig führen zu können; mit dem neuen Dokument wird erstmals betont, an jedem Ort der Welt «die Initiative zu ergreifen» und mit «nicht erwarteten Angriffen» Gegner künftig zu überraschen.
Die Geschwindigkeit, mit der die US-Führung künftige Angriffskriege als neue Art der Ordnungspolitik umsetzt, scheint derzeit Freunde (falls - von Tony Blair einmal abgesehen - überhaupt noch vorhanden) wie Feinde gleichermassen zu überraschen und zu lähmen.
Die neue Aufteilung der Welt unter US-Kommandos
Am 1. Oktober bereits wird die Welt neu aufgeteilt. Es wird zum ersten Mal in der Geschichte keinen Winkel der Erde mehr geben, der nicht unter einem der nationalen Militäroberkommandos der USA steht. Für die Verteidigung Nordamerikas wird ein militärisches Oberkommando (Northcom) völlig neu eingerichtet. Die Zuständigkeit des Oberkommandos Europa (Eucom), dem bereits jetzt der grösste Teil Afrikas untersteht, wird künftig erstmals auch den ehemaligen Konkurrenten Russland umfassen, zum Pazifischen Oberkommando (Pacom) kommt die Antarktis hinzu. Unverändert bleiben die Zuständigkeiten für Mittel- und Südamerika (Southcom) sowie für Nordostafrika, Persischer Golf, Zentralasien und Pakistan (Centcom).
Wie Otfried Nassauer in der «Frankfurter Rundschau»-Dokumentation am 15. Juli ausführlich dargelegt hat, entsteht am 1. Oktober ein neues militärisches US-Machtzentrum, «ein Oberkommando, dem Frühwarnsysteme und Satelliten, Raketenabwehrsysteme und strategische Angriffsraketen, strategische Mittel für konventionelle und nukleare Angriffsoptionen unterstellt werden. Washington plant eine integrierte Kommandozentrale für - auch präventive - strategische Angriffe, strategische Vergeltungsangriffe und strategische Verteidigung.»
Bereits Ende Juni fällte die US-Regierung die weitreichende Entscheidung, die beiden eh schon jede für sich sehr mächtigen Oberkommandos für den Weltraum (Spacecom) und das der Strategischen Streitkräfte (Stratcom) in einer einzigen Behörde auf der Offut Air Force Base in Nebraska zusammenzuführen. «Mit dem neuen strategischen Oberkommando wird einer der entscheidenden und umstrittenen Grundgedanken der jüngsten Überprüfung der Nuklearstrategie und -streitkräfte der USA, des Nuclear Posture Review, erstmals umgesetzt. Defensive und offensive Elemente werden ebenso integriert wie konventionelle und nukleare Angriffsoptionen. [...] Vereinfacht: Washington will zuschlagen können, bevor es getroffen wurde. [...] Besondere Besorgnis ruft auch die Tatsache hervor, dass präventive nukleare Angriffe nicht ausgeschlossen werden. Das Argument: Viele potentielle Ziele, äusserst tief unter der Erde oder in Gebirgen gelegene Bunker zum Beispiel, könnten mit konventionellen Waffen nicht gesichert zerstört werden.» (O. Nassauer, «Frankfurter Rundschau», 15.7.2002)
Als einer der ersten wies Herbert Kremp am 27. Februar in der «Welt» darauf hin: «Die Bush-Doktrin wird sich in ihrer Entwicklung nicht auf die Beseitigung der terroristischen Untergrundmächte und ihrer Helfer beschränken. Ihre konsequente Verfolgung impliziert die Ausweitung in drei Richtungen:
Kontrolle der vorder- und zentralasiatischen Transferstaaten vom Kaukasus bis zum Hindukusch;
Verhinderung der islamistischen Machtergreifung in Saudi-Arabien;
Konzentration des Interesses auf den Iran, Indien und China, wo neue Macht-Agglomerationen entstehen.» Kremp bescheinigte der Bush-Doktrin: «Sie diktiert einen Verhaltenskodex am Rande der Unterwerfung.»
Hinter der US-Militärpolitik steht die US-Wirtschaftspolitik: «Wenn der irakische Diktator Saddam Hussein wissen will, wie lange er voraussichtlich noch an der Macht sein wird, dann muss er dreierlei im Auge behalten: amerikanische Meinungsumfragen, die Kurse an der Wall Street und den Sitzungskalender von Senat und Repräsentantenhaus: Denn US-Präsident George Bush wird seinen immer wieder angekündigten Angriff auf Bagdad letztlich von innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Faktoren abhängig machen», begann Wolfgang Koydl seinen Artikel «Bereit fürs Abenteuer in Bagdad». («Süddeutsche Zeitung», 19.7.2002)
Nach Enron- und Worldcom-Konkursen stehen Vizepräsident Cheney als ehemaliger Chef des weltweit grössten Ã-lindustriezulieferers Haliburton wie auch Georg W. Bush als ehemaliger Top-Manager des Ã-ldienstleistungsunternehmens Harken Oil wegen Bilanzfälschungen und ihrer Verwicklung in Insidergeschäfte in der öffentlichen Kritik - und vor den Kongress-Zwischenwahlen im November 2002 unter enormem Druck.
Im Auge behalten sollte die irakische Führung auch die Wirtschaftsseite der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Ein «unter der Rubrik ÐFinanzmärkteð sehr versteckter Artikel weist am 16. Juli darauf hin, dass an den Terminbörsen in London und New York ein atypischer Preisanstieg bei kurzzeitig fälligen Ã-lkontrakten zu verzeichnen sei. Börsianer fragen sich, ob da Kräfte am Werk sein könnten, die mit baldigen Versorgungsschwierigkeiten rechnen. Der Irak ist ein bedeutender Ã-lexporteur: Im Falle eines Krieges würde er die Ausfuhren vermutlich einstellen», schrieb Michael Jäger («Krieg im Herbst?», Freitag, 26.7.2002).
Bereits am 22. April berichtete die «Frankfurter Rundschau», dass die US-Rüstungsindustrie «einen Boom wie seit 20 Jahren nicht mehr» erlebt und führte aus: «Sollten die Pläne für eine Militäroffensive gegen Irak wahr werden, kann die US-Rüstungsindustrie auf weitere Wachstumsimpulse hoffen. Rüstungsaktien sind nach Einschätzung von Experten in jedem Fall auf längere Sicht eine sichere Anlage. Allein bei den vier Branchenriesen Lockheed Martin, Northrop Grumman, Raytheon und General Dynamics stiegen die Aktienwerte seit den Anschlägen vom 11. September zusammen um 44%.
Nicht nur, dass der Krieg kurzzeitig die Produktion ankurbelt, indem Nachschub an Bomben, Ersatzteilen und sonstigen Rüstungsgütern geliefert werden muss. Vor allem ist es die Hoffnung auf eine längerfristige Serie lukrativer Aufträge, die die Aktienkurse Ðdramatischð in die Höhe schiessen lassen, sagt Paul Nisbet von JSA Research, einem Forschungsinstitut der Luftfahrtbranche. Der Afghanistankrieg hat die Waffenarsenale an mancher Stelle weitgehend geleert, so dass jetzt erst einmal nachgefüllt werden muss. So weitete Boeing in St. Charles/Missouri den Schichtdient aus, um die Produktion von JDAM- Präzisionssystemen für die 'smart bombs' anzukurbeln. Derzeit sind die Vorräte so erschöpft, dass nach Meinung mancher Experten ein Angriff auf Irak gar nicht möglich wäre.» Im Herbst werden voraussichtlich die Mindestmunitionsmengen für einen Irak-Krieg wieder erreicht sein.
«Offensichtlich sei, dass die Kriegshandlungen die Investitionen in die US-Rüstungsindustrie erhöhten und der Wirtschaft mehr Dynamik gäben, um aus der bereits vor dem 11. September drohenden Rezession herauszukommen», schrieben die katholischen Bischöfe Brasiliens Ende 2001 in ihrer Monatsanalyse (zit. nach «Frankfurter Rundschau», 8.12.2001). Die neuen geplanten US-Präventivkriege werden vielleicht noch einige Jahre den Niedergang der US-Wirtschaft hinauszögern können und etliche tausende unschuldiger Opfer nach sich ziehen; ohne eine grundlegende Reform der US- wie auch der gesamten Weltwirtschaft wird der wirtschaftliche Niedergang der einzigen Weltmacht wohl kaum noch aufzuhalten sein.
Die USA sind ein wirtschaftlicher Koloss auf tönernen Füssen. Der Spiegel erschien am 8. Juli mit dem Aufmacher «Der neue Raubtierkapitalismus - Mit Gier und Grössenwahn in die Pleite», in dem Parallelen zwischen 1929 und 2002 hergestellt wurden. Der Titel beschreibt meines Erachtens zutreffend die derzeitige Verfassung der US-Wirtschaft. Einer der führenden US-Ã-konomen, Paul Krugmann, erklärte Anfang 2002, dass sich die Enron-Pleite einmal rückblickend als bedeutsamerer Wendepunkt für die US-Gesellschaft erweisen würde als der Einsturz des World Trade Centers. Wilfried Wolf wird nicht müde, immer wieder auf die Grunddaten der US-Wirtschaft hinzuweisen, so zum Beispiel in seinem Beitrag «Terror der Ã-konomie», Junge Welt vom 27./28.7.2002: Obwohl die USA weltweit rund die Hälfte aller Auslandsdirektinvestitionen tätigen, sieht es in der Gesamtschau derzeit sehr düster aus:
Nach fünf Jahren Haushaltsplus wird das am 30.9.2002 endende US-Wirtschaftsjahr mit einem Minus von 165 Milliarden US-Dollar schliessen.
Die per Gesetz auf 5590 Milliarden Dollar festgelegte Obergrenze für die öffentliche Verschuldung musste im Juni 2002 - mit Verweis auf höhere Gewalt - angehoben werden.
Die Schulden der privaten Haushalte liegen aktuell bei 108 Prozent des Bruttoinlandprodukts, was einen Spitzenwert innerhalb der OECD-Staaten darstellt.
Das Nettovermögen der privaten Haushalte, bereinigt um die Inflation, sank von einem Spitzenwert im ersten Quartal 2000 bis zu seinem vorläufigen Tiefpunkt im 3. Quartal 2001 um 12,3% oder umgerechnet etwa 400 Milliarden Dollar, was 40% des Bruttoinlandprodukts entspricht.
Wegen der weltweiten Konjunkturschwäche und der Abwertung des Dollars vergrösserte sich das US-Leistungsbilanzdefizit im ersten Quartal 2002 auf ein Rekordminus von 112 Milliarden Dollar. Schon seit vielen Jahren krankt die US-Wirtschaft daran, dass sie unverhältnismässig mehr Waren importiert als exportiert.
Japanische Anleger halten rund ein Drittel aller US-Staatsanleihen. Hält die Krise in Japan weiter an und wird dieses Kapital in Zukunft entweder an der asiatischen Heimatfront oder im zunehmend lukrativeren Euroland angelegt, gerät die US-Wirtschaft noch tiefer ins Trudeln.
Während der US-Verteidigungshaushalt bis 2007 auf die astronomische Summe von 451 Milliarden US-Dollar angehoben werden soll, erwägen 17 US-amerikanische Bundesstaaten, die Schulwoche auf vier Tage zu reduzieren, weil sie die Lehrkräfte nicht mehr bezahlen können.
Wo bleibt der Widerstand der europäischen Politik?
«Das politische Washington neigt immer mehr zu der Schlussfolgerung, dass Europa weder politisch noch militärisch ein ernsthafter Partner bei der Gestaltung der Weltordnung sein will, dass Europa sich der Übernahme globaler Verantwortung entzieht. Die Passivität der europäischen Staaten muss um so mehr erstaunen, da die Politik der Regierung Bush dem Prinzip der europäischen Integration - der zunehmenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen - zuwiderläuft und die Grundinteressen europäischer Aussen- und Sicherheitspolitik, Multilateralismus und Multipolarität, immer deutlicher negiert», bilanziert Otfried Nassauer. («Frankfurter Rundschau», 15.7.2002)
Noch deutlicher wird Egon Bahr: «Die erkennbare und beschlossene amerikanische Rüstungspolitik stellt einen fundamentalen Angriff gegen die erklärten europäischen Interessen dar.» Dies «wird Europa nicht vor der Entscheidung bewahren, ob es seine Streitkräfte als Schild Europas oder als Schwert Amerikas auslegen will. Ob es sicherheitspolitisch Protektorat bleiben oder selbstbestimmt werden will; [...] Vasallen erstreben das Lob der Protektoratsmacht, Partner respektieren und berücksichtigen unterschiedliche Rollen», so Bahr in Wissenschaft und Frieden, 3/02, S.15.
«Vor einem Irak-Feldzug dürfen die Europäer nicht nur murren, sie müssen die USA unter Druck setzen», fordert Stefan Kornelius in der «Süddeutschen Zeitung» (23.7.2002) und führt aus: «Die Europäer reagieren auf die Vorstellung von einem neuen Krieg am Golf apathisch: Sie stellen resigniert fest, dass es sich nur noch um eine Terminfrage handle. Im Grundsatz sei die Entscheidung über den Einsatz gefallen. Diese Einstellung ist aber falsch, weil sie Europas Einfluss mutwillig verkleinert und gleichzeitig immenses Konfliktpotential in die Gesellschaften trägt.» Wer, wie die europäischen Regierungen dies derzeit tun, den Kopf in den Sand steckt, wird bald mit den Zähnen knirschen.
Mögliche Schritte der Bundesregierung
Erste Schritte im Hinblick auf eine eigenständige Politik der Bundesregierung, die dem Grundgesetz, dem Völkerrecht und der Humanität verbunden wären, könnten im Hinblick auf den geplanten Irak-Krieg sein:
Die Aufkündigung der «bedingungslosen Solidarität» im sogenannten «Anti-Terror-Krieg».
Der Rückzug der deutschen ABC-Spürpanzer aus Kuwait und der Seefernaufklärer «Breguet Atlantic» vom Horn von Afrika.
Die Verweigerung von Überflugrechten durch den deutschen Luftraum für US-Angriffsflüge.
Die Verweigerung jeglicher finanzieller Unterstützung für einen US-Irak-Feldzug.
Der Aufbau einer internationalen Allianz, die die europäischen Staaten inklusive Russland sowie China und Indien umfasst und unter dem Dach der UN eine zivile Lösung der Irak-Frage durch die Wiederzulassung von UN-Inspektoren bei gleichzeitiger Aufhebung des Embargos anstrebt.
Das zeitliche Zusammentreffen der Nato-Tagung im November 2002 in Prag mit der dort zur Beschlussfassung stehenden US-Forderung nach Unterstützung präventiver Kriege bei gleichzeitig laufenden Drohungen gegen den Irak im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl weckt Erinnerungen an den Nato-Gipfel 1999 mit dem Beschluss zu Militärinterventionen ohne UN-Mandat und dem zeitlich parallel laufenden Präzedenzfall «Kosovo» im Vorfeld der Bundestagswahl von 1998.
Wieder wird an einem möglichen Wendepunkt der deutschen Innenpolitik eine alte wie möglicherweise neue Bundesregierung von den Washingtoner Strategen in die sicherheitspolitische Zange genommen.
Den - wahrscheinlich nicht unerheblichen - Konflikt mit der US-Regierung in der Irak-Frage zu riskieren, könnte den Beginn einer neuen Phase der transatlantischen Beziehungen einläuten. Dies wäre ein mehr als überfälliger Schritt - und ein Gebot der politischen Vernunft!
Kontaktadresse: Clemens Ronnefeld, Ortsstr.13, 56288 Krastel, Tel.: +49-6762-2962, Fax: +49-6762-950511
Artikel 4: Zeit-Fragen Nr.33 vom 12. 8. 2002, letzte Änderung am 12.8. 2002
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