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Beitrag in der Weltwoche vom Schweizer Ethnologen David Signer
Warum kommt Afrika nicht vom Fleck? Weshalb versickern seit Jahrzehnten die gewaltigsten Entwicklungssummen? Weder die Globalisierung noch der Westen sind schuld. Das Problem ist Afrikas Neid-Ã-konomie. Sie ist geprägt von Missgunst - und der Furcht vor Hexerei.
Im Sport und in der Musik sind die Afrikaner Weltklasse. Aber wenn einer weder Henri Camara heisst wie der senegalesische Fussballer noch Alpha Blondy wie der Reggaestar, sondern einfach zum Beispiel Jean-Claude Dao, dann sehen die Zukunftsaussichten trüb aus. Jean-Claude ist ein junger, intelligenter Mann in einer Kleinstadt der westafrikanischen Côte d’Ivoire. Wie so viele seines Alters verbringt er seine Zeit vor allem mit nichts. In einem Gespräch beklagte er sich, dass es keine Arbeitsplätze gebe und die Wirtschaft in ganz Afrika stagniere.
«Aber weisst du, was das eigentliche Hindernis für eine Entwicklung in Afrika ist?», fragte er mich plötzlich und antwortete gleich selbst: «Hexerei.»
«Meinst du wirklich Hexerei oder bloss den Glauben an Hexerei?», fragte ich.
«Hexerei. Hexerei ist real. Hexer essen am liebsten Erfolgreiche, Studenten, junge, hoffnungsvolle Talente aus der eigenen Verwandtschaft. Der Hexer entführt nachts das unsichtbare double eines Familienmitglieds und verteilt die Beute im Hexenzirkel. Der ‹Gegessene› verliert seine Lebenskraft, wird krank und stirbt. Das nächste Mal ist ein anderer aus dem Hexenklub dran, einen Verwandten zu offerieren. So geht das immer weiter. Hast du einmal mitgegessen, stehst du in ihrer Schuld. Opferst du dann nicht regelmässig jemanden von den Deinen, geht’s dir selbst an den Kragen.»
Nach einer Pause fragte er: «Weisst du, warum es in Afrika keine Hochhäuser gibt?»
Ich verneinte. Er erklärte mir, dass in Europa, wenn jemand ein zweistöckiges Haus baue, sein Nachbar ein Dreistöckiges hinstelle und dessen Nachbar ein Vierstöckiges. Das sei fruchtbarer Neid. In Afrika hingegen sage sich der Nachbar: «Bilde dir bloss nichts ein. Du wirst nicht alt werden in deinem Haus.»
Und er erzählte, dass es bei ihnen der Bruder seines Vaters sei, der dubioserweise alle Erfolge verhindere. «Seine eigenen Söhne reüssieren, aber alle anderen stranden. Ich selbst war ein guter Schüler; bei der Abschlussprüfung versagte ich. Ich weiss selbst nicht warum. Plötzlich war mein Kopf leer. Ich musste die Schule abbrechen. Mir bleibt nur noch, auf einen Erfolg in der Lotterie zu hoffen.»
Vampirische Sozialbeziehungen
Jean-Claude formuliert hier auf kürzestem Raum einen Zusammenhang, der in den Sozialwissenschaften erst seit ein paar Jahren in Ansätzen thematisiert wird: Was die Afrikaner «Hexerei» nennen, ist nicht einfach eine Phantasmagorie, sondern eine soziale Realität. «Hexerei» ist eine Metapher für jene Art von missgünstigen, «kannibalischen» oder «vampirischen» Sozialbeziehungen, die den Reicheren ausnehmen, ohne dass der Ärmere dabei wirklich reicher würde; nach dem Motto: Es soll dir nicht besser gehen als mir.
Auch wenn man den Glauben an Versammlungen, wo die hoffnungsvollsten Familienmitglieder verzehrt werden, nicht teilt, so ist doch die Feststellung der zerstörerischen Kraft des Neides in der afrikanischen Gesellschaft nicht zu leugnen. Diese Kraft ist mehr als bloss ein Produkt von rückständiger Leichtgläubigkeit. Es reicht nicht, die Leute aufzuklären. Denn der Druck der Verwandtschaft auf jenen, der etwas hat, ist da, ob er das nun «Hexerei», «Gier» oder «Missgunst» nennt. Die Bittsteller sind nie zufrieden, und die Verwandtschaft ist tendenziell unendlich. Dass «Hexerei» kein Problem der Psychologie oder des Aberglaubens ist, zeigt schon die Tatsache, dass jemand wie Jean-Claude das Problem haarscharf erfasst und ihm trotzdem nicht entkommt.
«Hexerei» ist ein Mittel par excellence, mit dem eine konservative Gesellschaft den Status quo beizubehalten versucht, den Wandel unterdrückt oder, wo er unvermeidlich ist, leugnet. Zugleich kann so jede Kritik auf den Kritiker selber zurückgewendet werden (wer nämlich die Starrheit des Systems anklagt, riskiert - als unsozialer, neidischer Eigenbrötler -, selber der Hexerei bezichtigt zu werden).
Anfällig für Hexerei sind Gesellschaften, in denen eine «Nullsummenspiel-Ã-konomie» herrscht; in denen jeder Gewinn eines Mitglieds von einem anderen als Verlust empfunden wird; eine stagnierende, begrenzte Wirtschaft, wo Sozialbeziehungen vor allem autoritär und hierarchisch strukturiert sind, wo der erworbene Status (durch Leistung, Arbeit, Wissen) nur wenig zählt im Vergleich zum zugeschriebenen (Alter, Geschlecht) und wo das Glück nicht in Eigeninitiative gefunden wird, sondern in der Unterordnung unter einen Patron, der im Gegenzug für einen zu sorgen hat. In einer Gesellschaft ohne «Arbeitsethik», die Erfolg auf Glück, Magie oder die Gunst der Götter zurückführt, ist es nur logisch, dass die Früchte dieses Erfolges geteilt werden müssen und dass die Vorstellung von «wohlverdientem Besitz» wenig ausgeprägt ist.
Arbeiten bringt nichts
Auch Abou ist ein junger Ivorer, der jedoch im Gegensatz zu Jean-Claude immerhin über ein kleines Einkommen verfügt, da er am Rande des Busbahnhofs eine Telefonkabine unterhält.
Aber unterm Strich geht es ihm nicht besser als seinem arbeitslosen Landsmann.
«Eigentlich bringt es mehr, nichts zu tun als zu arbeiten», sagte er mir eines Tages, als ich auf eine Verbindung wartete.
«Warum?», fragte ich.
«Weil es auf dasselbe rauskommt. Jeden Tag kommen zehn Leute, um mich anzupumpen. Weitere zehn kommen, um auf Kredit zu telefonieren. Sie reden auf mich ein, bis ich nachgebe. Es hat so viel Bargeld in der Schublade, ich kann nicht sagen, ich hätte nichts. Und ich kann auch nicht abhauen. Sie können mich den ganzen Tag bearbeiten, bis sie kriegen, was sie wollen. Und Ende des Monats habe ich zwar gegessen, aber stehe ohne einen Sou da, genauso wie die, die mich angepumpt haben und selber nicht arbeiten. Du siehst mich seit zwei Jahren jeden Tag hier schwitzen, aber ich bin keinen Zentimeter vorwärts gekommen. Ich möchte nach London, ich muss weg.»
Wie zur Illustration dieser Situation hat Abou zwei Sprüche auf die Wand hinter sich geschrieben: «Die Hölle, das sind die andern» und «Was ist der Mensch ohne den Menschen?».
Man kann das afrikanische Dilemma aus Gemeinschaftlichkeit und Kannibalismus kaum prägnanter ausdrücken. Abou hat eigentlich alle Voraussetzungen, um weiterzukommen. Er zeigt Initiative. Neben seinem Job in der Kabine unterhält er einen Kleinhandel mit allem Möglichen. Er ist intelligent und beliebt. Er hat die Provinz verlassen, um in die Stadt zu kommen, wo er nicht mehr den engen Beschränkungen und Verpflichtungen der Familie untersteht. Trotzdem hat er nicht alle Verbindungen gekappt. Er wohnt bei seinem Onkel und geht von Zeit zu Zeit ins Dorf zu Besuch. Er ist weder verschwenderisch noch geizig. Er ist ledig und hat noch keine Kinder zu unterhalten. Er trinkt nicht und raucht nicht. In einem (damals) friedlichen, recht prosperierenden Land wie der Côte d’Ivoire müsste ein Mann wie er eigentlich weiterkommen. Warum kommt er auf keinen grünen Zweig? Er sagt es selber: Es liegt an der Art der herrschenden Sozialbeziehungen - an der Pflicht, permanent alles zu teilen und an der daraus folgenden Unmöglichkeit zu sparen.
Der tödliche Neid
Was würde passieren, wenn Abou Kredite und Geschenke verweigern würde? «Sie würden mir das Leben zur Hölle machen», sagt er. Das ist buchstäblich zu nehmen: All die selbst ernannten «petits frères» würden den lieben langen Tag in seiner Kabine sitzen und ihn mit ihrem Gejammer an den Rand des Nervenzusammenbruchs treiben. Er kann ja nicht weg, er ist ihnen ausgeliefert. Und: «Man würde meinen Namen in den Dreck ziehen.» Das hiesse, die Kunden blieben aus. Es gibt genug andere Kabinen in der Umgebung. Aber vor allem kann einen jemand, den man erzürnt hat, verhexen.
«Die Hexen sind überall, du kannst ihnen nicht entfliehen. In Windeseile fliegen sie von hier bis nach Paris.»
«Was kann man dagegen tun?»
«Vor allem musst du freundlich sein mit allen. Wenn dich jemand um einen Gefallen bittet, solltest du ihn nicht ausschlagen. Du musst immer daran denken, dass es dir besser geht als anderen. Man muss für die ärmeren Verwandten sorgen, sonst tun sie dir etwas an. Ich schütze mich auch mit einem Koranvers, den mir mein Onkel gegeben hat. Manchmal schreibe ich Verse auf die Tafel, wasche sie ab und trinke das Wasser. Es ist schwierig, hier vorwärts zu kommen. Ich kenne einen Ort, wo neunzig Prozent der Jungen ausgewandert sind. In Afrika arm geboren zu werden, heisst, arm zu sterben. Der Faule ist schlauer als der Fleissige, denn beide bringen es gleich wenig weit, bloss hat der eine ein leichteres Leben als der andere.»
Oft übersieht man das Naheliegende. Jedem Afrikaner ist der Zusammenhang zwischen Hexereifurcht, der Destruktivität der Neider und ihrer bremsenden Wirkung auf Eigeninitiative und Kapitalbildung klar. Vielleicht haben die Ã-konomen und Entwicklungsexpertinnen diese Zusammenhänge bisher ignoriert, weil es ihnen unseriös erscheint, sich mit Metaphysischem zu beschäftigen; obwohl sie es seit Max Webers «Protestantischer Ethik», einer Art Gegenmodell zum afrikanischen System, besser wissen müssten. Die Religionswissenschaftler wiederum beschäftigen sich in der Regel nicht mit Kapitalakkumulation.
Eine junge Frau aus Burkina Faso schilderte die Folgen von zu schnellem Aufstieg folgendermassen (und es dürfte kaum eine Stadt zwischen Dakar und Daressalam geben, wo man nicht auf ähnliche Geschichten stösst):
«Ein Mann aus unserer Gegend hatte in der Hauptstadt die Ausbildung und Prüfung als Pilot gemacht. In zwei Wochen sollte er mit der Arbeit beginnen. Er nutzte die Zeit, um einen Besuch in seinem Dorf zu machen. Dort drehte er durch. Er breitete die Papiere und Karten vor sich auf dem Tisch aus und rief: «Treppen einziehen, anschnallen, klar zum Abflug, volle Kraft voraus!»
Als er nach zwei Wochen nicht zur Arbeit auf dem Flughafen erschienen war, liess man seinem Chef ausrichten, er sei verrückt geworden. Der glaubte es nicht und suchte den Piloten in seinem Dorf auf. Er stellte ihn zur Rede: «Warum bist du nicht zur Arbeit erschienen?»
Der Mann antwortete: «Kein Problem, Chef. Wir beginnen sofort mit der Arbeit. Anschnallen bitte, wir starten in wenigen Minuten. Bitte das Rauchen einstellen und die Sitzlehnen senkrecht stellen...»
Der Chef kehrte nach Ouagadougou zurück, der Mann blieb im Dorf bis heute, wo er sein Essen in den Abfällen sucht. Du würdest nicht denken, dass er wirklich Pilot war. Aber bei uns köpft man, was zu schnell wächst.»
Es ist bei solchen Erzählungen unwichtig, ob sie «stimmen» oder nicht. Wesentlich ist, dass sie eine Überzeugung ausdrücken und reproduzieren, die quer durch die Ethnien, Altersgruppen, Schichten, Regionen und Religionen geteilt wird: Aufsteigen ist gefährlich. Kann der andere nicht in irgendeiner Form teilhaben an deinem Erfolg, wird Neid heraufbeschworen. Dieser kann - in Form von Hexerei - tödlich sein. Und zwar musst du dich am meisten in Acht nehmen vor denen, die dir am nächsten stehen. Also machst du dich am besten entweder klein und verharrst an deinem angestammten Platz oder, wenn du gross werden willst, suchst du dein Glück woanders. Aber auch am andern Ende der Welt kannst du nicht sicher sein, ob dich die Missgunst deiner Familie nicht wieder einholt. Die Hexerei ist die Nachtseite der Verwandtschaft. (Es ist psychologisch leicht nachvollziehbar, dass die Hexereidrohung gerade den «Nächsten» gegenüber am wirksamsten ist und jemanden in Krankheit oder Wahnsinn treiben kann.)
Die lieben, grauenhaften Verwandten
Durch diesen Verhaltenskodex wird man in eine widersprüchliche Anforderung verstrickt: Man muss die Familie ehren, unterstützen, die Kontakte pflegen und regelmässig Besuche mit Geschenken im «Dorf» machen. Wer alle Taue kappt, riskiert, verhext zu werden. Deshalb meiden viele, die ihr Glück in der Stadt gemacht haben, ihre Verwandten zu Hause und machen sich rar. Damit erhöhen sie aber die Gefahr bloss, dass die «Zurückgebliebenen» ihnen grollen.
Das erste afrikanische Gebot lautet: Du sollst nicht versuchen, dich über das Gegebene zu erheben und Gleich- oder sogar Höhergestellte zu überrunden. Wer versucht, auf eigene Faust seinen grösseren Bruder oder gar seinen Vater zu übertrumpfen, wird «heruntergeholt». Von einer Hexe, sagt man. Aber «Hexe» ist nur ein anderes Wort für Kräfte der Gesellschaft, die man je nachdem als «egalisierend» oder «kastrierend» bezeichnen könnte.
Nun ist es allerdings heute, im modernen Afrika, alltäglich geworden, dass eine neue Generation die alte überrundet und dass die Kinder wohlhabender oder gebildeter sein können als die Eltern. Nichts anderes wird von ihnen erwartet in der modernen Sphäre der Schule, der Universität, der städtischen Arbeitsplätze. In der traditionellen Sphäre wird aber ebendieser Fortschritt sehr oft als Provokation der althergebrachten egalitären und hierarchischen Ordnung empfunden. Der Abweichler wird zur Ordnung gerufen, wird - primär mit psychischem und sozialem, manchmal auch ökonomischem Druck - gezwungen, an seinen zugewiesenen Platz zurückzukehren (zum Beispiel wenn ein intelligenter Junge die Schule zugunsten seines weniger intelligenten älteren Bruders verlassen muss, um letzteren nicht in seiner Ehre zu kränken).
Die afrikanische Gesellschaft ist zugleich egalitär und hierarchisch. Sie ist egalitär in dem Sinne, dass ein Ausbrechen aus dem angestammten Milieu oder ein Überrunden von älteren Brüdern und Schwestern sogleich bestraft und wieder nivelliert wird. Neid ist dabei der empörte Appell, eine als normal erachtete Gleichheit wiederherzustellen.
Sie ist hierarchisch, indem mit höher Gestellten (Vater, Chef, Politiker) nicht rivalisiert werden darf; soziale Unterschiede werden als naturgegeben hingenommen und dadurch fixiert. Der Mächtige wird zwar - als quasi biologische Gegebenheit - akzeptiert, aber nicht der Aufstieg, das Wachstum, die Karrieristen. Es sind nur Letztere, die Neid provozieren. «Hexerei» ist also vor allem zu verstehen als politisches und ökonomisches Regulativ, das in sämtliche Lebensbereiche eingreift.
Ein System, das im dörflichen Umfeld stabilisierend gewesen sein mag, führt unter den Bedingungen von freier Marktwirtschaft und Demokratie zur Lähmung jeglichen Unternehmungsgeistes. Diese Wirkung wird unterstützt durch eine Logik, die im Unsichtbaren (wozu auch Hexerei gehört) eine mächtige Gegenwelt sieht, die die normale Welt zu einem Oberflächenphänomen reduziert und mit der man im Alltag jederzeit rechnen muss - was rationales Denken auch nicht unbedingt ermutigt.
Ein weisser oder auch einfach gut gekleideter Besucher Afrikas fragt sich ziemlich bald, warum er dauernd auf offener Strasse von Leuten, die er nicht kennt, als Patron, Boss oder «grand frère» angesprochen wird. Ganz einfach: Weil es eine der Haupteinkommensquellen ist, sich klein zu machen und so an den Reichtum und die Freigebigkeit des Chefs zu appellieren.
Und wenn man nichts bekommt, dann hat auch der «petit frère» seine Methoden, dem «grand frère» das Leben zur Hölle zu machen. «Weil der Arme dem Reichen sonst nichts geben kann, gibt er ihm Probleme», erklärte mir eine junge Senegalesin, und sie meinte damit nichts anderes als die Hexerei(drohung) im Falle von Geiz.
Mach dich klein, der Chef soll zahlen
Diese Art von Beziehungen werden als Patron-Klient-Verhältnisse bezeichnet. Der Patron ist dabei einer, der seinem Schützling nicht nur Arbeit gibt, sondern die Verantwortung für grosse Teile seines Lebens übernimmt. Der Klient zollt ihm dafür Gehorsam und Bewunderung, wie einem mächtigen Vater. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass in Afrika Arbeitskraft immer noch zum grossen Teil familiär kontrolliert und ausgebeutet wird. Es sind der Vater und die weitere Verwandtschaft, die ausgleichend wirken, indem sie Überschüsse abschöpfen, dafür aber auch eine gewisse soziale und ökonomische Sicherheit garantieren.
Wurde diese dörfliche Organisationsform jedoch auf einen Grossbetrieb oder einen ganzen Staat ausgedehnt, waren Probleme unvermeidlich. Solche «neopatrimonialen» Institutionen, wie sie der Afrikanist Patrick Chabal nennt, sind ganz durch die Ausübung personalisierter Macht geprägt: Während die Klienten dem Chef ihre Gunst bezeugen (diese Art Höflichkeiten werden bei uns «Korruption» genannt), legitimiert er sich, indem er einerseits seinen persönlichen Wohlstand zur Schau stellt, andererseits in der Lage ist, das Netzwerk von Beziehungen zu speisen, auf denen seine Macht beruht. Diese Art Klientelismus hat natürlich wenig mit einem modernen Staatswesen im westlichen Sinne zu tun.
Dazu ist zu präzisieren, dass mit «Hexerei» normalerweise das gefährliche Ressentiment des schlecht Weggekommenen gemeint ist, jedoch auch ein unangreifbarer Mächtiger als «Hexer» bezeichnet werden kann. Den «kleinen» Hexer wird man meiden, ächten, ausschliessen oder vertreiben. Über den «grossen» Hexer hingegen wird man hinter vorgehaltener Hand und ehrfürchtig tuscheln. (Der ivorische Ex-Präsident Houphouët-Boigny, der die Staatseinkünfte dazu verwendete, sein Heimatdorf Yamoussokro zur neuen Hauptstadt aufzudonnern, samt einer Petersdom-Kopie, wird manchmal bewundernd «le vieux sorcier» genannt.) Doch in beiden Fällen ist der Effekt der gleiche: Der Aufsteiger wird eingeschüchtert durch Hexer oder dämonisiert als Hexer. «Normale» soziale Mobilität gibt es nicht.
Im Fall des «starken Hexers» dient die Aura des Übernatürlichen auch dazu, Feinde abzuschrecken. So wird vielen afrikanischen Politikern nachgesagt, sie verfügten über magische Kräfte, die sie unverletzbar machten und Attentate von vornherein vereitelten. Auch die Prachtentfaltung der Reichen gehört zu dieser Mystifizierung der Macht mit ihren einschüchternden Effekten gegen eventuelle Herausforderer.
Die andern müssen schauen
Es ist auffällig, dass es in Afrika im Gegensatz zu andern Kontinenten fast nie zu Sozial- und Kulturrevolutionen kam. Es gab zwar haufenweise Staatsstreiche, wo ein Patron durch einen andern ersetzt wurde, aber kaum je Anläufe zu einer radikalen Neustrukturierung der Gesellschaft. Und wenn sowohl Afrikaner als auch Europäer die afrikanische Misere nach wie vor bloss auf Sklaverei, Kolonialismus, Weltbank, Globalisierung oder ein Zuwenig an Entwicklungsgeldern zurückführen, dann wird das auch noch eine Weile so bleiben.
Die kamerunische Ã-konomin Axelle Kabou hat in ihrem wütenden Manifest über die afrikanische Unterentwicklung «Weder arm noch ohnmächtig» die These aufgestellt, dass Afrika als Ganzes gegenüber dem Westen gewissermassen die passive, bettelnde Haltung eines infantilen Klienten gegenüber einem allmächtigen Patron einnehme: «Die Afrikaner sind die einzigen Menschen auf der Welt, die noch meinen, dass sich andere als sie selbst um ihre Entwicklung kümmern müssen. Es ist allgemein bekannt, dass der ewige Rückgriff auf die ausländischen Kreditgeber in Afrika nicht als Schande empfunden wird. Weniger bekannt ist der Grund dafür, der Umstand nämlich, dass sich der Afrikaner für die Gegenwart gar nicht zuständig fühlt.»
Vermutlich sind also die Vorwürfe, die ein gekränktes Afrika den «geizigen» Europäern macht, nur die Übertragung eines Beziehungsmusters, das innerhalb Afrikas schon lange das Sozialsystem prägt: Hierarchische Gesellschaftsordnung nach Patron-Klient-Muster, Konkurrenzvermeidung und eine generelle Neigung, sowohl Übel (Hexerei) als auch Heil (Chef, Féticheur) von aussen zu erwarten.
Kabou selber räsoniert, dass es möglicherweise die Angst der Reichen vor dem Neid der Armen und vor den gegen sie gerichteten Zaubermitteln der Marabuts gewesen sei, die sie daran hinderte zu überlegen, wie der Wohlstand auf eine breitere Masse ausgedehnt werden könne. Diese Angst habe die Reichen dazu geführt, darauf bedacht zu sein, ihre Vorrechte noch zu vergrössern, um sich vor den Feindseligkeiten der anderen zu schützen.
«Man kann nicht genug betonen», schreibt sie, «wie sehr der Glaube an die magischen Kräfte der Zauberei die soziale Entwicklung Afrikas behindert hat und noch behindert... Je mehr Diplome einer in Afrika besitzt, desto mehr glaubt er, Zielscheibe von Neid und Magie zu sein, und desto mehr benützt er zu seinem Schutz Talismane.»
Unfähigkeit zu sparen
Oft wird den Afrikanern vorgeworfen, aufgrund ihrer kurzsichtigen Sorglosigkeit unfähig zum Sparen, zu Kapitalbildung und langfristigen Geldanlagen zu sein. Vermutlich liegt das Problem jedoch weniger im Bereich der «Mentalität» als in jenem der Sozialbeziehungen. Auch jemandem, der guten Willens und fähig ist zum Sparen, wird es aufgrund seiner familiären Verpflichtungen fast verunmöglicht. Eine Unfähigkeit zum Sparen müsste man eher der Gesellschaft als ganzer als den Individuen zuschreiben. Der Einzelne ist oft gegen seinen Willen freigebig (im vollen Bewusstsein der Kurzsichtigkeit), aber kann aufgrund des sozialen Drucks nicht anders.
Einen Hinweis darauf gibt die Tatsache, dass die meisten Läden in Ostafrika in den Händen von Indern und in Westafrika in jenen von Arabern liegen. Diese Ausländer reüssieren wohl nicht deshalb, weil sie per se fähiger wären, sondern weil sie ausserhalb der ruinösen afrikanischen Familienverpflichtungen stehen.
Die afrikanischen Oberschichten, die sich resolut gegen «unten» abzuschirmen versuchen, möchten es ihnen gleichtun, indem sie buchstäblich Wälle um ihren Besitz aufrichten, um den Anspruch auf Verteilung einzudämmen. Die Wirtschaft wird dadurch auch nicht belebt. Während die normalen Leute mit den Ärmeren solidarisch sein müssen, bis sie selber wieder arm sind, bleiben die Reichen mit ihrem Luxus unter sich.
Dieser unerträglichen Situation entziehen sich viele Aufsteiger durch Migration. (Man müsste den afrikanischen Braindrain einmal unter diesem Aspekt untersuchen.) Dadurch entkommt man zwar den direkten Erwartungen, Forderungen und Vorwürfen, aber nicht der möglichen Rache durch Hexerei, die ja perfiderweise an keinen Ort gebunden ist. Hier springt nun - als eine Art Tranquilizer - der Féticheur ein. Der Féticheur kann die Angst vor zu kurz Gekommenen besänftigen, indem er sie identifiziert und magische Schutzvorrichtungen erstellt. Aber indem er das Gros der sozialen, psychischen und gesundheitlichen Probleme durch Hexerei erklärt, hält er zugleich das System und die Angst am Leben. Er bietet Lösungen für Probleme, die er - zum Teil - selber schafft.
Wichtig bei den Féticheuren sind immer die Opfer, die dargebracht werden müssen. Selbst in einer Millionenstadt wie Abidjan in der Côte d’Ivoire mit ihren Stadtautobahnen und Neonleuchtreklamen bringen gemäss einer Studie mehr als die Hälfte der Bewohner regelmässig Opfer wie Hühner oder Schafe dar.
Nun, wenn von Hexerei vor allem derjenige betroffen ist, der nicht gibt, dann liegt nichts näher, als seine Angst dadurch zu beheben, dass man ihn dazu bringt, dass er eben etwas gibt, und zwar in einer ritualisierten, geheiligten, allgemeinen Art, wo die Gabe zu einem Selbstzweck wird. Eben dies bedeutet das Opfer. Es ist ein Geschenk an niemanden und an alle: Gott, Geister, Féticheur, Familie, Nachbarn, Arme, zu kurz Gekommene, potenzielle Neider, sich selbst.
Das Wesentliche ist das entlastende Gefühl, etwas gegeben und damit wieder ein Gleichgewicht hergestellt zu haben. Aber die Opfer geben vielleicht Erleichterung und beruhigen die Furcht, aber sie führen nicht aus der Ideologie des Verteilens und der Ã-konomie der Hexerei heraus. Sie bestätigen die gesellschaftliche Theorie und Praxis, dass der eigene Erfolg gefährlich ist und der andere einen jederzeit auf eine unfassbare Art zerstören, aber auch retten kann.
Ein Goal für alle
Doch warum klappt im Sport und in der Musik, was sonst nirgends funktioniert?
Die afrikanischen Fussballspieler selbst schreiben ihren Erfolg oftmals den zahlreichen Magiern zu, die mit ihnen von Stadion zu Stadion reisen. Aber vielleicht liegt der wahre Grund für die Ausnahmeleistungen darin, dass jedes Goal, das ein Senegalese schiesst, für alle Afrikaner und Afrikanerinnen geschossen wurde. Der Torschütze nimmt seinen Brüdern und Schwestern nichts weg, im Gegenteil. Und wenn Alpha Blondy zum tausendsten Mal «Mon père avait raison» zum Besten gibt, bereichert er damit nicht bloss sich selber, sondern alle, die sich mit ihm identifizieren. Er ist nicht ihr Rivale, sondern ihr Repräsentant, und so hat jeder teil an seinem Erfolg.
Wenn diese Auffassung - dass jede überragende Leistung auf lange Sicht dem Gemeinwesen zugute kommt - auf alle Tätigkeiten ausgeweitet werden könnte, käme der afrikanische Kult der Mittelmässigkeit vielleicht an sein Ende. Aber vorderhand gilt noch immer der Minimalismus-Slogan aus Mali: «Misserfolg wird verziehen. Erfolg nicht.
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