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Arbeiterselbstverwaltung
Die Gesellschaft als Fabrik
Im Jahr 1919 wurde die Gesamtheit der sowjetischen Arbeiter vom 8. Parteitag der Bolschewiki unter staatliches Kommando gestellt:âDie höchstmögliche Nutzung aller verfĂŒgbaren ArbeitskrĂ€fte..., die richtige Verteilung und Neuverteilung dieser KrĂ€fte sowohl auf die verschiedenen Regionen als auch auf die verschiedenen Zweige der Volkswirtschaft sind unabdingbar fĂŒr die Verwirklichung einer planmĂ€Ăigen Entwicklung der Volkswirtschaft, was die nĂ€chste Aufgabe der Wirtschaftspolitik der Sowjetmacht sein muss.â.
Um diese staatliche Dienstverpflichtung der WerktĂ€tigen umzusetzen, wurden 1919 ArbeitsbĂŒcher eingefĂŒhrt. Jeder Arbeiter musste in sein Arbeitsbuch Verwarnungen, Zeugnisse und KĂŒndigungen seiner Betriebsleitung eintragen lassen. Ohne Arbeitsbuch fand er keine andere legale Arbeit mehr. Zwischen 1940 und 1956 war den WerktĂ€tigen sogar jeder freie Arbeitswechsel verboten. Gleichzeitig sollte ein innersowjetisches Passsystem den unerlaubten Zuzug in die StĂ€dte verhindern. SpĂ€ter wurde diese direkte staatliche Kontrolle der Bewegungsfreiheit der WerktĂ€tigen abgeschwĂ€cht, blieb aber in Form der stĂ€dtischen Wohnberechtigungsscheine bis zum Ende der Sowjetunion spĂŒrbar.
Auch innerbetrieblich wurden die revolutionĂ€re Selbstverwaltung der Arbeiter und ihre Selbstbestimmung immer stĂ€rker beschrĂ€nkt. 1937 wurden die Mitbestimmungsrechte der BetriebsrĂ€te in Lohn- und Personalfragen abgeschafft und bis zum Ende der Sowjetunion nie wieder eingefĂŒhrt. Ab 1937 bis 1991 wurden Zahl der Arbeiter, die Lohnhöhe und Lohnstufen in den Industriebetrieben nur noch zentral ohne jede Mitbestimmung der Betriebsgewerkschaften festgelegt.
Wir erinnern uns: Im Kapitalismus âgehörenâ die Lohnarbeiter nicht einer anderen Person. Sie entscheiden frei ĂŒber den Ort ihrer Arbeit und ihres Lebens. Da sie jedoch weder ĂŒber Lebens- noch ĂŒber Produktionsmittel verfĂŒgen, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft an das Kapital zu verkaufen. An welchen Kapitalisten sie ihre Arbeitskraft verkaufen, darĂŒber können sie selber entscheiden. Sie sind nicht an einen einzelnen Betrieb, an einen einzelnen Kapitalisten gefesselt, wohl aber an die kapitalistischen Produktionsmittelbesitzer insgesamt: An irgendeinen Produktionsmittelbesitzer muss sich ein Lohnarbeiter verkaufen, will er nicht in Armut und von der Gnade anderer leben.
In Sowjetrussland bestimmten nicht die Arbeiter, wo sie arbeiteten, sondern die Staats- und ParteifĂŒhrung.
In der Sowjetunion wurden Arbeitsbedingungen geschaffen, die den Arbeitern in der âsozialistischen Heimat aller WerktĂ€tigenâ bis zuletzt weniger Freiheiten und weniger Rechte lieĂen, als die Lohnarbeiter im entwickelten Kapitalismus hatten.
Das DDR - âWörterbuch der Ă-konomie - Sozialismusâ von 1969 erklĂ€rt: âMit Schaffung sozialistischer ProduktionsverhĂ€ltnisse hört die Arbeitskraft auf, eine Ware zu seinâ, und fĂ€hrt begrĂŒndend fort: âDer Staat plant den rationellen Einsatz der Arbeitskraft zum Wohle der gesamten Gesellschaft und jedes WerktĂ€tigen.â Gefragt wurden die WerktĂ€tigen nicht, ob sie das als Wohl empfanden, was die sowjetische Staatsmacht als âWohl jedes WerktĂ€tigenâ definierte.
Im Kapitalismus sind die Lohnarbeiter, weil sie keine Produktionsmittel besitzen, an das Kapital als Klasse der Produktionsmittelbesitzer gekettet, gegenĂŒber dem einzelnen Kapitalisten sind sie jedoch frei, sie können kĂŒndigen und sich einen anderen Kapitalisten suchen. Dass die LohnabhĂ€ngigen ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen mĂŒssen, hĂ€lt niemand fĂŒr ein GlĂŒck. In der Sowjetunion wurde die Arbeitskraft nicht ge- und verkauft. Dort gab es nur einen einzigen Produktionsmittelbesitzer - den Staat als Besitzer aller Fabriken. Also kann man mit gutem Recht sagen, dass die sowjetische Arbeitskraft keine Ware war. Aber was war sie dann?
Lenin hatte zum Auftakt der Oktoberrevolution in seinem Werk âStaat und Revolutionâ angekĂŒndigt: âAlle BĂŒrger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates... Alle BĂŒrger werden Angestellte und Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staatsâkonzernsâ.... Die gesamte Gesellschaft wird ein BĂŒro und eine Fabrik.... sein.â Und Bucharin und Preobraschenskij schrieben 1919 in ihrer Popularisierung des bolschewistischen Parteiprogramms von âeiner groĂen VolkswerkstĂ€tte, die die ganze Volkswirtschaft umfasstâ . Wie die Arbeiter und Angestellten eines kapitalistischen Unternehmens sich innerhalb des Unternehmens nicht den Arbeitsplatz frei wĂ€hlen können, so konnten sich die russischen WerktĂ€tigen innerhalb der gesamten staatlichen Industrie ihren Arbeitsplatz nicht frei wĂ€hlen. Die ganze russische Gesellschaft war organisiert wie eine kapitalistische Fabrik.
Dass Sozialisten auf die Idee kommen, die Gesellschaft als kapitalistische Fabrik zu organisieren, hatte Karl Marx schon in seiner Kritik an Proudhon vorausgesehen und Marx hatte auch gewusst, wo das enden muss: âNimmt man die Arbeitsteilung in einer modernen Fabrik als Beispiel, um sie auf eine ganze Gesellschaft anzuwenden, so wĂ€re unzweifelhaft diejenige Gesellschaft am besten fĂŒr die Produktion ihres Reichtums organisiert, welche nur einen einzigen Unternehmer als FĂŒhrer hĂ€tte, der nach einer im voraus festgesetzten Ordnung die Funktionen unter die verschiedenen Mitglieder der Gemeinschaft verteilt.â
Wer die Gesellschaft als Fabrik organisieren will, muss bei einem âeinzigen Unternehmerâ, der den ganzen âStaatskonzernâ leitet, landen. Wird das nicht zu recht âStalinismusâ genannt? Stalin war nichts anderes und wollte nichts anderes sein, als der entschlossene âUnternehmer des sowjetischen Staatskonzernsâ. Er hat wirklich die âsowjetische Gesellschaft als Fabrikâ organisiert. Das ist das Geheimnis des sowjetischen Sozialismus - das Geheimnis seiner unbestreitbaren Erfolge in der nachholenden Industrialisierung und Modernisierung, wie auch das Geheimnis seiner geringen Anziehungskraft fĂŒr die Lohnarbeiter in aller Welt.
Die Seele dieses âFabriksozialismusâ war ein einziges zentrales Gehirn und ein einziger zentraler Wille, der alle Menschen in dem ganzen riesigen Land steuerte und beherrschte. Wer in einem Land wie Russland mit einer nur wenig gebildeten Industriearbeiterschaft, die anfangs nur rund 5 Prozent der Bevölkerung ausmachte, von der nur ein geringer Prozentsatz lesen und schreiben konnte, - wer dort eine rasche und rĂŒcksichtslose Modernisierung erreichen wollte, musste so handeln.
In Russland waren anfangs alle Intelligenz und alle Entschlossenheit in dieser kleinen FĂŒhrungsgruppe der Bolschewiki konzentriert. Dieses Wissens- und Entscheidungsmonopol war zunĂ€chst von den ungĂŒnstigen UmstĂ€nden erzwungen, geriet aber mit dem wachsenden Bildungsstand der sowjetischen WerktĂ€tigen immer mehr in Konflikt mit dem Willen und den Interessen der sowjetischen Bevölkerung. Das Entscheidungsmonopol der sowjetischen ParteifĂŒhrung konnte zunehmend nur noch durch Terror und das Wissensmonopol nur durch kĂŒnstliche Monopolisierung aller wichtigen Informationen aufrechterhalten werden.
Daher wurden wĂ€hrend der ganzen Zeit der Sowjetunion alle Wirtschaftsdaten fĂŒr geheim erklĂ€rt. Unter Stalin war sogar das gezielte Sammeln von in den Zeitungen veröffentlichten Daten unter Strafe gestellt. Die einzelnen SowjetbĂŒrger durften nichts gesellschaftlich Wichtiges wissen - bis die Zentrale die Entscheidungen gefĂ€llt hat. Die SowjetbĂŒrger sollten keinen eigenen Willen, keine eigenen Kenntnisse besitzen. Die Zentrale wusste alles, die Zentrale entschied alles. Die SowjetbĂŒrger waren nur ausfĂŒhrendes Organ, die ausfĂŒhrenden âHĂ€ndeâ fĂŒr den planenden âParteikopfâ.
Dem âeinzigen Unternehmer Stalinâ bzw. spĂ€ter dem âUnternehmerkollektivâ der sowjetischen ParteifĂŒhrung stand die Masse der verplanten SowjetbĂŒrger gegenĂŒber. Sie wurden vom Staat zur Arbeit dienstverpflichtet, im schlimmsten Fall wie Zwangsarbeiter oder Soldaten, wie unter Trotzki und Stalin, als GefĂ€ngnisstrafen und ErschieĂungen fĂŒr Bummelei und Arbeitsverweigerung drohten. Bis zuletzt blieben die SowjetbĂŒrger unmĂŒndige Kinder, die der Partei- und StaatsfĂŒhrung als elterliche Befehlsgewalt unterstellt waren. Diese âelterlicheâ Befehlsgewalt konnte von der Partei- und StaatsfĂŒhrung besser oder schlechter eingesetzt werden, insgesamt waren das keine gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse, in denen emanzipierte Menschen gerne leben wollten.
Der Moskauer Jungarbeiter Stepan Podlubnyi schrieb am 25. Januar 1935 in sein Tagebuch: âĂbrigens kam mir gerade ein Gedanke, ein Wunsch: Warum trenne ich mich nicht ganz vom Komsomol, (dem kommunistischen Jugendverband) schaff ihn mir vom Hals! Dann bin ich frei und unabhĂ€ngig. So aber kommandiert man dich herum wie einen Diener. Treibt dich an wie einen kleinen Jungen. Und verkĂŒndet gebieterisch: âAuf Beschluss des Komitees bist...â usw. So Ă€hnlich wie: âIm Namen des Gesetzes sind Sie... usw. Sehr treffend hat das Kuzmic im Buch âDie Turbinenâ beschrieben, wo er sagt: âĂber uns allen steht das ZKâ, das heiĂt, wir sind nicht Herren unser selbst.â
Haben und hatten die Lohnarbeiter in der ganzen Welt nicht recht, wenn sie diese Art von Sozialismus nicht als eine Verbesserung ihrer Lage ansahen? Ist es da verwunderlich, wenn der Einfluss der linkssozialistischen und kommunistischen Parteien unter den Lohnarbeitern der entwickelten kapitalistischen LĂ€nder seit 1920 immer mehr zurĂŒckging?
Gut ausgebildete, gesunde oder junge ArbeitskrĂ€fte, die in der Konkurrenz auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt gut abschnitten, zogen in der Regel kapitalistische LohnverhĂ€ltnisse der staatlichen Bevormundung im Sowjetsystem vor - erst recht, wenn starke Gewerkschaften in Westeuropa vor der schlimmsten kapitalistischen WillkĂŒr schĂŒtzten.
Die Flucht aus einem âArbeiter- und Bauernstaatâ in den Westen war ebenso wenig ein Votum fĂŒr den Kapitalismus, wie der Volksaufstand gegen die DDR-Regierung. Die FlĂŒchtlinge aus der DDR konnten ebenso wenig wie die DDR-Oppositionellen hoffen, hier im Westen zu Kapitalisten zu werden. Die Flucht in den Westen und die Opposition gegen die DDR-FĂŒhrung war vor allem ein Votum gegen umfassende staatliche Bevormundung und Verplanung, es war gleichzeitig ein Votum fĂŒr die Risiken und Chancen kapitalistischer Lohnarbeit, fĂŒr selbstĂ€ndige Gewerkschaften und frei gewĂ€hlte BetriebsrĂ€te.
FĂŒr wen hatte dann der sowjetische Fabrik-Sozialismus eine Anziehungskraft? Attraktiv war dieser Sozialismus vielleicht fĂŒr die Frauen mit Kindern, die Alten, Kranken oder schlechter Ausgebildeten, deren Arbeitskraft weniger qualifiziert, verbraucht oder weniger konkurrenzfĂ€hig war. Diese âkapitalistischen Verliererâ konnten und wollten sich mit dem Sowjetsystem arrangieren. Auch wer sich im Sowjetsystem Hoffnung auf einen Aufstieg in die PlanerbĂŒrokratie machen konnte, zog diesen Aufstieg in die herrschende Klasse des Ostens gerne dem Lohnarbeiterdasein im Westen vor.
Linke Intellektuelle im Westen hielten sich nur zu gerne fĂŒr eine Karriere in der PlanerbĂŒrokratie des mĂ€chtigen sozialistischen Staatsapparats geeignet. Sie konnten sich dann als Mini-Lenins oder Möchtegern-Stalins fĂŒhlen, von deren richtiger oder falscher Entscheidung das Schicksal von Millionen abhing.
Der linksbĂŒrgerliche Schriftsteller Lion Feuchtwanger hat das in seinem Moskau-Reisebericht von 1937 offen ausgesprochen: âIch machte mich auf den Weg als ein âSympathisierenderâ. Ja, ich sympathisierte von vornherein mit dem Experiment, ein riesiges Reich einzig und allein auf Basis der Vernunft aufzubauen...... Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen groĂen, fortdauernden Kampf, den eine vernĂŒnftige MinoritĂ€t gegen die MajoritĂ€t der Dummen fĂŒhrt. Ich habe mich in diesem Kampf auf die Seite der Vernunft gestellt, und aus diesem Grund sympathisierte ich von vornherein mit dem gigantischen Versuch, den man von Moskau aus unternommen hat.â
Kann jemand, der die Vernunft in einer herrschenden Minderheit verkörpert sieht, fĂŒr Selbstverwaltung und Selbstbestimmung aller Produzenten sein? Intellektueller DĂŒnkel wird schnell zum VerbĂŒndeten einer âwohlmeinenden Diktaturâ und zum Verfechter eines âaufgeklĂ€rten Despotismusâ. Wer nach GrĂŒnden fĂŒr die Stalinverehrung westlicher Intellektueller sucht, wird hier fĂŒndig.
Keinesfalls hatte sich Karl Marx eine emanzipierte Gesellschaft als aufgeklĂ€rte Diktatur vorgestellt, die alle Gesellschaftsmitglieder der Despotie einer kapitalistischen Fabrik unterwirft. Ganz im Gegenteil: Die SachzwĂ€nge produktiver Arbeit sollten zwar auf alle arbeitsfĂ€higen Individuen verteilt, aber gleichzeitig fĂŒr jeden Einzelnen auf ein Minimum reduziert werden: âWie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine BedĂŒrfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.
Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die BedĂŒrfnisse sich erweitern; aber zugleich erweitern sich die ProduktivkrĂ€fte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur wĂŒrdigsten und adĂ€quatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblĂŒhen kann. Die VerkĂŒrzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.â
(wird fortgesetzt) Wal Buchenberg, 7.4.2003
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