-->die aus meiner Sicht eine falsche Überschrift gefunden hat. Vielleicht hilft Dir das weiter.
Der absolute Vorrang der Moral
Timothy Roth entzieht der Wohlfahrtsökonomik jede Grundlage
22. April 2003 Timothy P. Roth: The Ethics and the Economics of Minimalist Government. Edward Elgar, Cheltenham 2002, 134 Seiten, 39,95 Pfund.
Die neoklassische Wohlfahrtsökonomik zählt zu jenen vergleichsweise raren Branchen der Wirtschaftswissenschaft, die den Weg in das Bewußtsein der Ã-ffentlichkeit gefunden haben. Zumindest ansatzweise dürfte jedem Staatsbürger zum Beispiel die Idee der externen Effekte geläufig sein, jener Nebenwirkungen privatwirtschaftlichen Handelns, die sich daraus ergeben, daß zwischen privaten und gesellschaftlichen Kosten oftmals ein Unterschied besteht - wie im Fall des Umgangs mit natürlichen Ressourcen. Schließlich hat dieses Argument für die Einführung der sogenannten Ã-kosteuer herhalten müssen. Allgegenwärtig ist auch die Vorstellung, es gebe"öffentliche Güter", die wegen der Möglichkeit des Trittbrettfahrens privat nicht angeboten würden, obwohl sie für die Gesellschaft als Ganzes von großem Nutzen seien: von der Landesverteidigung bis hin zur Straßenbeleuchtung. All diesen Begriffen ist gemein, daß sie eine Form des angeblichen"Marktversagens" beschreiben - mit der logischen Konsequenz, daß sich daraus eine längst nicht mehr hinterfragte Rechtfertigung für den Staat ergibt, korrigierend in das Marktgeschehen einzugreifen.
Timothy Roth, Professor an der University of Texas in El Paso, räumt gründlich mit diesen Vorstellungen auf, ohne dabei in irgendeiner Weise mit ideologischen Axiomen zu hantieren. Er nimmt die neoklassische Wohlfahrtstheorie fast quälend systematisch auseinander, legt die Schwachpunkte ihrer philosophischen Prämissen und die Unreflektiertheit ihrer logischen Verknüpfungen dabei so schonungslos und überzeugend bloß, daß rein gar nichts von ihr übrigbleibt. Indem auf diese Art und Weise auch die klassischen Begründungen für Staatseingriffe wegfallen, ergibt sich gleichsam und nur nebenbei - ohne jedes libertäre oder anarchistische Programm - eine Basis für den"minimalistischen Staat", der sich im Titel des Buches wiederfindet.
Nicht alles Pulver gegen die Wohlfahrtsökonomie erfindet Roth neu. Lange schon sieht sich die Theorie der Kritik ausgesetzt, mit ihren übermäßig restriktiven Annahmen kein brauchbares Abbild der Wirklichkeit zu erlauben. Das beginnt schon mit dem realitätsfernen Menschenbild des"Homo oeconomicus", der perfekt rational und uneingeschränkt eigennützig handelt. Sobald man diese Annahme aufgibt, so führt Roth vor, kann man auch nicht mehr davon ausgehen, daß sich individuelle Nutzen- und Produktionsfunktionen objektiv fassen und auf gesamtwirtschaftliches Niveau hochaggregieren lassen - und das herkömmliche wohlfahrtsökonomische Optimierungskalkül bricht zusammen. Ähnliches gilt für die Annahme, daß die Interaktionen der Marktteilnehmer völlig reibungslos ablaufen, daß also keine Transaktionskosten bestehen.
Wenn sich aber kein sinnvolles gesellschaftliches Optimum berechnen läßt, besteht auch keine Möglichkeit, eine künstliche, durch Staatseingriffe vollzogene Annäherung an ein solches Optimum herzuleiten. So würde zum Beispiel die Berechnung einer Ã-kosteuer, die den Unterschied zwischen privaten und sozialen Kosten der Umweltnutzung ausgleichen soll, voraussetzen, daß der marginale Unwert des Ressourcenverbrauchs im Optimum bekannt ist. Wenn jedoch die mathematischen Funktionen, die sowohl den Grenzwert als auch das Optimum bestimmen, gar nicht erst zu greifen sind, erweist sich die Idee einer Ã-kosteuer als Chimäre. Die Wohlfahrtsökonomik sei damit"unwissenschaftlich", schreibt Roth.
Seine Kritik geht freilich viel weiter. Der Autor legt dar, daß die neoklassische Wohlfahrtsökonomik, obschon angeblich werturteilsfrei, im Kern auf einer"hybriden" - und damit logisch inkonsistenten - Moraltheorie fußt. Einerseits argumentierten ihre Vertreter utilitaristisch in dem Sinn, daß sie die Summe der Nutzenempfindungen der Mitglieder einer Gesellschaft zu maximieren suchten. Insofern sei ihr Denken ergebnisorientiert, konsequentialistisch. Andererseits jedoch gestehen sie ein, daß der Schutz von Privateigentum, Handels- und Vertragsfreiheit unerläßlich ist. Damit greifen sie auch auf eine Moraltheorie zurück, die individuellen Rechten absoluten Vorrang einräumt - unabhängig von den Folgewirkungen. Doch beides geht nicht unter einen Hut, wie Roth zeigt. So erliegen die Wohlfahrtsökonomen auch immer wieder der Versuchung, die fundamentalen individuellen Rechte in dem Maße wieder einzuschränken, wie sich daraus in ihrer Wahrnehmung eine Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Effizienz erhoffen läßt. Damit sinken die individuellen Rechte auf den instrumentellen Rang eines reinen Mittels zum Zweck zurück.
Die logische Unabweisbarkeit dieses Arguments von Roth ist frappierend. Schade nur, daß es als Kronzeugen dafür ein wenig überzeugendes Beispiel wählt: die ihn offensichtlich empörende Tatsache, daß Wohlfahrtsökonomen nicht davor zurückschrecken, gelegentlich Korruption und Schattenwirtschaft in Schutz zu nehmen. Denn gerade dieses Phänomen paßt gut in die Argumentationsweise von Roth, wenn man zwar nicht, wie die Wohlfahrtsökonomen es tun, auf die damit verbundene Effizienzsteigerung abhebt, sondern auf die indirekte Einforderung von Autonomie und Eigentumsrechten.
Die Mischung aus wissenschaftlicher Unzulänglichkeit und moralischer Inkonsistenz der Wohlfahrtstheorie, betont Roth, gebe jedenfalls einem ungebremsten Wachstum des Staats und unbegrenzten Umverteilungsaktivitäten Vorschub:"Mit dieser Theorie läßt sich jedwede Form der Politik begründen. Damit ist auch offensichtlich, daß die Größe und Ausdehnung des Staats längst über jenes Niveau hinausgeschossen ist, das wissenschaftlich oder moralisch gerechtfertigt ist."
Roths großartiges, wenn auch mitunter gerade wegen seiner Systematik mühsam zu lesendes Buch ist eine einzige akribische Widerlegung der Wohlfahrtstheorie - und zeigt zugleich den Weg zu ihrer positiven Überwindung. Denn der Autor setzt dem zerstörten Mythos ein neues philosophisches Projekt entgegen: die"Kantian/Rawlsian contractarian enterprise". Aus dem kategorischen Imperativ, der auf der Annahme der natürlichen Autonomie des Individuums fußt und eine Gerechtigkeit im Sinne der Gleichbehandlung fordert, knüpft Roth eine Verbindung zu dem Rawlsschen Konstrukt des"Schleiers des Nichtwissens", hinter dem sich die Menschen, einem Gesellschaftsvertrag gleich, auf universalisierbare, allgemeine Regeln für ihr Zusammenleben einigen können. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der"Autonomie, Handlungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Würde moralisch gleichwertiger Menschen".
Die moralische Gleichwertigkeit der Menschen begründe einige"institutionelle Imperative", schreibt Roth: So gelte es einerseits, durch die Verfassung allen Menschen die gleichen, größtmöglichen Freiheitsrechte einzuräumen und ihnen die Partizipation am politischen Prozeß zu ermöglichen. Und andererseits sei es notwendig, durch Verfassungsregeln den politischen Prozeß selbst so einzuschränken, daß dieser nur noch solche Ergebnisse hervorbringen könne, die dem Gebot der Gleichbehandlung der Menschen entsprächen. Auf den von Juristen vorzubringenden Vorwurf, es gelte"Gleiches gleich und Ungleiches ungleich" zu behandeln, geht Roth schon deswegen gar nicht erst ein, weil er die moralische Gleichheit vor dem Recht als universell betrachtet.
Würde diesem strikten Gleichheitsgebot Folge geleistet, wäre eine Vielzahl der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht denkbar. Roth dekliniert eine ganze Liste gängiger Maßnahmen durch, die dem Gleichheitsgebot nicht standhalten: eine progressive Besteuerung, steuerliche Ausnahmetatbestände, die Subventionierung von Einzelpersonen oder Branchen, die Aufnahme von Schulden zu Lasten künftiger Generationen, eine staatlich organisierte Altersversorgung, die wegen demographischer Verschiebungen keine Stetigkeit der Renten garantieren kann, jegliche Form der Regulierung, die nur Teilen der Bevölkerung zugute kommt, oder auch ein umweltpolitisches Ordnungsrecht, das zwischen verschiedenen Emissionsquellen differenziert.
Das Verdikt ist strikt:"Alle Institutionen der postkonstitutionellen Politik, die Diskriminierung ermöglichen, sind unmoralisch." Damit bleibt nicht nur von der Wohlfahrtsökonomie, sondern auch von der Politik, wie die Welt sie kennt, nicht mehr viel übrig. Man wünschte, Ã-konomen und Politiker beherzigten diese Einsichten und beschäftigten sich mehr mit Moral.
KAREN HORN
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.2003, Nr. 93 / Seite 14
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