-->12.06.2003
Jürgen Elsässer
Das Rätsel der Cypresse
Die Akte Möllemann: Die kriminaltechnische Untersuchung läßt viele Fragen offen. Teil II
Einer der spektakulärsten Todesfälle der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte wurde in Rekordzeit weitgehend aufgeklärt. »Wir ermitteln nur noch in Richtung Selbstmord oder Unfall«, gab ein Sprecher der Polizei Recklinghausen schon am Montag bekannt. Worauf gründet sich die Sicherheit der Behörden? »Nach dem vorläufigen Ergebnis einer Sachverständigenuntersuchung ist eine Manipulation an dem Fallschirm Möllemanns ausgeschlossen«, berichtetet die FAZ am 10. Juni. Wie kann eine Untersuchung, deren Ergebnis lediglich »vorläufig« ist, endgültige Gewißheit darüber bringen, daß ein bestimmter Tathergang »ausgeschlossen« ist?
Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Fremdverschulden - also Mord - von den Sachverständigen verneint wurde, ist bemerkenswert, da sie bis zu jenem Zeitpunkt wichtige Beweismittel noch gar nicht hatten untersuchen können. »Noch immer fehlen aber die Springerbrille Möllemanns sowie ein Teil des Fallschirms«, vermeldete die Presse am selben Tag. »Zwei Tage nach dem tödlichen Absturz gab die Polizei die Suche nach einem fehlenden Metallteil des Fallschirms nahe dem Absturzort am Flughafen Marl auf«, hieß es in Spiegel online am 7. Juni. Die Polizei hatte zuvor ein ganzes Feld abmähen lassen, um die Suche zu erleichtern. Erst einen Tag nach der vollmundigen Erklärung der Recklinghäuser Polizei fand sich 400 Meter vom Absturzort entfernt das sogenannte Trennkissen - ein Stoffteil mit Klettverschluß, durch dessen Abriß Möllemann den Hauptfallschirm ausgeklinkt haben soll. Und noch einen Tag später, am gestrigen Mittwoch, sollte eine Expertise vorgestellt werden, warum der Mini-Computer Cypres in Möllemanns Sprunggepäck den Reservefallschirm nicht aktiviert hat. Doch die Pressekonferenz wurde auf Anfang nächster Woche verschoben. Mit diesem wichtigsten Teil der Ermittlungen wurde übrigens die GSG 9, eine Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes betraut.
Paradoxerweise kollidieren sowohl die Selbstmordthese wie die Mord-Vermutung mit den Fakten. Einerseits: Warum sollte Möllemann, wenn er sich denn umbringen wollte, den Hauptfallschirm überhaupt öffnen? Andererseits: Wer, wenn nicht der Politiker selbst, sollte den Schirm kurz darauf abgetrennt haben? Die Sat1-Sendung Akte 03/24 versuchte den Widerspruch am Dienstag abend aufzulösen: Möllemann habe sich erst während des Sprungs entschieden, aus der Schwerelosigkeit des freien Falls nicht mehr in die Beschwernisse des Lebens zurückzukehren. Aber auch diese Erklärung hat einen Haken: Einem spontanen Suizid-Entschluß (oder einer plötzlichen Ohnmacht) wird nämlich durch die Automatik, den erwähnten Mini-Computer, vorgebeugt. Wenn der Hauptfallschirm abgeworfen und der Reservefallschirm nicht manuell betätigt wird, löst diesen ersatzweise das eingebaute System Cypres aus. Am gestrigen Mittwoch erklärte der leitende Oberstaatsanwalt Wolfgang Reinicke, es sei »nicht geklärt«, ob der Cypres-Computer bei Möllemann aktiviert gewesen sei. Zunächst hatte es aber in der Presse geheißen: »Augenzeugen berichten, das Instrument an Möllemanns Schirm sei angeschaltet gewesen.« Während des Fluges jedenfalls kann das System nicht abgeschaltet werden - Cypres befindet sich tief im Rucksack zwischen den Schulterblättern des Springers.
Lag also doch eine Manipulation des Fallschirms durch Dritte vor? Die Möglichkeit dazu hat zumindest rein theoretisch bestanden. »Der Reservefallschirm wird nicht vom Springer selbst gepackt, sondern von einem Experten«, erklärte dazu Manfred Schallück, der Ausbilder des Fallschirmsportclubs Münster, in dem Möllemann Mitglied war. Von einem Experten? Das würde man gerne etwas genauer wissen. Immerhin ist am 16. August vergangenen Jahres bei einem Sprung in Lemwerder (Niedersachsen) Möllemanns Hauptfallschirm gerissen - angeblich, so ein Verbandsfunktionär, weil der Politiker »seinen Schirm falsch gepackt« habe. Und vor vier Jahren war es im Fallschirmclub Münster schon einmal zu einem Mord gekommen. Eine Springerin stürzte in den Tod, nachdem sich ein Vereinsmitglied an ihrem Fallschirm zu schaffen gemacht hatte. Zunächst hatte es »Spekulationen« gegeben, »der Anschlag habe eigentlich dem nordrhein-westfälischen FDP-Vorsitzenden Jürgen Möllemann gegolten«, meldete die Rhein-Zeitung am 30. Mai 1999.
Auffällig auch, wie selbstsicher die Clubmitglieder die Selbstmordthese bestätigten - und wie dümmlich. Gleich mehrere der neun Mitspringer behaupteten sogar, »Möllemann habe die Leinen seines Schirmes während des Fluges durchgeschnitten«, berichtete die Bild-Zeitung (Dottore, habt Ihr da lausig überprüfte Aussagen gebracht? Möllemann soll die Schnüre durchgeschnitten haben? Was für geballter Quatsch!) am 6. Juni - was durch die kriminaltechnische Untersuchung eindeutig widerlegt ist. Von Trauer war auch nicht viel zu bemerken - schon am nächsten Tag frönte die fidele Truppe wieder ihrem Sport. Auch die widersprüchlichen Angaben über die Sprungfolge (Sind die wirklich so dämlich??, J.) verführen zu Spekulationen. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft sprang Möllemann als Letzter, nach Recherchen des Internetportals yahoo und von Bild als Vorletzter, nach Angaben der FAZ als Drittletzter.
Mancher mag sich wundern, warum in diesem Artikel nichts über die Motive zu lesen ist, weswegen sich der Politiker umgebracht haben soll (Gibt wohl keine schlagenden??, J.) - oder auch nicht. Seelenklempner jeder Fakultät haben derzeit auf allen Kanälen Hochkonjunktur. Doch vergessen wir nicht: Psychologie ist nur eine abgeleitete Hilfswissenschaft. Für den Kriminalisten (wie den Kommunisten) sollten die materiellen Tatsachen im Mittelpunkt stehen.
* In Kürze Teil III: Warum Möllemann für Kinkel und Co. gefährlich war
Wie ich schon gleich nach dem FALL sagte: Die einseitige Aggitation in Richtung Selbstmord ist mehr als verdächtig. Es stinkt von vorne bis hinten.
Gruß
SB
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