-->>Sagen, was keiner hören will
>Er galt als Apokalyptiker. Am Sonntag, zu seinem 100. Geburtstag, haben sich George Orwells Visionen in den Alltag geschlichen
>von Susanne Kunckel
>Nein, ein RTL-II-Zuschauer wäre George Orwell wohl nicht geworden. Er würde sich kaum anschauen wollen, wie seine apokalyptische Vision"Big Brother is Watching You" ins 21. Jahrhundert dümpelt: als TV-Verblödungszirkus, der bis zu drei Millionen Voyeure vor die Glotze lockt. 55 Jahre nach Erscheinen seiner düsteren Anti-Utopie"1984" - auflagenstärkster englischer Roman des 20. Jahrhunderts - flimmert"Big Brother" als Reality-Soap durch die Wohnzimmer der Welt. Von Dänemark bis Griechenland, von Mexiko bis Argentinien, in den USA und Südafrika boomt das Spanner-Spektakel. Und nach den anfänglichen Skandalen stört sich kaum noch jemand am exhibitionistischen Fernsehprojekt. Dabei sind die Regeln noch strikter, das Sex- und Streit-Potenzial noch größer geworden. Aber die Quoten stimmen.
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>Armer Orwell. Als er seinen Überwachungsstaat erfand, quälte er sich mit düsteren Visionen, fürchtete die totale Durchsichtigkeit menschlichen Handelns, Manipulation und Gleichschaltung, wie sie die faschistischen und stalinistischen Staaten vorlebten. Kein Leser wird seinen Winston Smith vergessen, der bei dem Versuch, gegen ein totalitäres Regime aufzubegehren, kläglich scheitert. Dieser Smith, im"Wahrheitsministerium" zuständig für das permanente Umschreiben der Wahrheit, wird im"Liebesministerium" verhört, verhöhnt und gefoltert. Gehirnwäsche mit Erfolg. In"Zimmer 101", dem Ort, wo es zynischerweise"keine Dunkelheit gibt", wird Smith am Ende seine Liebe verraten."Er liebte den Großen Bruder", heißt der letzte Satz des Romans.
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>Kein Entertainment, sondern Pessimismus pur. Der Querdenker und unermüdliche Weltverbesserer Orwell sorgte sich aufrichtig um die Souveränität des Individuums:"Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet", meinte er,"dann bedeutet sie das Recht, den Menschen zu sagen, was sie nicht hören wollen." Er wollte vor allem politischer Schriftsteller sein. Kunst im Sinne des Kantschen Diktums von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck war ihm suspekt:"Wenn ich auf meine Arbeit zurückblicke", notierte er 1946, vier Jahre vor seinem Tuberkulose-Tod mit 46,"so sehe ich, dass ich dort, wo es mir an einem politischen Zweck gefehlt hat, Humbug geschrieben habe."
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>Am 25. Juni vor 100 Jahren wurde der Brite Eric Arthur Blair geboren. Später nannte sich der 30-Jährige nach dem Fluss Orwell (der von Ipswich in die Nordsee fließt), weil er alles Schottische hasste, von Whisky und Kilt bis zu seinem Namen Blair. Trotzdem verbrachte er seine letzten Lebensjahre auf der schottischen Hebrideninsel Jura. Zeitlebens kämpfte er gegen Krankheiten, heiratete zweimal - zuletzt auf dem Sterbebett. Ein Mann voller Widersprüche: demokratischer Sozialist und Patriot, Militarist und Pazifist, Eton-Snob und Tellerwäscher. Ein wortkarger Eigenbrötler, der mit Underdogs lebte und gleichzeitig registrierte:"Armut ist geistiger Mundgeruch." Vor allem aber ein verzweifelter Linker mit der Überzeugung, dass Menschlichkeit im technischen Zeitalter nur auf sozialistischem Wege zu retten sei. Er schrieb stilistisch spröde Romane und Erzählungen, arbeitete für die BBC, verfasste Zeitungsartikel und Essays, mal mahnend, mal originell. Seine Schreibleidenschaft reichte bis zur Auflistung der Top Five der englischen Küche:"Räucherhering, Yorkshire Pudding, Schlagsahne à la Devonshire, Muffins und Crumpets". Und als hervorragendste Eigenschaften seiner Landsleute nannte er"Mangel an künstlerischer Sensibilität, Sanftheit, Respekt gegenüber dem Gesetz, Misstrauen gegen Ausländer, Sentimentalität gegenüber Tieren, Heuchelei und Sportbesessenheit".
>Orwell polarisierte, er wurde gehasst, glorifiziert, parodiert, missverstanden. Doch die Welt, die er 1948 hellsichtig heraufbeschwor, die Welt von"1984", ist untergegangen: abgesoffen in einer öden TV-Soap, in der das Fiktionale als Realität akzeptiert wird. Abgesehen davon, dass kürzlich emsige Wahrheitssucher eine Debatte über seine angebliche Schnüffelei für britische Geheimdienste entfachten, die im Sande verlief, passt Orwell bestens in die Mediendemokratie. Die Essenz seiner Werke hat ihre Brisanz nicht verloren."Big Brother" existiert nicht allein in der Glotze, sondern hat sich heimlich in die Wirklichkeit geschlichen: Die Zahl der Telefonüberwachungen allein in Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren verzehnfacht. Kreditinstitute verfügen über die Daten von rund 55 Millionen Bürgern. In Amerika werden neuerdings Bücherkäufe elektronisch registriert. Sprachverfälschung, semantischer Missbrauch von Worten, staatlich organisiertes Lügen sind gängiger Alltag. Was Orwell so vehement anprangerte, ist nicht von gestern: Was eine Vision von gestern war, wächst zur Bestandsaufnahme der Gegenwart.
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>Orwells abenteuerliches Leben liest sich heute wie ein gesellschaftspolitischer Roman des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines britischen Kolonialbeamten der Middle Class in Bengalen geboren, wurde er mit acht in eine englische Privatschule geschickt und anschließend nach Eton. Als Kolonialpolizist in Burma lernte er den britischen Imperialismus kennen und hassen ("Tage in Burma"), hätte allerdings auch gern einen buddhistischen Priester mit dem Bajonett aufgespießt ("Shooting an Elephant"). Als Tramp und Tellerwäscher suchte er die"Erniedrigten und Beleidigten" und schrieb über sie ("Erledigt in Paris and London"). Er lebte in Löchern, qualmte, trotz diverser Lungenentzündungen, wie ein Schlot und wurde Sozialist, was für den wertkonservativen Orwell zuallererst die Erhaltung der Individualität und den"Sturz der Tyrannei bei uns und anderswo" bedeutete.
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>1936, im Spanischen Bürgerkrieg, verlor er fast das Leben. Ein Heckenschütze schoss ihm eine Kugel in den Hals. Der Militärarzt diagnostizierte:"Atmung normal, Sinn für Humor unbeschädigt". Der Brite kämpfte auf Seiten der trotzkistischen"Poum" gegen Franco und konnte den Marxismus stalinistischer Prägung studieren. Die Schreckensvision vom totalitären Staat sollte ihn nie mehr verlassen. In"Mein Katalonien" schrieb Orwell später an gegen das Auslöschen der Erinnerung und die ideologische Manipulation der Geschichte. Wie Arthur Koestler kam er zu der Erkenntnis, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den politisch extremen Kräften größer sind als die Unterschiede der Ideologien: Verachtung gegenüber dem Menschen, Bejahung von Gewalt als Mittel der Politik, Fanatismus. Kein Wunder, dass der Sozialist, der die Marxisten verdammte, zum Buhmann der linken Intellektuellen wurde. Während Ernst Bloch, Brecht & Co die stalinistischen Schauprozesse zwischen 1936 und 1938 zu rechtfertigten versuchten - selbst Adorno mahnte damals,"man dürfe nichts publizieren, was Russland zum Schaden anschlagen kann" - und die"Russomanie" sogar konservative englische Kreise erfasste, wetterte Orwell gegen die dialektischen Seiltänze der Lobpreiser Stalins."Warum", kritisierte er,"sollten sich ausgerechnet die Schriftsteller von einer Form des Sozialismus angezogen fühlen, die jedes aufrechte Denken ausschließt?"
>In England studierte er das Landleben, hielt sich eine Ziege und betrieb einen Tante-Emma-Laden. Aber die zeitgenössischen Grünen beschimpfte er als"Fruchtsaftapostel, Sandalenträger mit vegetarischen Neigungen und Naturheilpfuscher, die in der Hoffnung, dem Leben ihres Kadavers fünf Jahre hinzuzufügen, sich von der Gesellschaft absondern."
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>Im Grünen brütete Orwell über politischen Pamphleten. Das Resultat: die tierische Satire"Animal Farm" - seine subversive Abrechnung mit dem Stalinismus. Das Buch erschien 1945 und machte Orwell international berühmt. Dass die osteuropäischen Medien ihn zur Unperson, zum"Wurm" und"Schwein" degradierten, kommentierte er lapidar:"Die scheinen Tiere irgendwie zu mögen."
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>"1984", seinen zweiten Bestseller, schrieb er, vom Tode gezeichnet, auf der Insel Jura, wo es damals noch keinen Strom gab. Im Arbeitszimmer seines kärglich möblierten Hauses qualmten an nassen Tagen ein Petroleumofen und Orwells Zigaretten. Quer durch den Raum hatte er eine Wäscheleine gespannt und daran selbst gefangene Fische mit Zahnstochern zum Trocknen aufgehängt.
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>"1984" ist auch Chiffre für den anderen großen Pessimisten des 20. Jahrhunderts, Aldous Huxley. Der stellte in seinem Roman"Schöne neue Welt" Orwells Terrorstaat östlicher Prägung das westliche Pendant entgegen: eine kollektivierte Wohlstandswelt, die allen Menschen Luxus und genormtes Glück beschert. Zum Preis von Auslöschung der Individualität, Untergang der Kultur und Verelendung der Seele. Zwei Pole einer Schreckensvision.
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>Übrigens: Ein Amerikaner hat kürzlich die parodistische Fortsetzung von Orwells"Animal Farm" veröffentlicht."Snowball's Chance" (Roofs Book, New York) heißt das Machwerk von John Reed. Der ersetzt Kommunismus- durch Kapitalismus-Schelte. Zwar sind Orwells Nachlassverwalter auf dem Kriegspfad, bislang jedoch ohne juristische Konsequenzen. Snowball, das nach Leo Trotzki modellierte Schwein, kehrt nun als Unternehmer auf die Farm zurück, um sie für die Segnungen des Turbokapitalismus fit zu machen: klimatisierte Ställe, Vergnügungsparks, Freizeit im Überfluss. Ein Aufstand fundamentalistischer Biber, die die Wasserreservoirs bewachen, ist erst der Anfang vom Ende. Der tierische Kapitalismus endet im Saustall.
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>Wie sagte Orwell?"Das moderne mechanisierte Leben wird sehr öde, wenn man es zulässt." Die Hoffnung aber, dass es möglich ist,"ein anständiger Mensch zu sein und doch wirklich lebendig zu bleiben", hat er nie aufgegeben.
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>Neuausgaben von Orwell-Werken sind bei Diogenes erschienen
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