-->Interview
«Berlusconi füllte einen Hohlraum»
Sandro Benini
Der italienische Historiker und Publizist Ernesto Galli della Loggia über das zwiespältige Verhältnis seiner Landsleute zum Recht, die Probleme des Regierungschefs und den Zustand der Nation.
Herr Galli della Loggia, die europäische Ã-ffentlichkeit hält Silvio Berlusconi im besten Fall für eine zwielichtige Figur, im schlechtesten für einen Verbrecher. Dennoch hat ihn die Mehrheit der Italiener zweimal gewählt. Warum?
Dafür gibt es Dutzende von Erklärungen. Man kann sagen, die Italiener seien vom Fernsehen geblendet worden, Berlusconi habe sie hypnotisiert, ein grosser Teil des Volkes sei blöde oder kümmere sich nicht um Recht und Gesetz. Das sind die einfachen, kurzatmigen Deutungen, die den Journalisten so gut gefallen. Es sind jedoch allenfalls Teilwahrheiten.
Haben Sie eine bessere Erklärung?
Schauen wir doch einmal, worin die Einzigartigkeit des italienischen Systems und der jüngsten italienischen Geschichte besteht. Denn Silvio Berlusconi ist zwar chronologisch gesehen das letzte Phänomen, das Italien einmalig macht. Daneben gibt es jedoch ein paar weitere Besonderheiten. Italien ist die einzige westliche Demokratie, in der es jahrzehntelang nie zu einem politischen Machtwechsel kam. Die prägende Kraft war immer die grosse katholische Volkspartei Democrazia Cristiana, die mit kleineren bürgerlichen Parteien und mit den Sozialisten unter Bettino Craxi Koalitionen bildete. Anfang der neunziger Jahre ist dieses korrupte Machtkartell in sich zusammengefallen - aber nicht, weil es politisch besiegt wurde, sondern weil es dem Druck gerichtlicher Ermittlungen nachgab. Damit ist Italien auch die einzige westliche Demokratie, in der die Justiz den Untergang einer ganzen Classe politique bewirkt hat. Die Parteien, die 1992 noch rund sechzig Prozent der Wähler vertraten, lösten sich in kürzester Zeit schlicht und einfach auf. Es kam zu einem plötzlichen, in Europa bisher einzigartigen politischen Vakuum.
Und dieses Vakuum gebar Berlusconi?
Genau. Berlusconis Erfolg hängt damit zusammen, dass er mit seiner in null Komma nichts geschaffenen Partei Forza Italia den Hohlraum füllte, den Christdemokraten und Sozialisten hinterlassen hatten. Damit gewann er die Mitte-rechts-Wähler, die den sich abzeichnenden Sieg der ehemaligen Kommunisten verhindern wollten. Hätten Sie und ich damals eine gemässigte Partei in der politischen Mitte gegründet, wir hätten vierzig Prozent der Wählerstimmen gewonnen.
Aber das ist doch paradox: Ein politisches System bricht unter seiner eigenen Korrumpierbarkeit zusammen, und danach wird einer gewählt, der ein enger persönlicher und politischer Freund Bettino Craxis war und somit selber dazugehörte.
Das System ist eben nicht von einer neuen, integren Politikerklasse zum Einsturz gebracht worden, sondern von den Richtern. Wer hätte die grosse politische und moralische Erneuerung also schaffen können? Die ehemaligen Kommunisten, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer Linksdemokraten nannten, waren ebenfalls kompromittiert - in geringerem Ausmass als die Democrazia Cristiana zwar, aber immerhin. Und politisch waren sie nicht mehrheitsfähig. Hätten also die Richter eine eigene Partei gründen sollen? Natürlich nicht, denn das hätte die Gewaltentrennung ausser Kraft gesetzt. Ausserdem liefen vor dem Jahr 1994 gegen Berlusconi keinerlei gerichtliche Ermittlungen. Als Berlusconi in die Politik einstieg, war er ein reicher, im Grunde unbescholtener Industrieller, der zwar enge persönliche und politische Beziehungen zu Bettino Craxi unterhalten hatte, aber nicht primär als Exponent des alten korrupten Regimes wahrgenommen wurde. Er galt vielmehr als Mitglied einer dynamischen industriellen Elite, was seinem Image genützt hat.
Mittlerweile ist er jedoch erstinstanzlich wegen Bestechung und illegaler Parteienfinanzierung verurteilt und zahlreicher weiterer Vergehen angeklagt. In jedem anderen westlichen Land würde dies das Ende einer politischen Karriere bedeuten.
Es ist sicher unbestreitbar, dass in Italien die Identifizierung des Einzelnen mit dem Staat, seinen Institutionen und Gesetzen weniger stark verankert ist als anderswo. Berlusconi hat Steuern hinterzogen und die Finanzpolizei bestochen? Zumindest bei seinen Wählern dürfte dies seine Popularität eher steigern als schmälern.
Haben wir es in Italien mit einer unreifen, moralisch fragwürdigen Wählerschaft zu tun?
Das kann man so sehen, man muss jedoch die historischen Gründe für solche Tatsachen berücksichtigen. Ausserdem ist die Mentalität des Schlaumeiertums, des Schummelns und des Eigennutzes nicht nur unter Berlusconi-Wählern verbreitet, sondern in weiten Teilen der italienischen Gesellschaft - auch unter den Linken.
Weshalb?
Weil in Italien die Staatsgewalt immer schwach war. In Italien gab es nie eine starke, zentralistisch ausgerichtete Monarchie wie in Frankreich, sondern bis zur Gründung des Nationalstaates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer nur kleine staatliche Gebilde. Die absoluten Monarchien brauchten Geld, um ihre Kriege zu finanzieren, und dieses Geld trieben sie von der Bevölkerung ein; dazu mussten sie jedoch als starke Autorität auftreten. Dieser Mechanismus spielte in Italien nicht, weil die Kleinstaaten keine übergreifenden politischen Projekte verfolgten und somit weniger Geld brauchten. Ausserdem hatte die italienische Bevölkerung in der katholischen Kirche lange eine starke Verteidigerin gegen die Macht des Staates. Die alltäglichen Beziehungen zur Kirche waren sehr viel enger als jene zu staatlichen Institutionen. Der Gegensatz zwischen Kirche und Staat war nirgendwo in Europa so ausgeprägt wie in Italien. Hinzu kommt die enge Bindung an die Familie und an den Berufsstand. In den italienischen Städten und Dörfern haben immer die gleichen alteingesessenen Familien eine politisch prägende Rolle gespielt. Während in Frankreich die mächtigen Familien und die Aristokratie im König einen Gegenspieler hatten, konnten sie in Italien mehr oder weniger ungestört ein oligarchisches System entwickeln. All diese Faktoren sind einer Anerkennung von staatlicher Autorität und Gesetzgebung durch den einzelnen Bürger abträglich.
Wie verbreitet ist im heutigen Italien diese Laxheit im Umgang mit Gesetzen?
Es gibt sicher eine grosse Zahl von Personen, die ein sehr zwiespältiges Verhältnis zum Prinzip der Legalität haben. Wahrscheinlich sogar die Mehrheit. Glücklicherweise existiert aber auch eine Minderheit, welche die Gesetze und Regeln mehr oder weniger befolgt; zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der Italienerinnen und Italiener gurten sich beim Autofahren an, um ein ganz banales Beispiel zu nennen. Jedenfalls ist es unbestreitbar, dass das Phänomen mangelnder Gesetzestreue einen ausgeprägten kulturellen Unterschied zu den anderen Staaten der Europäischen Union darstellt. Nach der Osterweiterung sieht es dann vielleicht etwas anders aus...
Was müsste man tun, um die Gesetzestreue der Italiener zu verbessern?
Zunächst einmal müsste die Justiz besser funktionieren. Es ist schwierig, ein Gesetz zu respektieren, wenn es der Staat bestenfalls in einem jahrelangen und hochkomplizierten Prozess durchsetzt. Es ist schwierig, in einem Land einen Sinn für das Legalitätsprinzip zu entwickeln, wo es dreimal mehr Gesetze gibt als in Frankreich oder Deutschland. Ein Justizapparat, der das Recht auf oft undurchschaubare Weise anwendet und unendlich langsam arbeitet, wird einfach nicht ernst genommen. Man sollte zum Beispiel die italienischen Anwälte entsprechend der Anzahl der Gerichtsverfahren, in denen sie auftreten, und entsprechend ihrer Erfolgsquote bezahlen. Stattdessen funktioniert der Justizapparat nach dem Prinzip: Mit jedem zusätzlichen Verhandlungstag, mit jeder zusätzlichen Gerichtsakte streicht ein Anwalt mehr Geld ein. Für Anwälte ist dies natürlich ein Anreiz, Prozesse in die Länge zu ziehen und aussergerichtliche Einigungen zu verhindern. Aber bisher ist es keiner Regierung gelungen, den Justizapparat wirklich zu reformieren und die Gesetze zu vereinfachen - auch der Linken nicht, die immerhin von 1996 bis 2001 an der Macht war.
Um auf Berlusconi zurückzukommen...
...Berlusconi profitiert natürlich vom besonderen italienischen Verhältnis zum Legalitätsprinzip, weil die Verfahren, in die er verwickelt ist, nicht jenen öffentlichen Entrüstungssturm heraufbeschwören, der in anderen Ländern losbräche. Aber ich glaube nicht, dass darin der entscheidende Grund liegt, weshalb er an der Macht ist. Als er am 13. Mai 2001 die Wahlen gewann, hatten die Leute genug von der ewig zerstrittenen Linkskoalition. Und sie haben Berlusconis Versprechen geglaubt.
Die international bekanntesten italienischen Intellektuellen und Schriftsteller, von Gianni Vattimo über Antonio Tabucchi bis hin zu Luigi Malerba, sehen in Silvio Berlusconi eine Gefahr für die Demokratie. Umberto Eco spricht sogar von einer De-facto-Diktatur. Hat er Recht?
Er hat vollkommen Unrecht. Umberto Eco ist ein grosser Semiotiker, der zu viele Interviews gibt und über alles redet, auch über Dinge, von denen er keine Ahnung hat. In Italien ist ein politischer Wechsel immer noch möglich. Der Beweis sind die letzten Regional- und Kommunalwahlen, welche die Linke gewonnen hat. Und gibt es in Italien vielleicht keine Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit, beschneidet jemand das Streikrecht der Gewerkschaften, werden Andersdenkende zusammengeschlagen und vom politischen Leben ausgeschlossen, wie es unter Mussolini der Fall war? Eindeutig nein. Von einer De-facto-Diktatur zu sprechen, ist Unsinn.
Berlusconi behauptet, er sei das Opfer einer kommunistischen Justiz, die sich gegen ihn verschworen hat. Was halten Sie davon?
Das ist ein Märchen. Es gibt sicher keine diabolischen, politisch motivierten Gehirne im Hintergrund, welche die Fäden ziehen und den Richtern befehlen, was sie zu tun haben. Andererseits gewinnt natürlich ein Staatsanwalt, der eine Ermittlung gegen den Regierungschef eröffnet, im Handumdrehen Ruhm und Prestige. Berlusconi hat als Chef des Unternehmens Mediaset ohne Zweifel Delikte begangen. Bloss frage ich mich: Wie viele andere italienische Unternehmen stünden unbescholten da, wenn gegen sie so häufig ermittelt worden wäre wie gegen Mediaset? Ich fürchte, es wären nicht sehr viele.
Berlusconi ist Regierungschef und herrscht gleichzeitig über ein Medienimperium. Skeptiker sehen in seinem Regime autoritäre Züge.
Berlusconi ist in meinen Augen keine autoritäre Person. Das höchste Ziel Berlusconis besteht darin, zu gefallen. Er will nicht befehlen, sondern überzeugen. Er will einen zum Lachen bringen, er will sympathisch sein, er spielt den Clown. Von Diktatoren kann man all dies nicht behaupten. Können Sie sich, um den üblichen Hitler-Vergleich zu vermeiden, einen Franco oder einen Noriega vorstellen, der auf öffentlichen Fotos einem anderen Staatsmann mit den Fingern Hörner aufsetzt? Wenn sich Berlusconi mit anderen Regierungschefs trifft, erzählt er Witze. Natürlich sollte ein Politiker das nicht tun - aber autoritär ist Berlusconi nicht.
Wenn ein Ministerpräsident Gesetze verabschieden lässt, um sich einem Gerichtsverfahren zu entziehen, erweist er der Demokratie und dem Rechtsstaat einen schlechten Dienst.
Ich bin mit Ihnen einverstanden: Wäre Berlusconi nicht angeklagt, hätte er sich keine Immunität zugeschanzt, wie er es kürzlich getan hat. Und dieses Gesetz ist inhaltlich gesehen eine fürchterliche Sache. Aber es ist auf legale Weise zustande gekommen: Die demokratisch gewählte parlamentarische Mehrheit hat es verabschiedet. Wer soll denn die Gesetze machen, wenn nicht die Abgeordneten? Und Staatspräsident Azeglio Ciampi hat die Vorlage unterschrieben, wobei er sagte, aus seiner Sicht sei sie nicht per se verfassungswidrig. Aber darüber entscheidet letztlich das Verfassungsgericht. Oder nehmen wir die so oft kritisierte Tatsache, dass der Ministerpräsident eines Landes ein Medienimperium mit Zeitungen, Zeitschriften, Verlagen und drei Fernsehsendern besitzt: ein unhaltbarer Zustand, ohne Zweifel. Aber warum hat die Linke während ihrer fünfjährigen Regierungszeit kein Gesetz verabschiedet, wie es in jedem anderen demokratischen Land besteht, um diesen Interessenkonflikt aus der Welt zu schaffen? Weil sie sich im Grunde Silvio Berlusconi als politischen Gegner erhalten wollte, weil sie dem Irrtum verfiel, ein derart kompromittierter Politiker sei einfacher zu besiegen. Das war purer Opportunismus.
Als Berlusconi an die Macht kam, hat er versprochen, selber ein Gesetz zur Lösung des Interessenkonflikts zu schaffen.
Dieses Versprechen hat er eindeutig gebrochen. Und auch ich gehöre zu jenen, die ihn in Leitartikeln häufig daran erinnern. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der Interessenkonflikt seine Wähler stört. Ein bisschen vielleicht, aber nicht allzu sehr.
Gibt es Punkte, in denen Berlusconi Recht hat?
Sein Regierungsprogramm enthält viele vernünftige Absichten, aber dies war auch bei der Mitte-links-Regierung unter Prodi und D’Alema nicht anders. Richtig war meiner Meinung nach, dass er die Amerikaner im Irak-Krieg unterstützt hat.
Und sonst? Wie beurteilen Sie die Leistung seiner Regierung?
Wenn ich Berlusconis Regierung anhand einer Skala von eins bis zehn bewerten müsste, gäbe ich ihr fünf Punkte, wobei die schlechte weltwirtschaftliche Lage als mildernder Umstand zu berücksichtigen ist. Berlusconi ist ein geradezu überwältigend guter Verkäufer politischer Produkte und Inhalte, aber er ist kein guter Regierungschef. Ich habe nicht den Eindruck, dass er eine grosse intellektuelle, kulturelle und gefühlsmässige Vertrautheit mit der Politik besitzt; seine Welt ist jene des Geschäfts, des Managements, der Unternehmensführung. Und so seltsam es für jemanden, der derart dezidiert den Macher gibt, auch klingen mag: Berlusconi kann sich nicht entscheiden, er tritt nicht wirklich als politischer Chef auf, weil er Angst davor hat, jemanden wütend zu machen. Berlusconi ist ein Mann, der nicht nein sagen kann. In der Politik ist dies verheerend. Deshalb hat er auch keines seiner Wahlversprechen gehalten, er hat weder die Steuern gesenkt noch für einen Liberalisierungsschub gesorgt. Wenn ich es mir richtig überlege, gebe ich seiner Regierung vier Punkte.
Warum hat Berlusconi die Liberalisierung nicht zustande gebracht?
Um eine Wirtschaft zu liberalisieren, muss man einschneidende Entscheidungen treffen, und davor schreckt einer, der bei allen gut ankommen will, instinktiv zurück. Berlusconi hat beispielsweise versprochen, die Ausgaben für die Verwaltung zu senken. Dazu hätte er aber Staatsbeamte entlassen müssen, und dies wiederum hätte ihm öffentliche Sympathien gekostet.
Könnte Silvio Berlusconi seine Handicaps nicht durch fähigere Berater und Minister ausgleichen?
Die Qualität der Classe politique von Berlusconis Partei Forza Italia ist katastrophal. Die Minister von Forza Italia sind gar keine wirklichen Politiker, wie sie in anderen europäischen Ländern auf der Regierungsbank sitzen. Sie haben keine politische Karriere gemacht, haben keine gesellschaftlichen Konzepte, sie mussten sich nie die Unterstützung einer Wählerschaft erkämpfen. Es sind Personen, die ihr Amt besitzen, weil Berlusconi sie ernannt hat. Aber mit einem Federstrich kann er sie auch wieder entlassen. Und so haben sie eine einzige Sorge: Berlusconi zufrieden zu stellen und ihm zu gehorchen.
Verliert Silvio Berlusconi 2006 die Wahlen?
Wenn er so weitermacht, ja. Würde heute gewählt, käme es höchstwahrscheinlich zu einem Regierungswechsel.
Am 1. Juli hat Italien für sechs Monate die Präsidentschaft der EU übernommen. Das hat europaweit Befürchtungen ausgelöst, Berlusconi sei in diesem Amt moralisch untragbar.
Das halte ich schon allein deshalb für übertrieben, weil dieses Amt keine grosse Bedeutung hat. Erinnern Sie sich an den Namen des griechischen Ministerpräsidenten, der im vergangenen halben Jahr EU-Präsident war?
Nein, im Moment gerade nicht.
Eben, ich nämlich auch nicht. Welches Gewicht soll ein Amt also haben, wenn man den Namen seines Inhabers sofort wieder vergisst? Natürlich wäre es für Italien ehren-hafter, es würde während der nächsten sechs Monate durch einen Staatsmann wie Cavour vertreten. Nun werden sich halt die anderen europäischen Regierungschefs eine Ladung von Berlusconis Witzen anhören müssen.
Es gibt auch Befürchtungen, Berlusconi könnte eine Art Prototyp des künftigen europäischen Politikers sein.
Um Gottes willen, warum denn das?
Weil die Bedeutung der politischen Parteien schwindet, was die Chancen für populistische Persönlichkeiten erhöht, die nicht ein politisches Programm, sondern sich selber verwirklichen wollen.
Der Einfluss der politischen Parteien schwindet, weil die Entscheidungsmacht der nationalen Classe politique abnimmt, weil immer mehr Beschlüsse durch internationale Organisationen wie den Währungsfonds, die Weltbank oder die EU getroffen werden. Aber Berlusconi ist nicht das unvermeid-bare Resultat eines demokratischen Systems, er ist die Folge einer Demokratie, die aus den genannten Gründen an einem bestimmten Punkt entgleist ist und in eine Ausnahmesituation geriet. Im übrigen Europa gibt es richtigerweise Gesetze, die eine Konzentration von Medienmacht in der Hand eines einzelnen Politikers verhindern und damit den Aufstieg eines Berlusconi verunmöglichen. Wir werden uns also damit abfinden müssen, dass der Berlusconismo ein rein italienisches Phänomen bleibt.
Wenn alles nicht so schlimm ist - wie erklären Sie sich dann die Sorgen so vieler Intellektueller?
Winston Churchill hat die Demokratie einmal als System definiert, in dem alle vier Jahre eine Bande von Unfähigen eine Bande von Dieben von der Macht vertreibt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, regiert in der Demokratie das Mittelmass. Dies ist kein erhebender Befund, aber es ist eine Realität, die den Intellektuellen natürlich missfällt. Intellektuelle sind beinahe schon aus beruflichen Gründen von Idealen erfüllt. Darum sind sie auch meistens links, weil sie in der Linken eine stärkere Repräsentation idealistischer Positionen sehen. Sie lieben Worte wie «De-facto-Diktatur», weil grosse Worte grosse Ideen vermitteln. Bloss entspricht ihre Meinung zumeist nicht den Ansichten der Mehrheit. Italien ist nicht ein Staat, in dem die Barbaren die Macht erobert haben, wie Gianni Vattimo kürzlich gesagt hat. Es ist eine mittelmässige, fade Demokratie, und Berlusconi ist kein Diktator, sondern das graue Gesicht dieser Demokratie. Im Übrigen bin ich mir sicher, dass dies auch Umberto Eco glaubt. Meinen Sie, Eco befürchte ernsthaft, Berlusconi werde drei Monate vor den nächsten Wahlen einen Staatsstreich versuchen? Das ist doch absurd!
Dennoch ist er offensichtlich der Alptraum der Intellektuellen.
Berlusconi interessiert sich sehr für die numerische Mehrheit der Wählenden, aber er hat keinerlei Sensibilität für gebildete Personen. Meiner Meinung nach müsste er in der Tat begreifen, dass auch Künstler, Schriftsteller, Universitätsprofessoren und Journalisten eine gesellschaftliche Rolle spielen und vor allem die internationale Wahrnehmung eines Landes prägen. Silvio Berlusconi hätte vielleicht einmal in die Scala oder ins Theater gehen sollen. Aber diese Welt ist ihm fremd. Die Linke hingegen weiss, dass eine gute Beziehung zum kulturellen Establishment nützlich ist. D’Alema würde Tabucchi zum Abendessen einladen, Berlusconi würde ihm ein paar Schimpfwörter hinterherwerfen. Das ist der Unterschied.
Sie selber gelten in Ihrer Heimat als Rechtsintellektueller.
Ich würde mich als liberalen Konservativen bezeichnen.
Das heisst?
Ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass Veränderungen die Dinge oft nicht verbessern, sondern verschlechtern. Ich bin zum Beispiel Professor an der Universität von Perugia, und wie viele andere aus meiner Generation habe ich mich in der 68er-Bewegung für einen radikalen Umbau der Universitäten eingesetzt. Wenn ich nun die heutige Universität mit jener vergleiche, die ich als Student besuchte und bekämpfte, kommen mir manchmal Zweifel: Vielleicht hatte jene verhasste Bonzenuniversität positive Eigenschaften, die verloren gegangen sind. Was die Qualität des Studiums angeht, war sie jedenfalls ohne Zweifel seriöser und besser.
Sind Sie stolz darauf, Italiener zu sein?
Ich versuche, die positiven Seiten dieses Landes zu sehen, die Leistungen zu würdigen, die es auf so unterschiedlichen Gebieten wie der Kunst, der Küche und der Mode vollbracht hat und immer noch vollbringt. Aber da ich nun einmal kein Schweizer, Grieche oder Franzose sein kann, bleibt mir wohl ohnehin nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
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