Vorwort:
Da ich, wie ich selbst zugeben muss, auf reichlich billige Art zu dem Freiabo gekommen bin, habe ich mir überlegt, wie mich trotzdem erkenntlich zeigen kann.
Da ich an JueKues intellektuellen (und wie ich jetzt erfahren habe emotionalen) Fähigkeiten und Börsenerfahrung profitieren kann, soll auch er (und ihr) an meinen bescheidenen Gaben teilhaben.
Professionell beschäftige ich mich mit der menschlichen Psyche, was liegt also näher, als einen Beitrag über Börsenpychologie zu schreiben, immerhin kann ich auch schon auf über 10 Jahre Börsenerfahrung (mit wechselnder Intensität) zurückblicken.
Einleitung:
Börsenbewegungen werden nicht von Fundamentaldaten bestimmt, sondern von der Einschätzung und Bewertung der Fundamentaldaten durch die Marktteilnehmer. Die Bewertungsprozesse unterliegen wie in allen anderen Bereichen menschlichen Urteilens dem Einfluss verschiedenster psychologischer Faktoren. Der „objektive Beobachter“ gilt wissenschaftlich als widerlegt. Damit kann auch kein „objektiver Marktteilnehmer“ existieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Relevanz psychologischer Faktoren für das Börsengeschehen.
Modellüberlegungen:
1. klassisch behavioristisches Modell
Menschliches (und tierisches) Verhalten kann durch Belohnung und Bestrafung gesteuert werden (operantes Konditionieren). Belohnung (=Verstärkung) erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das gewünschte Verhalten wiederholt wird. Wird ein Verhalten kontinuierlich verstärkt, wird es wiederholt, bis die Verstärkung ausbleibt. Dann wird es langsam gelöscht und nicht weiter wiederholt. Wird das Verhalten intermittierend verstärkt (d.h. abwechselnd verstärkt/nicht verstärkt), wird es auch nach Ausbleiben der Verstärkung noch eine Zeit fortgeführt, ehe es gelöscht wird. Es ist „löschungsresistenter“. Am löschungsresistesten ist eine Verstärkung die unregelmäßig intermittierend erfolgt.
Anwendung für die Börse: Die Börse stellt ein operantes Konditionierungssystem mit unregelmäßig intermittierendem Muster dar. Anleger werden für ihr Verhalten (Aktienkauf) belohnt, aber sie können das Belohnungsmuster nicht vorhersagen und werden deswegen auch nach Ausbleiben der Belohnung ihr Verhalten längere Zeit nicht löschen.
2. erweitertes behavioristisches Modell
Das einfache Reiz-Reaktionmuster lässt sich durch Einführung einer organismischen Variable erweitern. Sie spiegelt Grundhaltungen wieder die das Reiz-Reaktionsmuster beeinflussen und in denen sich kognitive Prozesse widerspiegeln.
Hier lassen sich folgende Beobachtungen einordnen. Beispielsweise halten sich 90% aller Autofahrer für überdurchschnittlich gut befähigt, ein Kfz zu steuern. Obwohl mir keine Untersuchungen bekannt sind, gehe ich davon aus, dass sich in Analogie die überwiegende Mehrheit der Aktienspekulanten für überdurchschnittlich befähigt hält. Diese Grundannahme, die per se nicht richtig sein kann, wird nicht erschüttert, weil bereits auf der Ebene der Wahrnehmung Informationen so gefiltert werden, dass sie mit dem Selbstbild kongruent bleiben. So wurde verschiedenen Versuchspersonen ein und derselbe Text zu lesen gegeben. Je nachdem zu welchen Grundüberzeugungen sich die Versuchspersonen vorher bekannt hatten, blieben bei der Nachbefragung nur zur Grundüberzeugung passende Inhalte des Textes im Gedächtnis. Dieses Prinzip der „selektiven Wahrnehmung“ ist bestens in den verschiedenen Internetforen zu beobachten, wo bei entsprechender bullisher oder bearisher Grundhaltung gegenteilige Informationen schlichtweg nicht in die Urteilsfindung einbezogen werden.
3. analytische Modelle
analog zur Vorstellung der „selektiven Wahrnehmung“ können auch Abwehrmechanismen zur Erklärung dieses Phänomens herangezogen werden. Die Notwendigkeit zur Aktivierung eines Abwehrmechanismus entsteht, wenn für die Integrität der psychischen Funktionen eine Gefahr oder Belastung erwachsen könnte. So könnte das narzisstische Selbstbild eines mehr oder weniger erfolgreichen Spekulanten durch Fehlspekulationen erschüttert werden. Da die Definition der eigenen Persönlichkeit untrennbar mit der Vorstellung der eigenen Größe verknüpft ist, muss die Erschütterung dieser Überzeugung mit allen Mitteln abgewehrt werden, wobei sich Verdrängung und Verleugnung der eigenen Misserfolge, Projektion der eigenen Ängste auf „die anderen Schafe an der Börse“ und Verschiebung auf Sündenböcke (Shorties, JueKue, Heiko Thieme...) besonders eignen. Das erklärt, warum von vielen Aktionären in der Baisse die Positionen trotz wachsender Verluste nicht liquidiert werden. Die Beschädigung des Selbstbildes, die mit dem Eingeständnis des Irrtums verknüpft ist, schmerzt mehr als der finanzielle Verlust.
Vorgänge bei zwanghaften oder histrionen Persönlichkeiten müssten sicherlich gesondert analysiert werden, ich muss nur leider darauf achten, den Rahmen nicht völlig zu sprengen.
4. Erweiterungsmöglichkeiten
Auch hier nur ein kurzer Ausblick. Oben geschilderte Modelle beruhen auf individualpsychologischen Vorgängen. Für die Berücksichtigung massenpsychologischer Phänomene stehen (wahrscheinlich wegen historischer Belastungen) weit weniger evaluierte Theorien zur Verfügung. Interessant wäre sicher eine Brücke zur Hypnotheorapie mit der Frage, in wie weit sich suggestive Effekte auf das Anlegerverhalten niederschlagen. Interessant deswegen, weil hier auch massensuggestive Phänomene zum Tragen kommen. Dabei müsste vor allem die Presse mit ihren neuen Aktienblättern und ntv kritisch untersucht werden. Diese Organe beeinflussen das Anlegerverhalten der Kleinaktionäre in erheblichem Umfang. Ich bin mir sicher, dass eine große Zahl der beim Leser/Zuschauer bewirkten Kauf/Verkaufentscheidungen über indirekte Suggestionen vermittelt werden, die dem Leser/Zuschauer gar nicht bewusst werden.
Die Einbeziehung systemtheoretischer und interpersoneller Ansätze erscheint mir nicht mit Erkenntnisgewinn verbunden (obwohl diese Methoden auf anderen Gebieten hervorragendes leisten), so dass ich darauf nicht weiter eingehen will.
Schlusskommentar
Mehr als ein grober Überblick wäre nicht lesbar gewesen. Auf Vollständigkeit besteht kein Anspruch. Und natürlich ist die Wirklichkeit immer viel komplizierter als das Modell. Ich verfüge außerdem über keinerlei Überblick auf spezielle Literatur zum Thema „Börsenpsychologie“. Vielmehr gehe ich arroganterweise davon aus, dass es reicht, sich in allgemeiner Psychologie auszukennen und dass jede spezielle Börsenpsychologie sich daraus ableiten muss. Ich kann mich deswegen nicht auf andere Autoren stützen und räume ein, dass meine Ausführungen dadurch in ihrer Aussagekraft limitiert sind. Trotzdem hoffe ich, einen Beitrag geleistet zu haben, der ein Probeabo in etwa aufwiegt.
Viele Grüße
R.
P.S. Einen kleinen, rumpeligen Kommentar kann ich mir zum Schluss jetzt doch nicht verkneifen. Beim Schreiben kam mir der Gedanke, was wohl passieren würde, wenn auch Schafe eine Börse hätten. Sie könnten ja z.B. Schafsweiden handeln. Für die Schafe würden mangels höherer kognitiver Funktionen nur die Regeln des operanten Konditionieren gelten. Das bedeutet, dass es im Schafsmarkt (sheepdaq) nie eine Welle 5 gäbe (Schafe würden nie so übertreiben) und die Korrekturen wären entsprechend viel weicher. Bei Schafen wäre ein soft landing wahrscheinlich wirklich möglich. Dies aber auf die weiche Schafswolle zurückzuführen wäre wohl doch eine falsche Kausalattribution.
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