-->Aus der Sonntagszeitung vom 13.07.2003
Das verdienen wir nicht
Arbeitgebervertreter sprechen lieber nicht von Lohnabbau, doch die Gewerkschaften sind alarmiert. In vielen Branchen werden die Gehälter sinken
VON OTHMAR VON MATT, MITARBEIT: MICHAEL LÜTSCHER
Die Liste ist lang, und die Signale sind nicht mehr zu übersehen: Die Post will die Löhne regionalisieren und damit teilweise senken. Die Migros Ostschweiz streicht Orts- und Sonntagszuschläge. Die Firma Rohner Chemie in Muttenz senkt die Löhne im Einvernehmen mit der Belegschaft um 4 bis 13 Prozent. Die Swiss plant Lohnsenkungen um 10 Prozent. Selbst Generalstabschef Christophe Keckeis prüft, ob sich mit freiwilligen Lohneinbussen in der Armee Entlassungen vermeiden lassen.
Die Schweizer Löhne geraten unter Druck. Von einem «Angriff auf die Saläre» spricht André Daguet, Vizepräsident der Gewerkschaft Smuv. «Die letzten Ereignisse zeigen: Die Unternehmen zielen auf die Löhne weil die Innovation fehlt, um in die Gewinnzone zu kommen», sagt auch Giorgio Pardini, Vizepräsident der Gewerkschaft Kommunikation.
Die Gewerkschaften sind alarmiert. Die Lohnverhandlungen vom Herbst kündigen sich als schwierig wie noch selten an. «Sie werden ganz hart», gibt Hanspeter Lebrument unumwunden zu, Verleger der «Südostschweiz» und designierter Präsident des Verbands Schweizer Presse. Erste Signale der Arbeitgeber seien wenig ermutigend, sagt Susanne Blank, Leiterin Wirtschaftspolitik von Travail Suisse. «Sie wollen nichts geben oder sind gar nicht bereit zu verhandeln und kündigen den Gesamtarbeitsvertrag.» Lakonisch stellt Pardini fest: «Wir gehen einer harten Zeit entgegen.»
Doch die Arbeitgeber-Spitzenvertreter sind selbst beunruhigt. Sie treten unerwartet zurückhaltend auf. Nach den Diskussionen um Renten und Pensionskasse wollen sie eine weitere Angstkampagne verhindern. Sie wäre Gift für die Konjunktur. «Ich glaube nicht an Lohnabbau», sagt FDP-Nationalrat Johann Schneider-Ammann, Präsident von Swissmem (Maschinenbau). Werner Messmer, Präsident des Baumeisterverbandes, spricht sich explizit dagegen aus, «die Löhne nach unten anzupassen».
Der Arbeitgeberverband hat zum Thema Lohnabbau klare Spielregeln aufgestellt. «Lohnsenkungen sind für ein Unternehmen das allerletzte Mittel», betont Direktor Peter Hasler. Der Lohn unterstehe dem «Grundsatz von Treu und Glauben» und gelte unbefristet. Lohnsenkungen hält Hasler nur in zwei Fällen für zulässig: bei überhöhten Besitzständen oder im Falle von gefährdeten Arbeitsplätzen. «Es geht nicht an, dass die Löhne für Fehler herhalten müssen, die anderswo gemacht worden sind.»
Dass es in der Schweiz zu Lohnabbau auf breiter Front kommt, glaubt der Arbeitgeber-Direktor nicht. «Die Schweiz kann mit Tieflöhnen nicht überleben und hat deshalb kein Interesse an Dumping», sagt er. Für entscheidende Konkurrenzkriterien hält Hasler Innovation, Qualität, Liefertreue und Service.
Die Gewerkschaften reagieren skeptisch auf dieses Plädoyer. «Die Verlautbarungen des Dachverbandes sind Wunschdenken», sagt Pardini von der Gewerkschaft Kommunikation. In der föderalistischen Schweizer Verbandsstruktur mache der einzelne Arbeitgeber letztlich seine eigene Rechnung.
Dies zeigt sich am Beispiel von Werner Messmer. Der Präsident des Baumeisterverbandes kürzte in seiner eigenen Baufirma vier von zwanzig Mitarbeitern die Löhne. «Die Löhne lagen weit über dem Schnitt. Zudem sind Änderungskündigungen kein Vertragsbruch», sagt Messmer. Er selbst bezieht heute weder Lohn noch Dividenden. Messmer: «Ich verzichte auf alles, damit die Firma in dieser schlechten Zeit bestehen kann.»
Die Krise geht vielen Firmen an die Substanz. Als einer der wenigen formuliert es Verleger Lebrument offen: «Die Löhne sind in der ganzen Wirtschaft unter Druck.» Dass die Gewerkschaften nur vorsichtige Forderungen aufstellen, zeigt dem Verleger: «Sie sind mit einer Nullrunde zufrieden.» Für Lebrument werden die Schnitte aber tiefer gehen. «Die Verhandlungsergebnisse könnten im Minusbereich liegen», prophezeit er.
Die Löhne sinken, obwohl kein konzertierter ideologischer Angriff auszumachen ist. Dass die Saläre an allen Ecken und Enden unter Druck geraten, sei «ein Wirtschaftskrisensyndrom», sagt Lebrument. Die Beispiele:
- «Neubewertungen» und Änderungskündigungen: Vor allem im Finanzsektor werden die Löhne individuell angepasst nach unten. «Dossier um Dossier» werde neu bewertet, sagt Mary-France Goy, Generalsekretärin des Bankpersonalverbandes. Umstrukturierungen führen dazu, dass die meisten Mitarbeiter neue Funktionen einnehmen. «Seit vier Jahren finden Neubewertungen statt, die zu Lohnsenkungen zwischen 5 und 15 Prozent geführt haben», sagt Goy. Auch in der Informatikbranche kommt es zu Änderungskündigungen, wie Beat Ringger von der Gewerkschaft Syndikat sagt.
- Signal Swiss: Die Lohnsenkung, die Swiss angekündigt hat, könnte Signalwirkung haben, befürchtet die Gewerkschaft Smuv. Anzeichen dafür sieht Vizepräsident Daguet: «Einzelne Firmen versuchten, ihre Personalkommissionen zu einem Handschlag für Lohnreduktionen als Notmassnahme zu überreden.» Aktuell verhandelt der Smuv mit einer Firma, die die Löhne während fünf Jahren um zehn Prozent senken will. «Macht das Beispiel Swiss Schule, wäre das ein gewaltiges Risiko», sagt Daguet. Die Erfahrung zeige: Die Beschäftigten würden bei Lohnsenkungen, die sie mittragen, «letztlich meistens geprellt».
- Regionalisierung und Flexibilisierung: Der Trend zur Flexibilisierung ist stark. Die Post ist eines der Beispiele. Giorgio Pardini von der Gewerkschaft Kommunikation spricht von einem «aggressiven Angriff auf die Arbeitsbedingungen». Im Kurierdienst zum Beispiel lagerten Konkurrenzunternehmen der Post das Risiko im Franchising-System an Arbeitnehmer aus. «Sie werden scheinselbstständig, bezahlen die Miete für den Wagen, müssen technische Geräte vorfinanzieren», sagt Pardini. Für Swissmem-Präsident Schneider-Ammann ist «höchstmögliche Flexibilisierung die Zukunft». Er versteht darunter: Erfolgreiche Firmen sind beim Lohn grosszügiger, serbelnde zurückhaltender.
- Pensionskassen-Sanierung: Sie wird zur Hälfte auf die Arbeitnehmer überwälzt. Das bedeutet in verschiedensten Branchen: Sozialabgaben, die sich um zwei bis vier Prozent erhöhen. «Die höheren Abgaben können verbunden mit Lohnsenkungen zu einem happigen Doppeleffekt führen», sagt Verleger Lebrument für die Medienbranche.
- Zulagen: Sie werden überall gekürzt. «Alle Zulagen, die nicht unerlässlich sind, kommen ins Rutschen», sagt Charles Steck, Leiter Sektoren und Branchen der Gewerkschaft Syna.
- Neueinsteiger: Sie werden zu tieferen Löhnen eingestellt (Informatikbranche, Finanzsektor, öffentliche Verwaltung). Zunehmend müssen sich Neueinsteiger ihre Festanstellung über schlecht bezahlte Praktika erdauern.
- Zweistufige Lohnverhandlungen: Die Arbeitgeber wollen vermehrt national Lohnvorgaben verhandeln, die dann auf betrieblicher Ebene individuell weiterverhandelt werden. «Möglichst ohne Gewerkschaften», wie Pardini moniert.
- Verlangsamte Anstiege: Im öffentlichen Sektor kürzen Regierungen und Parlamente im Rahmen der Sparmassnahmen die prozentuale Lohnsumme, die für Teuerungsausgleich und Leistungsanteil zur Verfügung steht. Das Resultat: Gute Leistungen können nicht honoriert werden, die Lohnklassenaufstiege werden verlangsamt.
Sauer sind die Gewerkschaften vor allem auf die öffentliche Hand. Die Verwaltungen und die staatsnahen Betriebe setzten unter dem politischen Druck für Steuersenkungen fatale Zeichen, kritisieren sie. Der kalte Lohnabbau ehemaliger Staatsbetriebe wie der Post sei «ein gefährliches Signal zur Verwilderung», sagt Giorgio Pardini. «Die Wirtschaft wird diese Vorgaben schon bald doppelt und dreifach umsetzen.»
Die Gewerkschafter befürchten, dass die Auseinandersetzungen von heute nur ein Vorgeschmack sind auf den Lohnkampf nach der EU-Osterweiterung. «Mittelfristig werden die Löhne enorm unter Druck geraten», glaubt André Daguet. In den Ländern Ost- und Mitteleuropas, die ein hohes Qualifikationsniveau aufweisen, arbeiten Spezialisten bis zu 70 Prozent billiger. Daguet glaubt, die Arbeitgeber wollten diese Gelegenheit ergreifen und lehnten deshalb verschärfte flankierende Massnahmen gegen Lohndumping ab, wie sie die Gewerkschaften fordern. «Das wird die grosse Auseinandersetzung», sagt André Daguet.
Das bestreiten die Arbeitgeber. Als Kernproblem der Schweiz bezeichnen sie die hohen Preise und nicht die hohen Löhne. «Die Schweiz ist 30 Prozent zu teuer», sagt Unternehmer Schneider-Ammann. In erster Linie müssten die Preise gesenkt werden. Dann könnten auch die Löhne ohne Kaufkraftverlust «um rund zehn Prozent gesenkt weden». Schneider-Ammann: «Das würde die Wirtschaft um 30 Prozent ankurbeln.»
Für Wissenschaftler hingegen ist nicht so entscheidend, wo man ansetzt. «Das Niveau der Reallöhne sinkt sozusagen automatisch», sagt Fred Henneberger vom Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität St. Gallen. «Durch den Druck auf die Erzeugerpreise.»
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